NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

01 Mai 2022

Eiserner Vorhang: Von Priwall nach Lübeck

Die Mecklenburger Seengrenze I

Länge: 35 km
Grenzquerungen: 2 (+2 aus Versehen)
Bundesländer: Schleswig-Holstein/MV
Seite: Ost, außer am Anfang und Ende
Erkenntnis: Die schlimmste Grenze der Welt begann mit nackten Menschen und Giftmüll.

Dies ist der tragischste Radweg Europas. Er trägt die Unglückszahl 13 und folgt der möglicherweise grausamsten und gefährlichsten Grenze der Weltgeschichte. Diese Grenze lief im Grunde genommen um die ganze Welt, der Radweg aber nur durch Europa und der schlimmste Teil der Grenze durch Deutschland.

Und der begann genau hier, am herrlichen Badestrand von Priwall bei Travemünde. Hier konnten die westlichen Badegäste in Sichtweite des Grenzzauns nackt und unbeschwert baden, außer sie liefen ein paar Meter zu weit, dann konnte es passierten, dass plötzlich eine Kalaschnikow auf sie gerichtet wurde.

Die Grenze verschwindet in den Dünen zwischen Hecken und Schlingpflanzen, überquert die Straße und taucht sofort wieder ein ins grüne Wirrwarr. Im Norden Mecklenburgs mangelt es an Überresten der Grenzanlagen, zum Ausgleich stehen in der Gegend extra viele Infotafeln, die zu jedem Dorf mehr Schwarzweißfotos und Fakten preisgeben, als ich mir merken könnte.
Doch von der Grenze selbst ist keine Spur übriggeblieben. Oder etwa doch? Nur wegen der Grenze konnte die Natur hier so gut wuchern, und deshalb wird die alte Grenzlinie auch Grünes Band genannt.
Das ist eine schöne Sichtweise: Wir radeln gar nicht an etwas Schlimmem, sondern etwas Gutem, nicht an etwas Vergangenem, sondern etwas Gegenwärtigem, nicht an etwas Fiktivem, sondern etwas Realem. Eine Grenze ist zunächst einmal nur eine Linie, die Menschen frei erfunden haben. Aber das Grüne Band existiert: Wenn die Menschen mit all ihren Aufzeichnungen verschwänden und kurz darauf Aliens die Erde besuchen würden, könnten sie einen fast ununterbrochenen Gürtel aus Natur entdecken und wilde Vermutungen anstellen, wie der wohl entstanden ist.

Das Grüne Band überquert kurz die Priwall-Halbinsel und folgt dann gleich wieder dem Wasser, das immer noch recht salzig ist. Es handelt sich um das Ostufer der Trave, genauer gesagt um ein paar echt große Beulen im Ostufer der Trave, die sogar eigene Namen haben. Die erste Beule heißt Pötenitzer Wiek. Ich wollte sie mir kurz ansehen, doch das grüne Band ließ mich nicht durch und gewährte uns nur einen Blick auf einen klaren Graben mit kleinen Fischen drin. Es ist nicht immer leicht, dem Band seine Geheimnisse zu entlocken.

Nahe der ersten Etappe stehen einige Schlösser, von denen ich aber nur das Gutshaus von Pötenitz zu Gesicht bekam. Es hat ein prächtiges Ziegeltor, der Rest ist eine Baustelle. Wir wecken Ihr Schloss aus dem Dornröschenschlaf, verspricht die Werbung der Baufirma. Doch bisher hat das Gutshaus noch keine Lust, so richtig aufzuwachen. Wie Dornröschens Schloss ist es von einer undurchdringlichen Dornenhecke umgeben, aber nur auf der Westseite und außerdem in einem Kilometer Abstand.

Die zweite Trave-Beule heißt Dassower See und ist ebenfalls ganz schön zugewachsen. Der asphaltierte Radweg verläuft zwischenzeitlich auf derselben Strecke, wo einst die Fahrzeuge der Grenzkolonnen fuhren. An seinem Rand steht ein Trimm-dich-Pfad mit verschiedenen Sportgeräten. Hier zeigt sich zum ersten Mal ein echtes, menschengemachtes Überbleibsel der innerdeutschen Grenze. Es ist der KfZ-Sperrgraben (rechts im Bild).

Wir wanderten aus Neugier noch ein bisschen in die andere Richtung am Kolonnenweg entlang. Das Grün wurde dichter und dunkler, doch irgendwo da drin ist immer noch der Sperrgraben. Er scheint in dieser Gegend das langlebigste Überbleibsel der DDR zu sein.
Wenn jemand versucht hätte, mit dem Auto den Grenzzaun plattzufahren, dann hätte er sein Auto nicht schon am Zaun, sondern bereits in diesem dreieckigen Graben zu Schrott gefahren. (Im Übrigen hätte er das Auto so oder so stehenlassen müssen, um über die Trave zu schwimmen. Kein Wunder, dass es niemand auf diese Weise versucht hat.)

Aber jemand versuchte tatsächlich, über den Dassower See zu entkommen. Er kletterte nachts über den Zaun und schwamm nackt bis zu einer einer Insel, auf der er erschöpft einschlief. Am nächsten Morgen erwachte er. Durch Schüsse.
Das Inselchen gehörte schon zur BRD. Aber was nützte ihm das, wenn er von DDR-Ufern eingeschlossen war und von allen Seiten auf ihn gefeuert wurde? Panisch und orientierungslos beging der Schwimmer einen Fehler - und schwamm versehentlich zurück in Richtung DDR.
Kaum zu glauben, dass diese planlose panische Flucht tatsächlich gut ausging. Westdeutsche Fischer schipperten wie jeden Morgen in den See und erlebten den dramatischsten Arbeitstag ihres Lebens. Kaum hatten sie begriffen, was los war, positionierten sie ihre Schiffe schützend vor dem Flüchtling. Kurz darauf folgte der Bundesgrenzschutz und holte ihn an Bord. Da konnten die Grenztruppen durch ihre Megaphone noch so sehr meckern.

Am kleinen Ziegelstädtchen Dassow gewährte mir das Grüne Band einen ersten Blick auf den Dassower See. Er sieht wirklich wie ein See aus, nur ganz in der Ferne ist bei richtigem Blickwinkel die Verbindung zum Fluss zu erkennen.

Kurz darauf ragt am Wegesrand das zweite Zeugnis der Geschichte auf: Der erste Grenzturm. Diese rechteckigen Klötze sind am Eisernen Vorhang besonders häufig zu sehen. Das hier ist allerdings der einzige, in dem irgendwer (nachträglich?) luxuriöse Panoramafenster eingebaut hat und der trotzdem total leer und verfallen aussieht. Dieser Widerspruch verwirrte nicht nur mich, sondern zwei andere Spaziergänger, die ebenfalls vom Weg abgewichen waren, um sich das genauer anzusehen.

Jetzt sagt der Radführer, wir sollen einen Riesenumweg nach Schönberg machen. Darauf hatte ich keine Lust, egal, wie schön Schönberg auch ist. Denn mittlerweile verläuft an der Bundesstraße ein wunderschöner Radweg mit Panoramablick auf Mohnblumen und den Dassower See.

Auf dem Weg befindet sich das Dorf Zarnewenz. Weil es näher als 5 Kilometer an der Grenze lag, beschloss die DDR-Führung, unzuverlässige Familien auszusiedeln. Eine Familie wurde in die Nähe von Stralsund geschickt. Sie lebten sich da nicht so richtig ein und kehrten Jahre später in die Gegend zurück, zu Verwandten, die nicht mehr innerhalb der 5-Kilometer-Sperrzone lebten. Eigentlich wäre der Umzug also selbst nach DDR-Recht okay gewesen, aber die Regierung fand die Aktion dermaßen frech, dass sie die Familie zum zweiten Mal strafversetzte.
Die Häuser der Zwangsausgesiedelten wurden plattgemacht, wenig später brannte auch noch ein Haus nieder und das Hochwasser zerstörte ein anderes. Insgesamt grenzt es an ein Wunder, dass noch etwas von Zarnewenz übrig ist.

Am Horizont ragt ein grauer Berg 110 Meter in die Höhe. Das ist die größte Sondermülldeponie Europas. Auch sie hat mit der Geschichte der Grenze zu tun. Niemand weiß, welche Arten von Abfall die DDR hier verscharrte und was von hier aus ins Lübecker Trinkwasser tropfen könnte. Der Müll könnte sogar radioaktiv sein, denn die Arbeiter hier haben ein doppelt so hohes Krebsrisiko wie der Durchschnittsdeutsche. Aber auch der Westen lieferte im Kalten Krieg über eine Million Tonnen Giftmüll pro Jahr. Die BRD musste nur einen Spottpreis von 10 Euro pro Tonne zahlen (statt 150 Euro in Westeuropa) und die DDR zögerte ihre Pleite hinaus - eine Win-Win-Situation, also außer für die Umwelt.
Die Deponie wird heute noch benutzt, obwohl sie eigentlich nicht den geltenden Vorschriften entspricht. Es darf nur noch Müll hin, der weder recycelt noch verbrannt werden kann. Schönberg - ein schöner Berg? Nicht wirklich.

In dieser Kaserne lebten Grenzsoldaten, die auch nicht immer glücklich mit ihrem Beruf waren. Einige flohen, mehrere erschossen sich im Dienst. Ersteres kam an der Grenze generell häufig vor, letzteres ist ist nur in dieser Kaserne auffällig oft passiert. Irgendetwas scheint an diesem Standort ganz besonders übel gewesen zu sein.

Das Grüne Band verlässt die Trave und überquert die Straße, nun bin ich wieder in Schleswig-Holstein. Die Geschichte dieses Grenzübergangs war ein ewiges Hin und Her, ständig wurde er geöffnet und geschlossen, sogar schon bevor in den 60ern die Grenzzäune so richtig hochgezogen wurden. Auch transportierten hier die westlichen LKWs den Giftmüll nach drüben bis Schönberg. Am 9. Oktober 1989 öffnete dieser Grenzübergang um 22 Uhr als allererster Übergang der innerdeutschen Grenze, nur die Berliner Mauer war früher dran. 1990 rollten dann bizarre Fahrzeuge über diese Straße, welche die Minen aus dem Wald entfernen sollten.
Direkt hinter der Grenze steht steht das erste von vielen Grenzmuseen. Die Grenzdokumentationsstätte Schlutup hat einen etwas sperrigen Namen und befindet sich im alten Zollhaus der BRD. Weil ich diese Etappe als fixe frühe Vormittagstour gefahren bin, war sie noch geschlossen.

Als nächstes verläuft das Band durch einen überaus wohlriechenden Wald am Rande der Hansestadt Lübeck. Die Grenzlinie verläuft auf diesem Graben.
Nanu, was ist das für ein Zaun direkt an der Grenze? Ein Grenzzaun jedenfalls nicht. Ein Holzschild verriet, dass dieses Gelände einem Sport- und Naturistenverein gehört. Das FKK-Gebiet beginnt also exakt dort, wo die ehemalige DDR endet. Seltsam, das war schon am Strand von Priwall so. Will hier irgendjemand alle gängigen Klischees widerlegen?

Ich bog aus Versehen über eine Holzbrücke nach Mecklenburg ab und landete prompt auf einer farbenprächtigen Wiese, über die mehrere Reiher stolzierten. Wow! Manchmal ist Verfahren einfach ein Segen.

Rund um die Grenze erstreckt sich ein länglicher Sumpf. Deswegen ist der Weg ziemlich schlammig und etwas anstrengend, aber egal, das war es wert, allein schon wegen des erdigen Geruchs.

Die Hanse- und Marzipanstadt Lübeck wird an dieser Stelle repräsentiert durch das Burgtor. Es steht nur eine Brücke entfernt von seinem berühmten Kollegen, dem Holstentor. Aber mal ehrlich: Ist das Burgtor nicht sogar beeindruckender?
Offiziell beginnt der Radweg an der innerdeutschen Grenze erst hier, das Stück vom Meer nach Lübeck wird zur Ostseegrenze gezählt.

Lübeck kann für Radfahrer etwas stressig sein. Zumindest, wenn man mal eben auf der direkten Hauptstraße vom Iron Curtain Trail über die Altstadtinsel radelt.
Aber keine Sorge: So eine quirlige Großstadt, wo echte Menschen sind, die müssen Sie auf diesem Radfernweg nur ganz, ganz selten ertragen. Und wenn, dann müssen Sie dafür praktisch immer einen Umweg einlegen. Toll, oder? Wie, das ist Ihnen doch zu verkafft? Tja, Pech, jetzt sind Sie schon losgefahren.

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