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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

05 Dezember 2023

Sylt

Wie schon in Niedersachsen werde ich aus Zeit- und Kostengründen nicht alle Inseln besuchen. Aber eine muss zumindest noch sein. Und zwar die einzige deutsche Nordseeinsel, für die ich nicht in ein Schiff steigen muss. Die einzige deutsche Nordseeinsel, die ich quasi umsonst mit dem Deutschlandticket erreiche. Die einzige deutsche Insel, die nicht per Straße, aber sehr wohl mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar ist. Die Autofahrer zwingt, ihr Kraftfahrzeug zurückzulassen oder in einem Zug zu verstauen.
Mit anderen Worten: Die Insel der Reichen. Ausgerechnet. Ich liebe alles an dieser Ironie.

Natürlich haben die richtig Reichen ihre eigenen Wege zu Wasser und zu Luft, um ihre Domizile anzusteuern. Die wichtigste Verbindung bleibt dennoch der Hindenburgdamm - der heißt tatsächlich immer noch so. Mit dem Deutschlandticket bezahlte ich für die Insel 40 Euro mehr als der durchschnittliche Punk und einige Millionen weniger als der durchschnittliche Finanzminister.
Auf dem langen Ding aus Gras und Steinen liegen zwei Gleise. Was eigentlich viel zu wenig ist. Alle paar Minuten rast irgendein ICE, ein Autozug oder eben der Regionalexpress aus Hamburg (die sogenannte Marschbahn) nach drüben. Und auf der Rückfahrt sollte ich feststellen, was das bedeutet: Sobald ein Zug Probleme hat - was oft der Fall ist -, haben sämtliche Züge hinter ihm ebenfalls Probleme. Erst neulich stand in der Zeitung, dass ein Autozug bei Morsum in eine Rinderherde gerast ist (wie auch immer die auf die Gleise gekommen sind). Autos oder Menschen wurden zum Glück nicht verletzt (nur 7 Rinder starben).

Mein erster Gedanke, als die Marschbahn auf den Hindenburgdamm marschierte, lautete: Oh, der ist aber breit.
Mein zweiter Gedanke lautete: Ach nee, der richtige Damm fängt erst hier an.
Ein Koog-Rechteck nach dem anderen zischte vorbei. Auf der linken Seite gibt es einen kleinen Pfad. Theoretisch käme man hier durchaus neben den Gleisen zu Fuß oder per Rad auf die Insel. Neulich hat das jemand probiert und bekam prompt eine saftige Geldbuße. (Ich habe dieses Jahr zu viel nach Nordseezeug gegoogelt, jetzt schlägt mir der Algorithmus ständig so Nordseenews vor wie EINHEIMISCHE STINKSAUER: DU WIRST NICHT GLAUBEN, WAS DIESE KACKDREISTEN TOURISTEN JETZT SCHON WIEDER ANGESTELLT HABEN.)

Und schon wird der Damm wieder breiter. Hinter der Wiese müsste gleich das Morsumkliff aufragen, das erste der berühmten Kliffs von Sylt. Hm, sieht eigentlich aus wie eine größere Düne. Vielleicht werden die Kliffs ja noch höher.
Willkommen in Morsum! Auf Sylt herrscht noch die Küste der UmDörfer, die Endung -um ist für (fast) alle Orte unumgänglich. Der Bahnhof ist eigentlich recht groß geraten, trotzdem halten hier nicht mal alle Regionalzüge.
Hoch oben setzt derweil ein Flugzeug zum Landeanflug an.


Da sind sie also, die vielleicht teuersten Ferienhäuser Deutschlands. In einem Buchladen habe ich mal zufällig in einem Werk geblättert, das sich ausschließlich mit diesen Bauwerken beschäftigt. Darin erzählt ein Sylter Immobilienmakler amüsiert, mit welchen Extrawünschen die Käufer ankommen und wie großzügig sie dabei mit Geld um sich werfen. Und versucht dann am ungeeignetsten Beispiel der Welt an den Haaren herbeizuziehen, warum wir davon ja letztlich alle was haben. Das Buch hat mein Bild von Sylt irgendwie sehr geprägt. Was auch daran lag, dass ich das noch vor all den Nachrichten rund um Punks, Christine Lambrechts Sohn oder Christian Lindners Hochzeit gelesen habe.
Laut dem Immobilienmakler leben die Sylter zwar im Luxus, aber auf eine bescheidene norddeutsche Art. Heißt, sie trinken abends den teuersten Champagner im Whirlpool und katern dann morgens bei einem Spaziergang mit Regenjacke im Wind wieder aus. Und die Häuser haben zwar innen alle Finessen, geben sich aber äußerlich eher als normale Reethäuser aus. (Angeblich mögen die russischen und amerikanischen Millionäre Sylt deswegen nicht so, weil die mehr Wert auf äußeren Protz legen.) Stimmt das?
Also, auf den ersten Blick schien es mehr als nur wahr zu sein. Die Häuser sehen völlig unauffällig aus, und die Oma, die in ihrer abgetragenen Jacke aus dem ersten Haus tritt, sieht so gar nicht nach einer Zweitwohnsitzbesitzerin aus. Tja, vielleicht bin ich zufällig in der Straße mit den letzten drei Sylter Ureinwohnern gelandet. Ein paar hundert Meter weiter haben sich die Bauernhäuser verändert. Zahllose Dachfenster drängen sich unter dem Reet hervor, als stecke im Inneren ein Palast, der versucht, aller norddeutschen Bescheidenheit zum Trotz hervorzubrechen. Auch die Vorgartendekoration ist eher ungewöhnlich. Vor den Türen stehen und sitzen immer wieder bunt bemalte, holzgeschnitzte Figuren. Ein paar von denen haben sogar ein Boot gekapert!

Sylt ist geformt wie eines dieser Abziehdinger zum Fensterputzen. In Morsum bin ich quasi auf dem Griff ausgestiegen. Nur noch ein bisschen neben der Straße her, dann bin ich in der Inselmitte angekommen. Die Hauptstadt Westerland brach so ziemlich mit jeder Erwartung, die ich an eine Luxusinsel haben könnte. Eine Badehose im Schaufenster gab es hier günstiger als anderswo, die Hoteltürme am Wasser waren ebenso unansehnlich wie auf Fehmarn, und überhaupt erschien mir diese Stadt als einer der uninteressantesten Orte auf der Insel. Ich weiß gar nicht, was die 9-Euro-Punks hier überhaupt wollten - diese Stadt scheint nicht die Seele von Sylt, sondern eher das notwendige Hirn der Insel zu sein.
Bemerkenswert ist allerdings die schiere Größe der Stadt. Keine andere deutsche Insel hat (soweit ich weiß) so eine lange Fußgängerzone und einen Bahnhof mit derart vielen Gleisen.
Zugegeben, wirklich viel habe ich von Westerland eh nicht gesehen. Jedes Mal, wenn ich mich der Stadt näherte, öffneten sich die Schleusen des Himmels und durchnässten mich. Dennoch sollte ich Kurtaxe bezahlen, um die Betontreppe zum Strand runterzugehen. Der sah bei dem Wetter gerade nicht wirklich einladend aus. Keine Millionäre in Regenjacken weit und breit!
Lieber tat ich das, was ich unter diesen Umständen meistens tue: Ich verzog mich in die Therme. Sogar die war überraschend schlicht und günstig geraten.


Jetzt stand ich vor der Wahl: Fahre ich zuerst ans südliche oder ans nördliche Ende? Hm, erstmal der Süden. Egal, wie ich mich entschied, ich konnte erst einmal auf einer ehemaligen Bahntrasse fahren. 
Sylt hatte einst noch mehr Bahnlinien als nur die kurze Hauptstrecke nach Westerland. Genau genommen ist die kleine Inselbahn von 1888 sogar fast 50 Jahre älter als die Bahn zum Festland. Das Markenzeichen der alten Inselbahn waren die alten Borgward-Sattelschleppertriebwagen, die sich insbesondere bei Scrabblespielern großer Beliebtheit erfreuen. Die Sylter haben sie in der eigenen Werkstatt aus alten Sattelschleppern gebaut.

Der Süden wartete mit einem Mix an Landschaften auf mich.
Erst einmal wollte ich doch mal einen Blick auf den Strand werfen. Ich stapfte die steile Düne hinauf, und oben sah ich zum ersten Mal, warum Sylt so beliebt ist. Komischerweise erinnerte mich der Strand an einen Weinberg: Die Dünen werden mit Holzpflöcken befestigt und bilden extragroße Stufen. Nun, das passt auf jeden Fall zur teuren Strandbar in den Dünen.
Dann wäre da ein kuscheliges Wäldchen. Das ist so ziemlich der einzige Ort auf der Insel, der weder mitten auf dem Präsentierteller noch Naturschutzgebiet noch Privatgrundstück ist, in dem Wildcamping also möglich ist.
Als nächstes stapfte ich noch einen Abstecher in die entgegengesetzte Richtung, also dem Ufer in Richtung Festland. Vor der eigentlichen Küste gibt's nämlich noch das Rantumbecken, eine Lagune in Sumpf und Schilf, vom Meer durch einen dünnen Damm abgetrennt - ach guck, auf dem hätte ich wohl auch langfahren können. Für Sylter Vögel ist das hier der place to be, hier können sie geschützt (außer vielleicht vor größeren Vögeln) rasten und schwimmen. Anscheinend waren die meisten Vögel aber schon ins Winterrevier weitergeflogen.
Witzig: Ausgerechnet am heutigen Vogelschutzgebiet befand sich im 18. Jahrhundert eine Vogelkoje, also eine Entenfanganlage.
Das war vorerst genug Natur, es folgt die nächste Ortschaft. In Rantum verlässt die Bahntrasse die Straße und macht Bögen durch die Vorgärten. Wahrscheinlich stand hier irgendwo mal der Bahnhof, aber das ist lange her. In der Abenddämmerung stammt die einzige Beleuchtung aus privaten Fenstern und kleinen Lampen in den Vorgärten, was halbwegs ausreicht. Reethäuser erheben sich wie trutzige Festungen auf ihren Privathügeln - wahre Burgen der Bescheidenheit.

Wie komme ich weiter in den Süden?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Auch wenn Sylt eher eine schmale Insel ist, kann man sie also durchaus als Rundtour fahren.
Entweder folge ich weiter dem Radweg an der Straße. Dort konnte ich das Dünengebirge schon gut erkennen: Anscheinend befinden sich hier im Süden die schöneren Dünen an der Ostküste (also Richtung Festland). Aber ich musste mich nicht darauf beschränken, aus der Ferne zu spekulieren, denn ein großartiger Kiesweg brachte mich auf einer herrlich verschlungenen Route mitten durch das Wunderland, bis zum Wasser, zurück zur Straße und nochmal zum Wasser... Dabei sind die Kurven immer sehr ausladend, theoretisch könnte das also durchaus die Bahntrasse sein. Aber warum sollte die Bahn so große Panoramabögen machen, wenn hier niemand lebt?
Die Sylter Südspitze bildet der Hafen von Hörnum. Hier sah ich keine Reethäuser, sondern hochmoderne Hotelkomplexe über der Stadt aufleuchten. Durch die schmalen Straßen flanierten die Menschen den hellen Fenstern ihrer liebsten Restaurants entgegen. Und noch etwas leuchtete: Türme.

Sylt hat gefühlt mehr Leuchttürme als die restliche deutsche Nordsee.
Sogar innerhalb der Ortsgrenzen besteht Verwechslungsgefahr: Das Hörnumer Leuchtfeuer ist eine elf Meter hohe Metallröhre, die ein Orkan 2013 umgeschubst hat. Die Sylter hingen aber an ihrer Röhre und wollten kein einziges ihrer Lichter aufgeben. Mit einer Spendenaktion wurde das Teil in einem Park wieder aufgestellt. Danke, Sylt, dann kann ich in seinem Licht gemütlich im Strandkorb (ohne Strand) Abendbrot essen und ein Kapitel lesen. (Zum Glück hatte ich genug Proviant dabei, dann muss ich gar nicht erst testen, ob es den berüchtigten Sylt-Preisaufschlag im Supermarkt wirklich gibt.) Direkt daneben verlief einst das Bahngleis.
Der Leuchtturm Hörnum dagegen ist ein vollwertiger Leuchtturm ganz unten im Süden, der fleißig seinen Lichtstrahl über den Strand und die Strandkörbe hinweg rotieren lässt. Das Licht kommt nicht nur oben raus, sondern sickert auch aus zahlreichen Bullaugen. Ein bisschen sieht der Turm aus wie eine Laterne, die ein Kind gebastelt hat. Toll, das würde ich mir gern aus der Nähe ansehen! Wo geht es denn hier hoch? Wilde Hecken ohne Durchkommen, noch mehr Hecken, ein Zaun, noch ein Zaun, hier geht es in eine normale Straße mit Häusern, Betreten verboten, Gelände der Schiffahrtsverwaltung... Moment, sind das etwa alles Nebengebäude vom Leuchtturm?
Jap, und der komplette Hügel ist abgesperrt. Auch sonst kam ich hier nicht viel weiter, die Südspitze (die schon auf gut Dänisch Hörnum Odde heißt) ist Schutzgebiet.

Das war also der Süden, und was hat der Norden zu bieten? Noch mehr.
Auch diesmal hatte ich die Wahl zwischen Dünenbahntrasse und... diesmal sogar zwei Straßen mit Radwegen. Nicht, dass die Straßen viel zu bieten hätten. Der Sylter Flugplatz ist zwar sicherlich der größte der deutschen Inseln, dennoch ist von ihm am wenigsten zu sehen. Porsche auf Sylt verkauft Autos, die man dann erstmal per Bahn zum Festland transportieren muss (ein Geschäftsmodell, das auch nirgendwo sonst funktionieren könnte). In Kampen stehen dieselben Reethäuser wie überall auch, und erst gegen Ende ist da immerhin ein schönes Straßenstück über dem Steilufer am Wasser.
Dennoch: Die Bahntrasse ist da um Welten besser. Sie bringt mich aus den Westerlander Vororten raus und überquert eine Grenze, den Swarten Wall. Der Wall war mal größer und mit Heide bewachsen, heute ist das Ding von Hecken versteckt und unauffällig zusammengeschrumpft. Vermutlich war das eine alte Flurgrenze nach Kampen.
Kampen ist der Wohnort der reichsten Sylter. Naja, zumindest war das in der Bronzezeit so. Damals wurden hier die Körper (und später nur noch die Asche) reicher Männer vergraben. Deswegen gucken jetzt links und rechts Hügelgräber aus den Dünen. Ein paar davon wurden im Zweiten Weltkrieg beschädigt, weil militärisches Zeug reingebaut wurden. So viel zum Respekt der Nazis vor den alten Germanen.
Andererseits waren die Hügelgräber schon vorher schwerbewaffnet: Den reichen Bronzezeitmännern zu Ehren legten ihnen die Bronzemenschen etwas ganz Besonderes in die Hügelgräber - eine brandneue Waffentechnologie namens Schwert. Vor Kurzem, in der Steinzeit, war ein Schwert ja quasi noch Science Fiction, denn wie will man aus einem Stein so eine lange Klinge machen?
Die reichen Schwertmänner verdienten ihr Geld wahrscheinlich mit dem Seehandel. Sylt war ein wichtiger Zwischenstopp zwischen der Elbmündung und Nordjütland, deswegen war die Insel dicht besiedelt. Als sich der Handel mehr in die Ostsee verschob, wurde es wieder leerer. Vorerst.

Und dann wäre ich fast am Höhepunkt der Insel vorbeigefahren. Gerade noch rechtzeitig fiel mir auf, dass hier eigentlich das Rote Kliff sein müsste. Ein weiteres Mal musste ich das Rad stehen lassen und die Dünen bezwingen. Eine Aussichtsdüne gewährte mir zwar einen eindrucksvollen Blick in alle Richtungen, doch etwas besonders Rotes konnte ich nicht entdecken. Dazu musste ich schon auf dem Holzweg bleiben und die oberste Stufe der Weinberg-Düne ansteuern. Ah, da unten ist ja das Meer und... immer noch nichts Rotes? Naja, es sind noch jede Menge Höhenmeter bis nach unten, da hat das Rote Kliff ja noch Zeit aufzutauchen. Aber ungewöhnlich ist es schon, dass ein Kliff nicht ganz oben beginnt, sondern erst eine Etage tiefer.
Ein paar Treppenstufen darunter stieß ich endlich auf etwas Rotes. Zuerst schickte mich der Weg oben an der Kante entlang, und dann eine verschlungene Treppe abwärts - perfekt, um das Naturwunder aus allen Richtungen zu bewundern.
Das Rote Kliff sieht toll aus und ich fühlte mich fast ein bisschen schlecht, weil ich das nicht richtig wertschätzen konnte. Zum einen wegen des Nieselregens, der das Rot doch etwas verwaschen aussehen ließ. Zum anderen hatte ich zu diesem Ort effektvoll im Abendrot geschossene Fotos im Kopf, auf denen es tatsächlich aussah, als gäbe es hier rote Felsen wie auf Helgoland. Nein, das Kliff besteht eher aus hohen Sandwänden, über die ein paar Fässer Rotwein gekippt wurden. Aber es ist großartig, und ganz sicher trägt es keine Schuld am Wetter oder daran, dass ich zu doof bin, ein Foto richtig anzugucken.
Überhaupt wurden die Dünen jetzt immer spannender. Während der Regen immer stärker auf meine Haut und Hose niederprasselte, schraubte ich mich immer weiter hinauf ins höchste Stockwerk der Insel. Das bunte Dünengrün kam mir durchaus bekannt vor, zumindest vom Farbdesign her. Diese Landschaft sieht aus, als wären die Sylter nach Langeoog gereist und in großen Maßstäben gedacht: Das gefällt uns, wir nehmen hundertmal so viel und bauen uns ein verdammtes kleines Gebirge daraus! Immer wieder schlingt sich der Weg um die nächste Kehre, den nächsten Hügel, und Welle um Welle mit noch mehr Landschaft erscheinen. Ganz oben konnte ich die Insel in ihrer vollen Breite überblicken, mitsamt Dörfern, Straße und dem Wasser im Osten. Nur der Strand im Westen (das eigentlich viel näher liegt) wurde wie immer von der großartigen Sylter Landschaft verdeckt.
Bei schönem Wetter wäre diese Strecke bestimmt ein Riesenspaß. Und bei schlechtem Wetter... also, da lenkt sie mich wenigstens vom Wetter ab.

Auch der größte Spaß muss irgendwann enden, also verließ ich den Höhepunkt des Sylt-Radwegs. Die Höhenmeter sanken, und der Spaßfaktor sollte bald noch viel rapider sinken. Die Insel verengt sich und alle Wege kreuzen sich, dann hatte ich erneut die Wahl zwischen zwei Strecken.
Wie schon die letzten Male empfehle ich jedem: Nimm unbedingt den längeren Weg.
Anders als die letzten Male ist das aber diesmal die Hauptstraße im Osten, nicht der Dünenweg im Westen.
Die schnelle Straße durch die Dünen sah auf der Karte so verlockend aus, also ließ ich mich darauf ein. Und geriet mitten im Platzregen in den Schleudergang der Sylter Waschmaschine. Der Weg besteht aus militärisch anmutenden Betonplatten, die selbst eine wirksame Nahkampfwaffe darstellen. Auf dieser Abkürzung sollte man wirklich nur radeln, wenn man ganz, ganz dringend weg muss, zum Beispiel weil eine Horde dänischer Panzer einmarschiert ist, um die Insel einzunehmen.
Im Osten dagegen folgt die Bahntrasse der Straße nach List. Die Geschichte dieses Ortes ist im Prinzip eine kurze Zusammenfassung der Beziehung zwischen Menschen und Austern: 1910 wurden hier Austern gefischt, verpackt und sortiert, bis 1945 versuchte man, sie zu züchten, und bis 1956 forschten Wissenschaftler im Zweiglaboratorium für Austernforschung. List hat eine leichte Vorliebe für die Farbe weiß und sieht damit etwas aus wie eine modernisierte Variante des benachbarten Tønder. Und im Schatten der Wattenmeer-Ausstellung legt im Hafen tatsächlich eine Fähre nach Dänemark ab. Kein Wunder: Drüben auf dem Festland hat Dänemark schon längst angefangen, nur auf der Insel wagt sich Deutschland noch ein Stück weiter nach Norden.
Mal sehen, wie weit genau. Nur ein idyllisches Stückchen über der Straße und am Steilufer entlang, und dann war ich auch schon an der letzten Kreuzung. Ist da unten noch Salzwiese oder schon Wasser? Und wenn ja, ist da gerade Ebbe oder wieso sieht das so gräulich aus? Schwer zu sagen bei dem Nebel.

Hier oben gibt es definitiv nur eine einzige Straße, aber keine Sorge, diesmal sind die Betonplatten in Ordnung. Kein Wunder, werden sie doch regelmäßig finanziert. Wer hier mit dem Auto reinwill, muss in der Mautstation erstmal eine Gebühr abdrücken. Ich zum Glück nicht. Also dann, einmal geradeaus mitten durch auf der einzigen Straße. Willkommen auf dem Lister Ellenbogen!
Dieses spezielle Gebiet ist Privatbesitz. Auf den ersten Blick unterscheidet sich von den letzten Landschaften vor allem dadurch, dass hier Schafe in den Dünen grasen, außergewöhnlich große Mülltonnen für die Gäste bereitstehen und außergewöhnlich viele Leuchttürme ihr weißes Licht durch die Dunkelheit senden in der Hoffnung, mir trotz des Nebels einen Weg zu weisen. Die einzigen Wanderdünen Deutschlands wandern hier 6 Meter pro Jahr nach Osten und haben schon das Dorf Alt-List begraben. Ach ja, und außerdem ist hier das nördlichste Stück Deutschlands. Grund genug, am Ende des Ellenbogens mein Rad an einen übergroßen Müllcontainer anzuschließen und eine Runde über den Strand zu drehen. Mal sehen, wenn auf diesem Weg runtergehe und einmal um die Spitze des Ellbogens, dann müsste ich doch von oben wieder zurückkommen, oder?
Nun, es mag am Nebel liegen, aber dieser Spaziergang war doch etwas ernüchternd. Der Nebel hatte die Insel inzwischen eng umschlungen und erstickte ihre Farben in seinem Weiß.
Trotzdem erkannte ich direkt: Jap, es ist Ebbe. Und jap, hier gibt es Wattenmeer. Ich folgte der braunen Wattfläche, die ungewöhnlich zerklüftet schien mit ihren großen Muscheln. Und dann geschah etwas Erstaunliches: Das Watt verschwand.

Aber nicht durch die Flut oder so, dafür ging es viel zu schnell. Je weiter ich ging, umso näher schwappten die Wellen, die graue Muschelfläche verzog sich, und auf einmal stand ich nicht mehr an einem einzigen Weltkulturerbe in einem bizarren Zwischenreich von Land und Meer, nein, ich stand vor einem ganz normalen Strand, an den Wellen schlugen. Einer viel gewöhnlicheren Landschaft, die aber dennoch (oder gerade deswegen) als ästhetischer angesehen und von Touristen häufiger nachgefragt wird. Um das auszugleichen, wurden ganz besonders hässliche Buhnen aufgestellt, die anscheinend aus irgendeiner gewellten Plane oder Folie bestehen - so etwas hatte ich noch nie gesehen (und zwar zu Recht, es sieht doof aus). In ihrem Schatten futterte ich mein Proviant. Mit einem Mal tauchte ein Schiff aus der Nebelbank auf, und überraschend nah leuchtete die Fähre zum dänischen Romø vorbei. Tja, die Insel steht dann wohl beim nächsten Mal auf der Liste. Aber erst einmal bin ich froh, dass ich diese spontane Nordseetour erfolgreich überstanden habe. Also, sofern ich es jetzt noch heil zurück zum Bahnhof schaffe.
Jetzt müsste doch mal endlich der zweite Strandaufgang kommen. Oder? Ah, da hinten.. oh, ist nur eine Lücke in den Dünenpflanzen. Aber da... ach nee, doch nicht. Aber jetzt, na also.
Dann mal nichts wie zurück und ab ins Warme. Dieses Warme konnte sogar ein hoffnungslos verspäteter Zug sein, das war mir in dem Moment völlig schnurz.

04 Dezember 2023

Gröde

Rückblick: Gröde-Ausflugsfahrt 2012

Ich kann wohl kaum über die nordfriesische Nordsee schreiben, ohne auf ihre ganz besonderen Mini-Inseln einzugehen - so besonders, dass sie eine eigene Bezeichnung haben: Die Halligen. Eine von denen habe ich vor Jahren besucht. In Nordstrand-Strucklahnungshörn bestiegen wir die Adler V - keine Fähre, sondern eine Ausflugsfahrt. Weil die Attraktionen der Insel selbst doch eher überschaubar sind, warten auf der Fahrt unterwegs noch zwei weitere Highlights, bei denen wir den Bewohnern der Nordsee näherkamen. Also, den Tieren, nicht den Inselmenschen, die kommen später.
Highlight Nr. 1: Die Seehundbänke, auf denen hunderte puscheliger Robben chillen. Mit bloßem Auge sind sie ziemlich gut zu erkennen, noch besser mit Fernglas oder Zoom.

Highlight 2: Eine wilde Wanne. Sie funktioniert folgendermaßen: Das Schiff zieht ein paar Minuten einen Behälter hinter sich her. Dann zieht ihn ein Seemann aus dem Wasser...


...und kippt den Inhalt in eine Blechwanne. Nun gucken alle, was sich so angesammelt hat. Alle Kinder dürfen reingreifen und sich von den Krabben kneifen lassen, während der Seemann erklärt, welche Muscheln und Fische sich tagesaktuell so angesammelt haben. Einfach, aber genial! So funktioniert quicklebendige Wissensvermittlung, viel besser als die Tauchgondeln der Ostsee.
Nach ausgiebiger Begutachtung werden die Heizdrähte in der Wanne aktiviert, und kurz darauf öffnet das Bordbistro mit seiner täglich frischen Meeresfrüchte-Suppe. Nein, nur Spaß, sämtliche krabbelnden Krabben werden hinterher wieder in Freiheit gesetzt.

Schließlich hat die Adler die ganze verschlungene Route von einer Betonkante zu einer deutlich kleineren Betonkante zurückgelegt. Auf den ersten Blick scheint es, als wären wir einfach an einem anderen Stück Nordseeradweg angekommen.
Aber Moment mal - wo ist der Deich?

Außerdem ist dieser Asphaltweg derart kurz, dass Radfahren gar keinen Sinn ergibt.

Stattdessen marschiert eine neugierige Karawane an Ausflüglern zu Fuß in die Hallig ein.

Was genau ist denn nun der Unterschied zwischen einer Hallig und einer gewöhnlichen Insel? Es ist nicht die Größe. Klar, Gröde ist total winzig, aber die Hallig Langeneß zum Beispiel kann es bei der Länge schon fast mit gewöhnlichen Inseln mit Amrum aufnehmen.
Der Unterschied besteht im Hochwasserschutz.

Eine normale Insel betreibt einen eher offensiven Hochwasserschutz und baut einen Deich außenrum. In den Eingängen stehen die Siele wie Türsteher, ihr Motto: Ey Wasser, du kommst hier nicht rein.
Auf den Halligen stehen so wenig Häuser in kleinen Gruppen, sodass ein defensiver Hochwasserschutz mehr Sinn ergibt: Okay, Sturmflut, dann komm halt rein, nimm dir die Wiese, die Schafe sind eh im Stall, ups, das eine haben wir vergessen, dann töte es halt, aber bitte nur nicht unsere Häuser, okay?
In der Regel reagieren Sturmfluten nicht auf höfliche Bitten, und deswegen stehen die Häuser auf Warften, also künstlichen Hügeln. Trotzdem drangen bis in die 70er mehrere Stürme in die Warften von Gröde ein, töteten das Vieh und versalzten das Trinkwasser. Heutzutage werden die Warften noch extra mit Ringdeichen drumherum geschützt.

Gröde ist so klein, dass es nur zwei Warften hat. (Eine dritte zerstörte die Flut von 1825.) Und genau die schauen wir uns jetzt an. Der Wegweiser weist uns zu den 2 K, dabei handelt es sich auch schon um die Highlights der Inseln.
Hach ja, was wäre eine Nordseereise ohne das obligatorische Klapptor in der Viehsperre? (In dieser Hinsicht gibt es keinerlei Unterschied zwischen Halligen, normalen Inseln und dem Festland.)

Und was wäre sie ohne Reetdächer? Einfach unvollständig.
Die meisten Insulaner wohnen in den vier Wohnhäusern der Knudtswarft. Sie hatten pünktlich zu unserer Ankunft einen Kiosk geöffnet, der uns Snacks, Getränke und Souvenirs verkaufte. An den Hängen der Ringdeiche blühte eine bunte Blumenwelt, so etwas haben die gewöhnlichen Deiche auf dem Festland nicht.

Auf der Kirchwarft dagegen stehen die Grundschule, die Lehrerwohnung und (wenig überraschend) die Kirche. Im selben Jahr, als wir die Insel besuchten, schlossen die letzten Gröder Kinder die Grundschule ab und setzten ihren Bildungsweg auf dem Festland fort. Seitdem steht die Schule leer.

Die Kirche ist übrigens schon die siebte seit dem Großen Ertrinken von 1362. Damit der nächste Sturm sie gar nicht erst findet, tarnt sich die Kirche als gewöhnliches Haus mit Reetdach. Von innen sieht die Kirche im Schafspelz aber durchaus kirchlich aus, wenn man von der niedrigen Decke absieht. Wie so oft in Norddeutschland hängt ein Modellschiff von der Decke.

Schade, dass es auf Gröde keine Gröndschüler mehr gibt (also, außer wenn das Schiff für ein paar Stunden welche herankarrt). Droht die Insel also auszusterben, ähnlich wie Neuwerk? Mitnichten, diese Insel ist voll - für neue Einwanderer gibt es gar keinen Wohnraum mehr!

Erst vor wenigen Jahren zog wieder eine neue Familie ein (nur halt ohne Grundschulkinder). Die Einwohnerzahl wuchs dadurch um 43 Prozent. Das heißt, von 7 auf 10. Seitdem ist Gröde nicht mehr die kleinste Gemeinde Deutschlands, sondern teilt sich den Titel mit Dierstedt (NRW). Sogar beim Bürgermeister handelt es sich ursprünglich um einen Historiker aus Berlin, der in einem Anfall von akuter Stadtflucht das Haus seines Onkels kaufte. Er ist komplett begeistert und möchte einem Interview zufolge auf keinen Fall zurück.
Aber womit verdienen die Bewohner ihr täglich Brot? Soo viel Geld haben wir ja nun auch nicht am Kiosk gelassen. Auch das bisschen Landwirtschaft wirft nicht genug ab. Die neuste Familie wollte hier einen Onlineshop aufbauen, was aber nicht so recht klappte. Stattdessen versucht der Bürgermeister, ihnen einen staatlichen Job im Küstenschutz zu besorgen, wie ihn auch die meisten anderen Insulaner haben.


Gröde ist der kleinste Wahlkreis Deutschlands. Achten Sie mal drauf: Bei der Bundestagswahl wird dieser Kreis normalerweise als erstes fertiggezählt und verkündet, wie die zehn Gröder gewählt haben.
Für die Insel selbst wird ein Bürgermeister gewählt, aber kein Gemeinderat. Wozu auch? Es treffen sich einfach alle zur Gemeindeversammlung wie die alten Griechen. Und zwar im Wohnzimmer des Bürgermeisters, denn das neue Gemeindehaus lässt noch auf sich warten. Man finde erst einmal einen Bauunternehmer, der seine Maschinen freiwillig auf diese Insel schifft!

Weiter hinten wird Gröde ein bisschen wilder. Ein Priel spaltet die Insel, als hätte ein göttliche Riesenaxt reingehauen. Dabei war es eher andersrum:
Ursprünglich gehörte das ganze Land zum Festland. Das ist nicht mehr so wegen, Sie erraten es, unserem üblichen Verdächtigen, der Sturmflut. Ein paar Jahrhunderte lang lagen die Halligen Gröde und Apelland nebeneinander, getrennt durch einen Priel. Anfang des 20. Jahrhunderts unterbrachen die Menschen zum Küstenschutz den Priel mit einem Damm, und die Inseln wurden verbunden. Nicht, dass auf der anderen Insel Menschen gelebt hätten, aber immerhin hatten sie mehr Platz für ihre Schafe - auch ein Grund, die Weidevereinigung zu feiern.

Obwohl das Schiff die meiste Arbeit gemacht hat, ist so eine Ausflugsfahrt durchaus anstrengend.
Ungefähr so reagierte übrigens auch damals die achtjährige Tochter des Berliner Historikers, als man ihr eröffnete, sie würde nach Gröde ziehen.

03 Dezember 2023

Nordsee: Von Nordstrand nach Tønder

Am nächsten Morgen radelte ich einmal quer über die Ex-Insel Nordstrand. Aus der Dunkelheit schälten sich Gruppen von Backsteinhäusern und Bäumen, die alle so ziemlich gleich aussahen. Nun, schließlich gehören sie auch alle zur selben Gemeinde namens, Sie ahnen es, Nordstrand.
Nur ein weißes Haus stach heraus (das ich gar nicht gefunden hätte, wäre ich nicht einmal falsch abgebogen.) Scheinwerfer strahlten seine Wände an. Zu recht, denn es gab etwas zu sehen. Die ganze Fassade war vollgehängt mit Karikaturen, ausnahmslos alle mit irgendwatt Regionalem. Manche wurden auch politisch. ("Aber gehen Sie nicht zu weit raus, die Flut kommt!" - "Das ist Ihre Meinung, ich sehe hier kein Wasser.")

Am meisten gefühlt habe ich in dem Moment jedoch dieses Meisterwerk. Zum Glück sollte diese Karikatur heute nicht Wirklichkeit werden.
Erst morgen wieder.

Ausgerechnet ein Teil von Nordstrand, an dem praktisch keine Menschen wohnen, hat den großartigsten norddeutschen Namen, den man sich denken kann: Strucklahnungshörn. Damit ist im Grunde nur eine Betonkante gemeint. Sie dient als Fähranleger nach Pellworm und zur Hallig Gröde.

Für mich hat Strucklahnungshörn aber noch eine andere Bedeutung: Hier bin ich in jungen Jahren zum ersten Mal wirklich im Watt gewandert. Natürlich nur ein kleines Stückchen raus. Eben nur so weit raus, dass die Eltern brüllen können, dass man nicht weiter raus soll.

Wenn ich das mit dem Cuxwatt vergleiche, ist der Boden schon extrem schlickig - das Schild gestern hatte also recht. Was auf einer 10-Kilometer-Wanderung ziemlich heftig wäre, ist bei einem 10-Minuten-Spaziergang eher ziemlich witzig. Vor allem für 10-Jährige.

Achtung: Im Schlamm lauern wabblige Würmer und blutrünstige Egel. Der Egel ist gelandet, ich wiederhole, der Egel ist gelandet.

Verlassen habe ich Nordstrand zwischen zwei Wassern. Links die Nordsee, rechts eine Salzwasserlagune, dazwischen ein Deich und ein Radweg. Die Lagune wurde da quasi als Kompromiss gelassen, als der ganze Bereich eingedeicht wurde. An der Stelle konnte ich mir am allerbesten vorstellen, dass Nordstrand mal eine Insel war.

Zweimal am Tag fließt das Nordseewasser immer noch durch ein Rohr rein und raus, und der Wasserspiegel der Lagune schwankt immerhin 40 Zentimeter im Takt der Gezeiten. Auf einer sehr, sehr simplen Plattform kann man dem Wasser beim rein- und rausrauschen zusehen.
Eine umgekippte Friedhofskerze und ein umgekipptes Foto eines Gleitschirms erinnern an einen Sportler, der hier verunglückt sein muss. Der Wind kann wirklich gnadenlos sein und lässt nicht mal die Toten ruhen.

Nun war ich im Herzen Nordfrieslands. Hinter dem Deich erstreckt sich der Hauke-Haien-Koog, der von Theodor-Storm-Fanboys nach der Deiche bauenden Hauptfigur aus dem Schimmelreiter benannt wurde. Auf dem Meer reiht sich ein Hügel mit Häusern drauf hinter den nächsten. Da sind sie, die Halligen Oland, Gröde, Hooge, Langeneß und wie sie alle heißen. Winzigkleine, aber bewohnte Inseln - was in Niedersachsen mit Neuwerk die absolute Ausnahme war, ist hier an der Tagesordnung. Wobei diese Inseln ein bisschen anders aufgebaut sind als Neuwerk.
Was mir völlig neu war: Nicht für alle Halligen muss man in ein Schiff steigen. Eine ist sogar zu Fuß erreichbar - ganz ohne Wattwanderung. Ein Damm führt hinüber zur Hamburger Hallig, die sich in der Ferne gut erkennbar in einem seltsamen Zwischenreich von Land und Meer duckt. Laut Google ist die einzige Attraktion der Hallig ein Restaurant, das aber noch längst nicht geöffnet hat.

Alles in allem hat mir diese Etappe sehr gefallen und ich kann sie auch als Tagesausflug weiterempfehlen, dann vielleicht auch in Verbindung mit der Hamburger Hallig. Ich durfte richtig lange am Meer fahren - meine Idee aus Niedersachsen, den ganzen Tag nebenher vom Rad die Veränderung der Gezeiten zu beobachten, wurde so doch noch ein bisschen Wirklichkeit. Morgens war alles grau, doch Stunde um Stunde stieg das Wasser, und das Meer und der Himmel wurden immer blauer.
Deshalb war ich fast gar nicht sauer, als mir irgendwann doch eine Deichbaustelle den Weg blockierte...

...und mich auf die windumtoste Landstraße wies.

Unterbrochen wird der Deich ab und zu von solchen Sielhäusern. An diesem kleinen Sielhafen legen auch Fähren auf die Inseln ab, aber eher unregelmäßig und für die Einheimischen - besser ist es wohl, wenn man sich als Tourist an die größeren Häfen Strucklahnungshörn und Dagebüll hält.

Nanu? Sind das etwa Gleise? Moment mal, gibt es etwa Halligen mit Bahnanbindung? Hier will mich doch irgendwer veräppeln. Die schmalen Gleise ziehen sich einmal schräg den Deich rauf und wieder runter (das heißt, der Deich wird für sie nicht unterbrochen), quer über den Radweg, auf einen Asphaltdamm und... verschwinden im Meer. In eine Richtung, wo gleich mehrere Halligen hintereinander aufgereiht sind wie Perlen auf einer Schnur. Es scheint, als hätte ich soeben die Schnur entdeckt. Aber das kann doch unmöglich... Sicherheitshalber gab ich in den DB-Navigator den Namen  der Insel, Nordstrandischmoor, ein - nein, nichts. Natürlich nicht. Ich habe ja wohl nicht ernsthaft erwartet, dass auf diesem dürren Gleislein gleich der RE von Hamburg zur Hallig Nordstrandischmoor vorbeizischt. Nein.
Die Wahrheit ist noch viel abgefahrener.

Kurz vor Dagebüll entdeckte ich eine zweite Bahntrasse im Schatten eines Leuchtturms. Hier löste ein Schild das Rätsel auf: Auf diesen Gleisen wurde gesegelt!
1900 baute man erstmal nur einen Damm zur Insel zum Zwecke des Küstenschutzes. 29 Jahre später waren dann auf Ebay Kleinanzeigen gebrauchte Gleise (von der Baustelle der großen Eisenbahn nach Sylt) günstig zu haben. Die Insulaner ergriffen ihre Chance: Ab jetzt fuhren die Bewohner mit ihren eigenen Segel-Loren (nicht zu verwechseln mit Segelohren) auf ihre Inseln. Eine Zeit lang war das die einzige Möglichkeit, zum Festland zu kommen, sodass auch Gäste und die Post einstiegen. Eine besondere Ikone wurde Magda Mathiesen alias Käpt'n Marvel Magda. Sie übernahm die Lore von ihrem Onkel und segelte damit bis 1968 hin und her. Dass alle anderen inzwischen irgendwelche neumodischen Loren mit Motor benutzten, juckte sie nicht im Geringsten.

Das wirft bei mir drei Fragen auf:
1. Wie cool ist das denn bitte?
2. Wie funktioniert das? Ich bin kein Experte fürs Segeln, aber bei Gegenwind muss man doch irgendwie im Zickzack hin und her kreuzen - wie geht das bitte auf Schienen?
3. Warum wird das nicht mehr gemacht? Eine Segeltörn auf Schienen würde sicher mindestens so viele Touristen anziehen wie eine gewöhnliche Wattwanderung oder Ausflugsschifffahrt!

Eine Online-Recherche beantwortet zumindest Frage 3: Die Insulaner fahren hier zwar immer noch mit ihren privaten Loren, aber das wird nur geduldet und streng geregelt. Zur Hallig Langeneß dürfen sie nur Angehörige mitnehmen, zur Hallig Oland auch angemeldete Feriengäste - aber auf keinen Fall spontan Fahrgäste mitnehmen, sonst ist der Lorenführerschein direkt futsch.

Der Leuchtturm daneben leitete einst Schiffe in den Hafen. Er wurde sogar zusammen mit dem Deich extra um einen Meter erhöht. Was ihm aber auch nichts nützte, als die Kräfte der Natur das Fahrwasser verschoben.

Dagebüll ist ein liebenswertes Seebad, klein und kühl, sauber und still. Wirklich bemerkenswert fand ich, dass hier endlich mal genau dann eine dieser Fahrradreparaturstationen aufgetaucht ist, als ich sie brauchte. Und außerdem konnte ich hier fast alles nachkaufen, was ich brauchte, obwohl das Ende des Örtchens bereits in Sichtweite war.

Am Föhrhafen legen die Schiffe nach Amrum und Föhr ab. Die Inseln nehme ich mir vielleicht ein andermal föhr.
Markenzeichen von Dagebüll sind die Rampen mit blauen Geländern, die sich in einem überaus langen, barrierefreien Umweg über die Dünen schlängeln, nur um die Gäste dann über eine extrabreite Wattrampe in die Wellen rollen zu lassen. Oder je nach Uhrzeit auch mal ins Watt, nehme ich an.

Nichts fährt ewig. Nördlich von Dagebüll hört der schöne Abschnitt am Meer endgültig auf. Und das ziemlich abrupt.
Mit endgültig meine ich: Das ist der letzte Meter direkt an der deutschen Nordseeküste.

Kurz darauf rumpelte ein Zug voller Autos den Horizont entlang. Hier bin ich definitiv richtig!
Noch etwas hat sich mittlerweile geändert: Die dänische Sprache wandert ein. Ihr Motto: Auf sie mit Gebüll! Um das zu erkennen, musste ich nur die Ortsschilder lesen:
Dagebüll, Galmsbüll, Emmelsbüll-Horsbüll (Doppelbüll!), Maasbüll, Deezbüll, Klanxbüll, Wimmersbüll, Bütjebüll (Wie ging noch das Märchen mit dem Fischer? Meine Frau die Ilsebüll, wüll nicht so, wie ich wohl wüll...), Sterdebüll, Mönkebüll, Efkebüll, Seebüll... gut, das reicht erstmal. Die Orte müssen alle unbedingt auf -büll enden. Andere Namen sind den nördlichen Nordfriesen einfach zu büllig.
Aber erst, als heute Nachmittag in Tønder der grenzüberschreitende Zug nach Niebüll einfuhr und dort Niebøl statt Niebüll dranstand, kapierte ich, dass das ganze Gebüll in Wahrheit die eingedeutschte Version vom dänischen Wort für... Blase ist? Warum habe ich das nicht gleich erkannt, bin ich etwa so ungebülldet... schon gut, ich hör ja auf. Hm, Blase... Wo ist eigentlich die nächste Toilette?

Die einzigen drei relevanten Bülls sind für mich ohnehin Dage-, Nie- und Klanxbüll.
Das verschlafene Klanxbüll besteht aus Vorgärten mit violetten Blumen und einigen enormen Parkplätzen. Die Menschen nehmen hier entweder schmerzlichen Abschied von ihrem geliebten Kraftfahrzeug, oder nehmen es mit auf den Autozug nach Sylt. Diese ganz spezielle Insel steht auch auf meinem Plan, aber noch nicht jetzt. Ich bin ja mit dem Festland noch nicht ganz durch.

Also geht es weiter im Zickzack auf windigen Dorfstraßen. Allerdings nicht der Zickzack, den der Nordseeradweg vorsieht, denn der ergibt für meine Tour keinen Sinn - auf einem Riesenumweg zuerst zur Grenze, aber nicht rüber, und dann wieder südwärts nach Klanxbüll? Nee, ich mache es andersrum.
Nette Kirche, aber wo ist der Turm geblieben?

Nachdem ich zweimal falsch abgebogen und von einem Hund lautstark darauf hingewiesen wurde ("Können Sie mal bitte kurz stehen bleiben, während wir unsere Bestie zähmen?"), schoss ich dann endlich auf der Zielgeraden dahin. Am Wegesrand kam mir ein kleiner Deich immer näher. Auf ihm beginnt das schöne Königreich Dänemark.

Radfahrer queren die Grenze aber erst auf dem Damm von Rosenkranz nach Güldenstern Rudbøl. Ein ausgesprochen schicker Übergang: Die Häuser haben Reetdächer, im Wind wiegen sich die Flaggen und das Schilf am Ufer des Grenzflusses Vidå.

Auf einem Parkplatz prangt eine Karte des dänischen Nordseeradwegs und stimmt schon mal auf den nächsten Abschnitt ein. Mooment, eigentlich wollte ich ja nur Schleswig-Holstein machen. Andererseits - wie weit gilt eigentlich das 49-Euro-Ticket? Bingo, bis zum Grenzbahnhof Tønder, der ersten dänischen Nordseestadt. Dann nehme ich die auch noch mit.

Tønder hat mich sehr an Nykøbing/Falster erinnert. Neben einem Springbrunnen hat es seinen Marktplatz mit seltsamen Holztieren, Holzschiffen und einem Sandkasten ausgestattet. Sehr hübsch alles, aber wo sind die Menschen?

Ach, die dänischen Gässchen haben nach wie vor ihren Charme. Dänemark sieht so friedlich aus. Selbst die Hooligans auf den Fußballaufklebern klingen nicht sonderlich furchteinflößend: Wer hat schon Angst vor den Brøruphus Ultras?
Tønder hat auffallend viele weiße Häuser mit solchen achteckigen Erkern vornedran. 

Sogar das Rathaus ist eins dieser Häuser. Ich dachte mir, ich könnte ja noch in die Kirche schauen, doch soeben hatte ein Gottesdienst begonnen. Damit wäre auch das Rätsel gelöst, wo die Menschen sind: Entweder bei Gott oder beim Essen. Erst weiter hinten im Labyrinth der Gässchen beginnt das Refugium der Außengastronomie, in Tønder muss man sich sein Mahl eben noch verdienen.

Und begrenzt wird diese Altstadt von einem Park an der Vidå (die hier noch kein Grenzfluss ist) mitsamt Wasserfall und Wasserturm (hinten links). Der Fluss ist übrigens auch der Grund, warum die Stadt überhaupt existiert: Geschützt, aber doch mit direkter Verbindung zur Nordsee war das ein Top-Standort, um ganz Europa mit Klöppelspitze zu versorgen. Deswegen bekam Tønder schon 1243 eigene Rechte und ist eine der ältesten Kleinstädte Dänemarks. Für mehr Informationen auf dem Stadtrundgang muss man QR-Codes scannen - bin ich etwa aus Versehen in den Niederlanden gelandet?

Alles schön und gut, aber wo ist jetzt eigentlich die Nordsee? Und wo trifft die Grenze auf das Meer?
Antwort: Nicht am Nordseeradweg.
Sondern in einem Netz aus Kühen und Salzwasserseen im Nationalpark Vandehavet, wo sich gar nicht so leicht sagen lässt, ab wo genau das Meer denn nun anfängt. Also im Prinzip so ähnlich wie heute schon den ganzen Tag. In dem Bereich bin ich nicht mit dem Rad gefahren, sondern mit der Bahn auf dem Weg zum Inselfinale der Schleswig-Holstein-Tour. Wäre doch schade, wenn ich nach einem Tag voller Meergleise nicht auch selbst mit der Bahn auf eine Insel fahren könnte.