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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

30 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Oberzech nach Aš

Die Böhmische Waldgrenze I

Länge: 20 km (24 km laut Beschilderung/App)
Grenzquerungen: 0 auf der Strecke (nur 1 am Dreiländereck und 1 per Bahn)
Länder: Deutschland (Bayern/Sachsen), Tschechien (Karlovarský kraj=Karlsbader Region)
Seite: nur Ost
Erkenntnis: Sogar in der evangelischsten Stadt Tschechiens reicht es nicht für eine komplette Kirche.

Die erste Etappe des tschechischen Eisernen Vorhangs beginnt in einem Zipfel in einem Zipfel: Am Dreiländereck von Oberzech reckt sich Tschechien so weit es geht nach Deutschland rein. Als erstes bin ich also aus dem Zipfel herausgefahren, dazu musste ich einfach nur dem Bach Rokytnice alias Regnitz folgen. Auf seinem Wasser verläuft die Grenze.
Das Grüne Band in Tschechien ist nicht nur grün und gelb, sondern auch noch weiß: Im Tal blühen die Buschwindröschen. Kaum zu glauben, aber in diesem unberührten Sumpf lebten vor nicht allzu langer Zeit Menschen. Das Dorf Kaiserhammer war bekannt für das Bier in seinem Gasthaus, die älteste Mühle an der Rokytnice und seinen Bergschiefer. Die Bergleute suchten im Bach auch nach Zinn und Eisenerz.
Kaiserhammer musste gleich aus zwei Gründen weg: Erstens stand es nah an der Grenze in einem sozialistischen Staat, und zweitens war das Dorf größtenteils von Deutschen bewohnt, und das in einem Staat, der gerade erst von Deutschen überfallen worden war. Zwangsaussiedlung und Vertreibung fielen an diesem Ort zusammen, die Informationstafel spricht trotzdem beschönigend vom "Auszug" der Bevölkerung.
Einziger Überrest ist ein schiefes Sühnekreuz. Es erinnert an ein brutales Duell, bei dem ein Offizier den anderen erstach. Zur Strafe sollte er am Ort des Verbrechens dieses Kreuz zurechthauen.

Das Tal ist der einzige Ort in Tschechien, an dem die bedrohte Flussperlmuschel lebt. Früher suchte so mancher Tscheche die Muscheln nach Perlen ab - aber nicht aus Gier oder Böswilligkeit gegenüber der Natur, sondern um sein täglich Brot zu verdienen und zu überleben, wie die Infotafel klarstellt.
Schilder informieren per skizzierter Landkarte, welche Teile der Natur geschützt sind und aufgrund welcher Paragraphen sie nicht betreten werden dürfen.
Nach kurzer Zeit teilt sich die Rokytnice in zwei Quellbäche, den Ziegenbach, der auf Tschechisch immer noch Rokytnice heißt, und den Aubach alias Lužní potok, der von jetzt an die Grenze bildet. Er ist etwas stärker mit Bäumen bewachsen, der Idylle tut das kaum einen Abbruch. Was für ein herrlicher Waldweg, es war eine super Idee, durch Tschechien weiterzufahren!

Auf ehemaligen Grenzkontrollweg (auf Tschechisch Signálka) radelte ich allmählich eine Etage höher den Hügel hinauf und stieß bald auf eine Meinungsverschiedenheit: Die Schilder und meine App wiesen mich nach links, in einen Ort namens Hranice (das bedeutet buchstäblich Grenze) mitsamt dem Vorort Trojmezí (das bedeutet buchstäblich Dreiländereck, wirklich einfallsreiche Namen). Die analoge Karte aber sagt, ich soll geradeaus dem Radweg Nr. 2058 folgen. Diese kurze Route hatte ich auch eingeplant, mit der längeren wäre womöglich die Zeit knapp geworden.

Doch offenbar war meine Sehnsucht nach Deutschland schon nach einer halben Stunde derart stark, dass ich versehentlich vom Radweg 2058 abkam und noch weiter westlich auf einem wilden Waldweg strandete, der sich immer mehr zwischen Moos, Tannenzapfen und einer enormen Pfütze verlor. Uff, lieber weg hier. Notfalls schiebe ich eben quer über die Wiese zum richtigen Weg.

Joa, nur ist der ganz offizielle Iron Curtail Trail (bei dem sich all meine Karten wieder einig sind) auch nicht viel besser. Eigentlich sollte sich der Kiesweg jetzt in Asphalt verwandeln. Stattdessen wurde alles noch schlimmer.
Ich meine, ja, im Prinzip ist da Asphalt. Und ja, in der Wegbeschreibung stand was von Schlaglöchern. Dort wurde aber nicht erwähnt, dass es im Grunde nur zwei langgestreckte Schlaglöcher sind, die den gesamten Weg umfassen. Was ist denn bitte mit diesem Asphalt passiert, wurde der von Thors Hammer zertrümmert? Langsam verstehe ich, warum kaum ein Deutscher oder Tscheche Lust verspürte, an diesem herrlichen Frühlingstag ausgerechnet diesen Radweg zu erkunden, trotz der vielen Rastplätze und herrlichen Natur: Der holprige, ständig wechselnde Belag nervt halt. Von der Elbe weiß ich: Das kann Tschechien viel besser! Nur Waldarbeiter fuhren mit ihren Autos herum und gingen verschiedensten Waldarbeiten nach.

Weitere Hindernisse: Eine Schranke und die nächste Megapfütze.

Bisher hatte ich folgende Vorstellung: Die Grenze der anderen Ostblockstaaten war im Prinzip wie die der DDR, nur etwas weniger extrem. Das ist so nicht korrekt. Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik machte einiges anders als die DDR, übertrieb dabei zum Teil noch viel mehr und musste deswegen schon in den 60ern, deutlich früher als die DDR, massiv zurückrudern.
Bis zu 15 Kilometer vor der Grenze musste man eine Genehmigung vorzeigen (das sind 10 Kilometer mehr als in der DDR), acht Kilometer vorher wurden alle Wegweiser abgebaut, und zwei Kilometer vorher (das sind 1,5 Kilometer mehr als in der DDR) durfte absolut niemand außer den Soldaten rumlaufen. Das war einfach dermaßen unpraktisch, dass die 15-Kilometer-Zone nachträglich auf drei Kilometer reduziert werden musste.
Statt Streckmetall setzte die ČSSR auf normalen Stacheldraht, statt gepflügter Erde verstreute sie Sand, um Fußspuren zu erkennen. Und vor allem benutzte sie statt Selbstschussanlagen Drähte mit 5000 Volt. Einen tödlichen Stromschlag erlitten so nicht nur Flüchtlinge, sondern auch umfallende Bäume, Tiere und mehrere Grenzsoldaten. Deswegen wurde der Zaun auf eine nicht tödliche Spannung herabgesetzt, die nur Alarm bei den Soldaten auslöste. Und das ganz ohne irgendeinen Micháil Gartenschlegr, der ein paar Volt klauen musste. Einfach nur, weil die Entscheidungsträger dermaßen blöd waren, dass sie einen Teil ihrer eigenen Blödheit von allein erkannt hatten.
Auch wenn der Elektrozaun 1991 abgebaut wurde, trauen sich tschechische Hirsche bis heute nicht über die imaginäre Linie.

Ein Imker nutzt den ehemaligen Grenzstreifen, um dort einen Tisch voller Bienenstöcke aufzustellen. Im Kalten Krieg hätte er die ČSSR womöglich auf dumme Ideen gebracht, zum Beispiel auf jedem Grenzkilometer 5000 aggressive Bienen pro Grenzkilometer zu halten und die Zahl dann, nachdem die eigenen Soldaten völlig zerstochen zurückgekommen sind, auf fünf Bienen zu reduzieren.

Der zerkloppte Asphalt geht in immer größeren Bögen auf und ab. (Achterbahnfans sprechen in diesem Zusammenhang von Camelbacks). Die beiden größten Gipfel haben sogar Namen. Der erste heißt Mlýnský vrch (Mühlenhöhe). Diesem Namen wird er voll und ganz gerecht, denn er ist bedeckt mit Windrädern.
Oben angekommen fiel mir ein seltsamer Turm am Horzont auf. Ist das schon der Bismarckturm von Aš? (Einer von nur drei Bismarcktürmen in Tschechien. Kein Wunder, Bismarck ist dort vermutlich weniger beliebt.) Nee, die Richtung passt überhaupt nicht, das muss irgendein bayrischer Turm sein. An dieser Stelle ragt Tschechien sogar noch weiter nach Deutschland hinein - nicht am Dreiländereck vorhin, sondern hier am Mühlenberg liegt Tschechiens westlichster Punkt, behauptet ein Wegweiser.

Der zweite Berg heißt Štítarský vrch, versteckt sich halb im Wald, ist mit einer Rasthütte ausgestattet und sogar zum Teil richtig asphaltiert. Alle fünf Meter durchzieht eine schräge Rinne den Asphalt, durch die wohl Regenwasser abfließen soll. Hoffentlich bleibe ich da nicht drin hängen, wenn ich mich gleich mit einem Affenzahn von der Schwerkraft runterziehen lasse.

Kurz vor dem Ziel treffe ich zum ersten Mal auf Gleise. Das kleine Städtchen Aš (eingedeutscht Asch) hat sage und schreibe drei Bahnhöfe. An den ersten beiden hält aber kein internationaler Grenzverkehr (Ich weiß, bei dem Anblick dieses Bahnhofs ist das sehr überraschend), sondern nur die Bummelbahn nach Hranice. Mein Ziel ist Bahnhof Nr. 3.

In Aš gibt es sogar eine Fahrradstraße. Naja, oder zumindest irgendetwas in der Art. Mit dem Asphalt bekommen die das nicht mal innerorts so richtig hin.
Dieser Weg brachte mich direkt ins Herz und Highlight von Aš: Dem Park.

Dieses gelbe Schlösschen ist das Ašer Rathaus. Es war einst von ganz ähnlichen Häusern umgeben, die einen typisch tschechischen Arkarden-Marktplatz bildeten. Damit man sich das heute vorstellen kann, braucht es eine Menge Phantasie. Nur das sture Rathaus hat den Lauf der Geschichte überdauert: Nach dem Stadtbrand 1814 benötigte es zum Beispiel bloß ein neues Dach, während ringsherum alles zerstört war. Damals wurde der komplette Verkehr durch den Rathausbogen durchgeleitet. Ursprünglich gehörten Teile des Rathauses den umliegenden Gemeinden, aber die Städter kauften ihnen ihre Anteile einfach ab. Und weil sie immer noch nicht genug Platz zum Verwalten hatten, setzten sie noch ein Stockwerk obendrauf, in einer, wie die Infotafel meint, "aufdringlichen Architektur". Ich schätze, um als Gebäude in Aš zu überleben, muss man auch etwas aufdringlich sein. Im Sozialismus diente das Haus zwischendurch als Museum und Bücherei.
Die Häuser rundherum hatten weniger Glück, sie brannten 1814 ab, wurden später zerbombt oder sind zerfallen, als sie ungenutzt in der Grenzzone herumstanden. Die Einwohner haben dann Nägel mit Köpfen gemacht und die letzten Reste abgerissen. Wer sagt denn, dass nur der tschechische Standard-Marktplatz gut aussieht? Wenn man die Wohnblocks bunt anmalt und dazwischen Grünanlagen pflanzt, dann ist die Stadt doch auch sehr einladend!

Ganz besonders, wenn der Park mit alten Mauerbögen, neuen Hängebrücken und kreativen Spielplätzen ausgestattet ist.

Mitten im Park steht kein anderer als Martin Luther, denn hier findet sich das einzige Lutherdenkmal in Tschechien. Die Statue wurde in Nürnberg gegossen und zu Luthers 400. Geburtstag aufgestellt. Aš war eine evangelische Stadt, und nach dem Dreißigjährigen Krieg durfte die Gemeinde ihren Glauben behalten und sich dem evangelischen Oberkirchenrat in Wien anschließen. Nach der "zwangsweisen Aussiedlung" der Deutschen (diesmal beschönigt die Infotafel nichts) erhielt die tschechische evangelische Landeskirche das Gebäude, und die ganz wenigen tschechischen Protestanten hatten auf einmal einen üppigen Barockbau mit 2500 Sitzplätzen.
Die Betonung liegt auf hatten.
1960 war die Kirche fast fertig saniert und alle Kriegsschäden beseitigt. Dann explodierte ein Heizofen und alles brannte wieder ab. Heute liegen im Park nur noch die Grundmauern und ein paar Grabplatten.

Ich musste noch ein Weilchen die Wellen der Hauptstraße auf und ab radeln, bis ich endlich den Abzweig zum Bahnhof entdeckte.
Auf der Bahnstrecke ins bayrische Selb-Plößberg ereignete sich 1952 eine tiptop organisierte und völlig reibungslose Flucht. Ein Lokführer und ein Fahrdienstleiter hatten von Widerstandskämpfern erfahren, dass Haftbefehle gegen sie beide vorlagen, weil sie anderen zur Flucht verholfen hatten. Sie luden ihren Zug voll mit einer letzten Ladung Flüchtlinge, denen ebenfalls Gefängnis oder Todesstrafe drohten. Dann ließen sie den Zug von Komplizen im Stellwerk illegal nach Bayern umleiten.
Ich brauchte zwar keine Komplizen im Stellwerk, aber so einfach wie gedacht war die Rückreise dann doch nicht. Zunächst einmal musste ich feststellen, wie zum Geier man überhaupt in diesen Baustellenbahnhof reinkommt und wo das richtige Gleis ist. Dann musste die Dame am Schalter irgendwo anrufen, weil sie nicht wusste, ob das 49-Euro-Ticket schon für diesen Grenzbahnhof gilt.

Und schließlich, als die bayrische Bahn endlich losfuhr, kontrollierte mich gleich zweimal die Polizei: Am ersten deutschen Bahnhof in Selb wollte man nur meinen Ausweis, doch als ich in Hof Hbf ausstieg, checkte ein zweites Team meine Taschen höflich nach Rauschgift und Feuerwerkskörpern. (Merke: Bei internationalen Radtouren nie wieder Jogginghose anziehen, das wirkt verdächtig.)
Zugegeben: Wenn das die intensivsten Kontrollen sind, die ich an den Grenzen meiner Heimat Zeit meines Lebens erleben werde, dann habe ich wenig Grund, mich zu beschweren. Und doch hat sich etwas verändert, seit der Iron Curtain Trail angelegt wurde: Das offene Europa, welches die Radroute zelebrieren soll, hat seine Unschuld verloren. Was das bedeutet, werden wir sehen.

29 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Blankenstein nach Oberzech

Die Bergbayerngrenze IV

Länge: 47 km (+20 km nach Aš)
Grenzquerungen: 6
Bundesländer: Bayern/Thüringen/Sachsen/Tschechien
Seite: etwas mehr Ost als West
Erkenntnis: Die letzte Etappe wird aktuell noch fertiggebaut.

Finale! Mal sehen, was es auf den letzte Kilometern des Grünen Bands noch so zu entdecken gibt. (Verdammt viel, wie sich herausstellt.)

Erst einmal gibt es Blankenstein an der Saale zu entdecken. Blankenstein besteht aus einer Papierfabrik, einer Baustelle und einem Bahngleis. Hier endet der Rennsteig in einem eigens dafür hergerichteten Park an der Selbitz.

Die Selbitz mündet in den letzten großen Grenzfluss des Grünen Bands: Die Sächsische Saale. So wird der Fluss manchmal genannt, um ihn von der Fränkischen Saale zu unterscheiden. Obwohl die Sächsische Saale nicht durch Sachsen fließt, aber beide durch Franken fließen. Wer das ebenso dämlich findet wie ich, nennt sie einfach nur Saale.
Genau wie bei der Fränkische Saale steigt morgens ein Nebelband aus dem Wasser auf, als würde ein zweiter, dunstiger Fluss dem Licht der aufgehenden Sonne entgegenfließen. Die beiden Saalen (Ist das der richtige Plural?) haben doch einiges gemeinsam.
Der Saaleradweg ist bergig und anspruchsvoll, womit er sich gut in den Iron Curtail Trail einfügt. Er folgt der Panoramastraße, deren Name wirklich hält, was er verspricht. Zuerst verläuft sie entspannt am Südufer, aber bald geht es aufwärts!

Das macht die Fahrt anstrengender, aber das neblige Panorama noch besser! Auf dem Weg liegt eine alte Abraumhalde für Schiefer. Nur 5 Prozent des Schiefers war geeignet, um damit Dächer zu decken, der Rest wurde in solchen Haufen abgeladen. Anders als bei Abraumhalden von Kalibergwerken sind die Schieferhalden sogar gut für die Natur, viele Arten fühlen sich darin wohl.

Ein Bäcker war nirgendwo in Sicht, aber nach den ersten Bergen verlangte mein Magen nach einem ausgiebigeren Frühstück. Da fiel mir etwas auf: In der Karte ist das Brückenrasthaus Frankenwald eingezeichnet, direkt an der Autobahn. Erinnerungen blitzten auf: Eine Raststätte, welche die Autobahn als Brücke überspannt, die man also von beiden Seiten betreten kann. Bei irgendeiner Autofahrt muss ich dort schon einmal gegessen haben.
Das wär doch mal was, auf einer Radtour auf einer Autobahnraststätte essen. Aber kommt man da von außen rein? Autobahnen sind doch mit Zäunen abgeriegelt, um Rehe vom Suizid abzuhalten.
Doch der Zaun hat eine geheime Lücke. Kein Verbotsschild, also nichts wie rein! Diese Viehsperre hält vielleicht Wildtiere fern, aber keine hungrigen Radler.

Das Rührei hatte zwar, naja, Raststättenqualität, aber allein schon die hochgezogenen Augenbrauen über schlaftrunkenen Augen, als ich mit dem Rad auf dem Parkplatz einfuhr, waren den Abstecher wert.

Es bleibt bergig, aber immerhin geht es auf einem richtigen Radweg weiter. Kleine Bäumchen machen ihn zu einer Allee, gefällt mir.

Nach 12,5 Kilometern endet der Saale-Abschnitt dann in Hirschberg. Hier produzierte die größte Lederfabrik Europas Schuhsohlen. Die Fabrik finanzierte nebenbei den Bau von Bahngleisen, Schulen, Wohnhäusern, einem Freibad und der Saalebrücke. Letztere wurde in aller Bescheidenheit Heinrich-Knoch-Brücke genannt. Heinrich Knoch war rein zufällig der Typ, der die industrielle Produktion in der Lederfabrik eingeführt hatte.
Die Nazis sprengten die Brücke und nahmen damit ihren angeblichen Erzfeinden, den Kommunisten, die Arbeit ab. Als die Fabrik im Sozialismus verstaatlicht wurde, kamen ab sofort auch komplette Schuhe und andere Kleidungsstücke aus Hirschberg. Im November 1989 wurde die Brücke in nur fünf Tagen wieder aufgebaut und Brücke der Freiheit genannt. Heinrich-Knoch-Brücke hätte auch nicht mehr so gut gepasst, denn die meisten Fabrikgebäude wurden in den nächsten Jahren abgerissen.

Vor dem Schloss erinnert ein ungewöhnlich groß geratenes Mahnmal an die Toten der Weltkriege.

Hinter der Saalegrenze geht Deutschlands Rückgrat weiter - auf und ab wellt sich die Straße, wenn auch etwas weniger auf und ab. Diese Region nennt sich Vogtland und ragt in drei Bundesländer hinein. Ach, guck an, da ist ja doch noch eine Kaserne.

Doch das ist nichts gegen die Überraschung, die hinter der nächsten Hügelkuppe wartete. Durch das gesamte Tal zog sich wie ein klaffender, verrosteter Strich, ein gewaltiger Zaun. Ist das... der Grenzzaun? So lang? Moment mal, da hinten geht er ja immer noch weiter, bis ins Dorf rein.

Das Dorf heißt Mödlareuth, die Amerikaner nannten es allerdings Little Berlin. Dieser Spitzname passt hier sogar noch besser als in Zicherie-Böckwitz, schließlich ist das wirklich ein einziges, einheitliches Dorf. Es hat sogar denselben Namen, ganz ohne Bindestrich.
Trotz dieser Einheitlichkeit wurden 1810 Grenzsteine am Tannbach verlegt, die das Dorf zwischen Thüringen und Bayern aufteilten. Seitdem hat Mödlareuth zwei Postleitzahlen, zwei Bürgermeister, zwei Landkreise und zwischendurch sogar zwei Wirtschaftssysteme.

Und heute hat das Dorf den längsten, aufwendigsten Nachbau der Grenzanlagen an der kompletten innerdeutschen Grenze! Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht, dass auf den allerletzten Kilometern noch die Anlage in Hötensleben getoppt wird.
Ich konnte mir das Ganze jedoch nur aus der Ferne ansehen, denn: An der Anlage wurde noch gebaut, Arbeiter verlegten die letzten Steinplatten, alle Zugänge waren mit Bauzäunen versperrt. All die neuen Infotafeln und Wege sahen aus wie aus dem Ei gepellt. Das wunderte mich, denn die Grenzzäune schienen mir alles andere als neu zu sein. Wahrscheinlich stand da schon vorher eine Gedenkstätte und es war nur an der Zeit, alles von Grund auf zu sanieren. Die werden ja wohl kaum die alten Zäune 30 Jahre lang mitten im Dorf stehengelassen haben, um erst dann zu überlegen, was man draus machen könnte. Schließlich wollten die meisten Menschen diese dunklen Erinnerungsstücke am liebsten direkt verschwinden lassen. Auch deshalb finde ich diese gigantisch geratene Gedenkstätte überraschend - ist das denn schön für die Einwohner, wenn sie morgens aus dem Fenster gucken und alles sieht fast so aus wie damals?

Über die Grünanlagen hinweg erspähte ich praktisch all das Zeug, das ich bisher am Grünen Band gesehen hatte, an einem Ort versammelt, sogar alte Panzer und Mauern. Mit einer Ausnahme: Es fehlt der typische rechteckige Grenzturm. In die Grenzmauer ist ein komischer halber Beobachtungsturm eingebaut. Ansonsten hatten die Soldaten von Mödlareuth anscheinend bloß die dünnen, runden Billigtürme ohne Heizung. Zumindest bekamen sie im Winter mobile Elektroheizkörper, damit für "Frostsicherheit" gesorgt war.


In Mödlareuth stehen also die letzte große Outdoor-Gedenkstätte und das letzte Indoor-Museum. Als nächstes folgen das letzte innerdeutsche Dreiländereck und das letzte Bundesland. Dazu verlässt die Radroute die Straße und folgt einem Pfad entlang eines Bachlaufs.
Auf dem Bächlein wurde eine imposantes Dreieck aus Pflastersteinen installiert. Obendrauf thront der Dreifreistaatenstein, ein altes Stück Grenzmarkierung in neuer Umgebung. Dieses Gestaltungskonzept hat bei einem Studentenwettstreit gewonnen - zu Recht, diese dreieckige Mischung aus Natur und Pflaster hat was.
An diesem Stein treffen die einzigen drei Bundesländer aufeinander, die sich als Freistaaten bezeichnen. Warum Sachsen, Thüringen und Bayern das machen, weiß keiner so richtig - Freistaat ist einfach nur ein anderes Wort für Republik, in der Weimarer Republik haben sich die meisten Reichsländer so genannt. Manche Sprachpuristen bevorzugen das Wort, weil Republik aus dem Lateinischen kommt und diese verdammten Latinismen unsere schöne deutsche Sprache verhunzen. Aber eine solche Begründung ist vermutlich nicht mal aus Sicht der CSU zeitgemäß.
Sachsen und Bayern hatten hier schon lange eine gemeinsame Grenze. Zumindest ungefähr hier. Wo genau, war umstritten. Um dieses Problem zu lösen, stellte man 1840 den Grenzstein auf, der damals noch Dreiherrenstein genannt wurde.

Anschließend bin ich auf einem gut befahrbaren, sächsischen Kolonnenweg zwischen Windrädern zur Straße zurückgekehrt. Der zweisprachige Wegweiser übersetzt sogar das Wort Kolonnenweg ins Tschechische (Signálka).
Das Grüne Band besteht hier aus einem sogenanntem Offenlandbiotop. Würde man das einfach wachsen lassen, entstünde daraus irgendwann ein Wald. Dann kämen die gefährdeten Arten des Offenlands, die im Kalten Krieg eingezogen sind, aber nicht mehr so gut klar. Deswegen werden die Pflanzen ab und zu vorsichtig gemäht. Das Grüne Band wurde sogar nachträglich verbreitert, nachdem der Vogtlandkreis ein paar private Feldflächen aufgekauft hat.
Auch der KfZ-Sperrgraben hat in diesem Biotop eine wichtige Funktion: Füchse und Dachse verstecken sich darin.

Hm, wenn das hier Sachsen ist, dann grenzen ja ausnahmslos alle neuen Bundesländer an den ehemaligen Eisernen Vorhang. (Sogar Ostberlin grenzt ja an die Berliner Mauer.) Der sächsische Abschnitt ist aber echt kurz, gerade mal 3 % des Grünen Bands (wobei allein auf diesen 3 % mindestens 11 Menschen starben) bzw. etwa 26 Kilometer Radweg verlaufen an der sächsischen Grenze.
Selbst die grausamste Grenze der Welt scheint Berührungsängste mit diesem Bundesland zu haben.

Okay, okay, ich will jetzt keine 26 Kilometer Sachsenbashing betreiben. Aber wie soll ich das hinkriegen, wenn das erste sächsische Dorf verflixt nochmal Grobau heißt?
Vielleicht, indem ich zugebe, dass Grobau echt nett aussieht. Vor allem die Eisenbahnbrücke quer durchs Dorf ist ein prächtiger Anblick. Ich freue mich schon, darauf nachher mit der Bahn heimzufahren.

In Gutenfürst passieren die Züge dann den letzten Grenzbahnhof der Innerdeutschen Grenze. Allerdings fuhren hier bloß Interzonenzüge von München nach Westberlin. In der DDR durfte niemand aussteigen, nur die Grenzer verließen in Gutenfürst den Zug.
Auf dieser Strecke düsten auch die Sonderzüge nach Hof für jene 4500 Flüchtlinge, welche die Westdeutsche Botschaft in Prag besetzt hatten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Die DDR war am Ende eingeknickt und ließ sie raus - aber nur, wenn die Züge noch einmal den Bogen über DDR-Gebiet machen, schließlich könne ja nur die DDR die Menschen aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen.

Noch etwas Letztes gefällig? Wie wäre es mit dem letzten Grenzturm? Moment mal, ist da etwa die Tür offen? Ungeduldig biege ich auf einen miesen Kies- und Kolonnenweg ab. Kann das wahr sein - auf den letzten Kilometern Innerdeutsche Grenze gibt es doch noch einen Grenzturm, wo ich so richtig reingehen kann?
Nö, kann es nicht.
Jedenfalls noch nicht. Aus der offenen Tür ertönen fröhliche Popmusik, im ersten Stock wird lautstark gebohrt, Werkzeug und Steinstaub liegen herum. Dieser Turm wird erst noch besucherfertig gemacht. Hoffentlich ist er dann auch allgemein zugänglich, zumindest über ein Drehkreuz wie der Bayernturm.

Gleich nebenan verläuft eine Autobahn. Ein Flüchtling versuchte sich an ihrem Verlauf zu orientieren. Gegen die tödlichen Selbstschussanlagen half das allerdings nicht.

Der Weg kurvt auf und ab durch grüngelbe Felder, versteckte Täler und Schluchten. Es ist alles superidyllisch, und doch wäre ich allmählich gern am Ziel, denn meine Waden sind nach vier Tagen intensivem Gestrampel allmählich nur noch so mittemäßig motiviert.
In einem verlassenen Löwenzahntal entdeckte ich den letzten Streckmetallzaun der Strecke - im Wasser. Reste des Eisernen Vorhangs dienen heute als Fischzaun.

Zum Schluss bin ich nochmal ganz kurz nach Bayern hinübergefahren. Ah, da vorne muss es eigentlich schon sein, auf dieser Hügelkette... verdammt, die Kette! Muss die Fahrradkette ausgerechnet jetzt abspringen? Aua, warum ist das Ding auch noch so messerscharf?
Gut, jetzt aber: Da oben muss es sein. Auf der letzten Hügelkette warten die Holzscheunen des Dorfes Oberzech.

Ich entschied mich für eine Abkürzung durchs Dorf, die mir meine App vorschlug. Als ich an der Seite der Dorfstraße herauskam, sausten plötzlich gleich fünf E-Biker auf der Zielgeraden vorbei. Nanu, die ganze Zeit waren die Straßen leer - wo kommen die auf einmal her? Und muss ich jetzt eine La-Ola-Welle für die machen?
An der nächsten Ecke wies mich der Wegweiser Dreiländereck in den Sumpf. Doch bis zu besagtem Eck sind noch ein paar Hindernisse zu überwinden. Heutzutage zwar keine tödlichen, aber doch welche, die einen Radfahrer effektiv ausbremsen: Ein hölzernes Drängelgitter, ein Weg aus Rindenmulch, vorbei am Grab eines unbekannten deutschen Soldaten, dann eine hölzerne Brücke, noch mehr Rindenmulch, noch eine Brücke...
Das komplette Dreiländereck ist durchzogen von den klaren Windungen der Südlichen Regnitz (die später in die Saale mündet), und im Frühling findet man kaum einen besseren Ort für einen sonnigen Spaziergang. In diesem Bach gab es früher den größten Bestand an Flussperlmuscheln in Mitteleuropa. Im extrem heißen Sommer 1947 starben viele Muscheln ab, aber ein paar überlebten, und die Kinder und Enkel (immerhin können sie 50 Jahre alt werden) der Muscheln wuscheln noch heute durch den Grenzbach. Ja, richtig gelesen: Am Ende der Innerdeutschen Grenze gibt es Muscheln, genau wie am Anfang in der Ostsee.

Aber gehen wir noch ein Stück in der Zeit zurück: Vor langer Zeit galt das schwer zugängliche Terrain als Niemandsland, und die Grenze war eher ein breiter Streifen als eine Linie. Als das Land immer weiter besiedelt wurde, schrumpfte der Streifen zusammen, bis man 1844 die Grenze endgültig festlegte und die Muscheln zum ersten Mal gestört wurden. Sie lagen jetzt im Grenzgebiet von Österreich (zu dem Tschechien damals gehörte), Sachsen und Bayern (die damals noch eigene Staaten waren). Zu der Zeit war im Eck ordentlich was los, es gab regen Grenzverkehr zwischen den drei Staaten.
Vom Kalten Krieg kann man das natürlich nicht sagen. Auf einmal lag in diesem friedlichen Tälchen das Dreiländereck zwischen BRD, DDR und ČSSR (die Tschechoslowakische Sozialistische Republik). Die Grenzanlagen der DDR gingen in die tschechoslowakischen über. Ob es wohl leichter war, den Bogen über Tschechien zu schlagen und statt einer scharf gesicherten Grenze zwei etwas weniger scharf gesicherte zu überwinden? Ein DDR-Bürger probierte es 1986 auf diesem Weg und hatte Erfolg.
Heute ist der Punkt, international gesehen, nur noch ein Zweiländereck aus Tschechien und Deutschland (Bayern/Sachsen). Ohne Zweifel jedoch ist es ein Eck: Dies ist die Stelle, an der die Spitze Tschechiens weit nach Deutschland hineinragt, der vielleicht auffälligste Punkt, wenn man Deutschlands Umriss auf einer Landkarte anguckt.
Wie markiert man einen solchen Punkt? Die Tschechen haben ihr obligatorisches, ovales Česká-Republika-Schild hingestellt, das man überall an der tschechischen Grenze findet. (Hier ist es deutlich sauberer als am Elberadweg.) Die Deutschen machen es etwas nüchterner mit STAATSGRENZE auf einem weißen Rechteck. Doch das echte Dreiländereck befindet sich in einem grünlichen Ausläufer des Bachs. Ein neuer, dreieckiger Stein ragt aus den Algen und zeigt zweisprachig und übersichtlich an, dass zum Beispiel die Kühe dort hinten zu Sachsen gehören (und vermutlich Müh machen). Daneben stehen noch historische Grenzsteine mit rätselhaften Ziffern, deren Bedeutung ein tschechischer Grenzstein-Nerd auf einer eigenen Infotafel erläutert.

2013 flutete ein schweres Hochwasser das Eck, nur die Bäume und die Spitzen der Grenzssteine guckten hilflos aus den Wassermassen.
Am Ende eines langen Stegs musste ich das Rad schließlich die Schieberinnen einer Treppe hinaufhieven. Erst dann hieß mich der gelbe Wegweiser so richtig in Tschechien willkommen.

Zugegeben, die Tschechen machen es den Radlern nicht zu leicht, ihr Land zu betreten. Aber sie belohnen sie auch gebührlich für die Mühe, und zwar mit zwei hölzernen Schränkchen. Im ersten verbergen sich ein Gipfelbuch und Stempel für Reisetagebücher, im zweiten eine Minibar mit verschiedensten Getränken.
Die E-Radler von e-ben luden mich an ihren Tisch ein, und wir tauschten die Ereignisse unserer Iron Curtain Touren aus. Sie hatten die Strecke in zwei Touren absolviert und in Eschwege unterbrochen. Ich staunte, wie kühl die Getränkedose war, und spekulierte über die übernäturlichen Kühlfähigkeiten des Schränkchens. Die anderen klärten mich, auf dass gerade eben ein Auto weggefahren sei, dessen Fahrer das doch nicht so magische Schränkchen mutmaßlich aufgefüllt hatte.

Und so erreichte ich im Frühling 2023, als das Grüne Band gelb vom Löwenzahn und meine Finger schwarz und rot von meiner störrischen, scharfen Fahrradkette waren, das Ende der Innerdeutschen Grenze.
Und jetzt? Man muss nicht googeln, um zu wissen, dass Nahverkehr in Oberzech praktisch nicht existiert. Wer zum nächsten Bahnhof will, soll die 17 Kilometer nach Hof an der Saale runterfahren. Ich habe Hof auf der Rückfahrt beim Umsteigen gesehen. Es ist alles andere als eine Fahrradstadt, und seine beigen Fassaden sind doch von eher eingeschränkter Schönheit.

Doch irgendwann, als ich diese Tour plante, kam mir auf einmal eine Idee: Wenn ich sowieso noch weiterfahren muss, warum soll ich mir dann nicht anschauen, wie die Grenze in Tschechien aussieht? Nur 20 Kilometer entfernt wartet ein tschechischer Bahnhof auf mich, und 20 und 17, och, das ist doch quasi dasselbe.