NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

11 November 2022

Nordsee: Von Varel nach Bremerhaven

Wieso heißt der Jadebusen eigentlich Jadebusen? Die Antwort habe ich auf einer kurzen Brücke überquert: Er wurde nach dem Flüsschen Jade benannt.


Das war im Grunde das einzig Interessante an der Hauptstraßen hinter Varel. Obwohl nee, da war noch ein Haus, das zum Zweck des Küstenschutzes enteignet werden sollte. Zumindest wurde das auf den zahlreichen Bannern und Plakaten angedeutet, die das Gebäude und den Zaun zierten. Ich meine auch ganz vage herausgelesen zu haben, dass der Eigentümer die Enteignung eventuell nicht so richtig gut fand. Um dagegen vorzugehen, hat er sein Haus dermaßen zugebannert, das es als solches nicht mehr zu identifizieren ist.

Dann verändern sich mehrere Dinge auf einmal und machen den Rest der Strecke viel besser:
Erstens wechselt meine Fahrtrichtung von Osten nach Norden.
Zweitens wechsle ich vom Einzugsgebiet der Jade ins Gebiet der Weser. (Bis 1644 mündete hier ein Arm der Weser direkt ins Meer.)
Drittens wechsle ich vom Rand der ostfriesischen Halbinsel auf die Halbinsel Butjadingen. (Der Name bedeutet jenseits der Jade. Butjadingen ist außerdem der Name einer Gemeinde, zu der so gut wie alle Dörfer auf der heutigen Strecke gehören. 1362 war Butjadingen nach einer Sturmflut sogar mal kurz eine Insel.)
Viertens wechsle ich vom straßenbegleitenden Radweg zu schönen Deichradwegen.
Fünftens taucht an diesen Deichen in regelmäßigen Abständen eine besondere Küstenlandschaft auf.

Besondere Küstenlandschaft Nr. 1 ist das Schwimmende Moor. Das ist wirklich einzigartig: Beim Bau der Deiche musste das Moor 1725 leider draußen bleiben. Wenn die Flut kommt, hebt sie alle Pflanzen an und setzt sie später wieder ab. Erstaunlicherweise kommt die Natur mit diesem ewigen Hoch und Runter klar.

Der erste Teil des Deichradwegs sollte "mindestens bis 2020" wegen Bauarbeiten gesperrt sein. Nun ist 2020 ja schon ein bisschen her, allerdings fühlt es sich nicht so an - weder, wenn man Nachrichten schaut, noch auf besagtem Radweg. Er war zwar geöffnet, bestand aber aus holprigem Kies mit dem einen oder anderen Bagger.

Als ich wieder von Mieskies zu Asphalt wechselte, wollte ich endlich so richtig Tempo aufnehmen. Das war eventuell nicht so schlau, denn am Wegesrand waren zwei Reiterinnen unterwegs, bei denen prompt die Pferde durchgingen. Upsi.

Die Halbinsel Butjadingen hat ungefähr dieselbe Form wie ein deformierter Pilz. (Also im Prinzip so ähnlich wie die ostfriesische Halbinsel, aber bei der ist der Pilz dermaßen dick, dass er nicht mal mit viel Phantasie als solcher zu erkennen ist.)
Nun hatte ich den kurzen Pilzstengel erklommen und fuhr an der Unterseite des Pilzhütchens bis zum Preußeneck. Das ist quasi die untere Ecke des Pilzhütchens. Im Sommer legt dort eine Fähre nach Wilhelmshaven ab.
Sofort fiel mir das Leuchtfeuer Preußeneck ins Auge, ein eigenartig konstruierter Leuchtturm. Je weiter ich nach Osten radle, desto moderner werden anscheinend die Leuchttürme. In seiner Mitte schlängelt sich eine Wendeltreppe nach oben, die war aber leider verschlossen.

Stattdessen habe ich die Aussicht auf dem Deich von Tossens genossen. Da konnte ich fast den kompletten Jadebusen überblicken. Am gegenüberliegenden Ufer rauchen die Schornsteine und ragen die Kräne von Wilhelmshaven in den Himmel. Auf meiner Seite befindet sich dagegen Deutschlands erster Babystrand. Die Klettergerüste sind zwar nicht so hoch wie die Schornsteine, produzieren dafür aber auch weniger Rauch.

Tossens ist ein Heilbad und Ferien-Vergnügungsort, der von einer Centerparcs-Ferienanlage dominiert wird. Da werden auch Wattwanderungen angeboten. So ein stundenlanges Matschgestapfe wäre ja nicht das, was ich in solch einer künstlichen, sterilen Ferienwelt erwartet hätte, doch selbst ein Centerparc muss sich seiner Umgebung ein Stück weit anpassen.

Eine andere Besonderheit dieses Parks sind brutale Betonrutschen, die ihre Badegäste mit branchialer Wildheit durch tiefe Fliesenschluchten reißen und an einer Stelle überschlagen lassen.

Das tolle an Butjadingen ist: Ich darf hier ziemlich lange außendeichs (so nennen es die Wegweiser) radeln.
Die Hafenanlagen von Wilhelmshaven verschwinden hinterm Deich (im Bild). Wenige Meter später tauchen in der entgegengesetzten Richtung noch größere Kräne am Horizont auf - das ist dann wohl Bremerhaven, die andere Havenstadt, die das Wort Hafen nicht richtig schreiben kann. Riesenkräne am Horizont begleiten mich also praktisch den ganzen Tag.

Die nächste besondere Küstenlandschaft ist der Langwardener Groden. Im Prinzip ist das eine Sumpfsalzwiese mit vielen seltenen Vogelarten drin. Sie erstreckt sich zwischen zwei Deichen, damit ist der Groden vom Festland und vom Meer abgeschnitten. Trotzdem sieht die Wiese zwischendurch fast wie ein Wattenmeer aus, so richtig mit Matsch und dicken Prielen. An einer Stelle verwandelt sich der Pfad in eine Holzbrücke, damit die Besucher trockenen Fußes durchkommen und die Tiere nicht in menschlichem Fußschweiß schwimmen müssen.

In Feddewardersiel wollte ich mir ein regionales Mittagessen mit Sielblick gönnen. Es bestand logischerweise aus Fisch - und ostfriesischem Tee, ungeachtet der Tatsache, dass ich mich nicht mehr in Ostfriesland befand. In Ostfriesland benötigt man zum Teetrinken mehr Geschirr und Besteck, als ich bei einer vollen Mahlzeit zu Hause verwende: Teekanne, Teekannendeckel, Teewärmerdingsbums mit Kerze drin, Tasse, Untertasse, Löffel, Kandiszuckerbehälter, Kandiszuckerbehälterdeckel, Kandiszuckerzange, Sahnekanne, Sahnekelle und eine mysteriöses superflaches teekannenförmiges Schüsseluntertassenoderwasauchimmerteil (das ich als einziges nicht benutzt habe).
Wie genau und in welcher Reihenfolge das alles zusammengepuzzelt werden sollte, musste ich mir selbst erschließen (die Strecke am Teemuseum Norden bin ich nämlich erst später gefahren). Eine Gebrauchsanweisung wäre ganz nützlich gewesen. Als ich die Sahne auf den Tee goss, entstanden Kringelmuster. Das sah so hübsch aus, das muss eindeutig richtig gewesen sein.

Der Skulpturenpfad, den ich schon auf der letzten Etappe entdeckt habe, ging den ganzen Tag über weiter. Endlich weiß ich, wohin die Kunstwerke verschwunden sind, die ich damals am Skulpturenpfad an der Werra nicht gefunden habe: Ein Hochwasser muss sie über die Weser bis nach Butjadingen gespült haben.
Das Kunstwerk Holzkoralle beispielsweise ist ein löchriges Stück Treibholz und soll darauf aufmerksam machen, dass durch den globalen Handel und Klimawandel exotische Holzwürmer unkontrolliert einwandern. Glaube ich. Auf der Texttafel stand nur eine konfuse, stichpunktartige Aneinanderreihung von Worten. Der Text ist wohl auch Kunst.

In Burhave verschwindet ein Teil der Nordsee in einem eingezäunten Bereich, in dem man keinesfalls eine Wattwanderung unternehmen darf. Es fließt durch die Dünen und speist ein einzigartiges Naturfreibad namens Nordsee-Lagune. Das dürfte das einzige Schwimmbecken Deutschlands sein, in es Ebbe und Flut gibt. Im Frühling war es noch geschlossen.

Dafür ist der Wattsteg das ganze Jahr über geöffnet. Wem selbst eine kurze Wattwanderung zu gefährlich oder matschig ist, der darf auf diesem Steg einige hundert Meter ins Wattenmeer spazieren. Und sollte er sich spontan umentscheiden, kann man auf vielen kurzen Treppchen vom Steg zum Watt oder zurück auf den einigermaßen sauberen Steg wechseln.
Wohlgemerkt: Einigermaßen sauber, mehr nicht, denn dieser Matsch gelangt überallhin, so ähnlich wie Sand in der Wüste. Selbst romantische Liebes- oder Hassbotschaften werden in Burhave nicht etwa mit Grafitti oder Edding verkündet, sondern mithilfe des nachhaltigen Schreibgeräts Schlammiger Finger aufs Holz gepinselt.

Der allerletzte Abschnitt verläuft dann außen am Deich - aber hinter einem Industriegebiet. Sollen bei Hochwasser die Fabriken absaufen? Nee, wahrscheinlich gibts da noch einen zweiten Deich. Der Weg ist wieder mal total mit Stroh bedeckt. Zwischenzeitlich gab es nur eine ganz schmale Rinne, in der ich einigermaßen fahren oder zumindest schnell schieben konnte. In dieser Rinne waren diverse Spaziergänger, Radler und kleine angeleinte Hunde unterwegs, was wiederum bedeutete, dass ich dort nicht die ganze Zeit unterwegs sein konnte, sondern anderen Spaziergängern, Hunden und Radlern ausweichen musste.
Naja, trotzdem hat mich die hübsche Halbinsel Butjadingen insgesamt positiv überrascht. Die Ostfriesische Halbinsel kann hier noch ein bisschen was dazulernen, was Radwege angeht.

Als Ausgleich für das Stroh hatte ich einen wunderbaren Blick über die ebenso breite wie hohe Skyline von Bremerhaven. Von hier aus sieht die Stadt sogar ein ganzes Stück beeindruckender aus, als sie eigentlich ist. Dicke Containerschiffe ziehen auf die Ozeane hinaus und suchen ihr Glück im krisengebeutelten Welthandel.
Der Mündungstrichter der Außenweser zieht sich immer enger zusammen, aber bevor daraus ein richtiger Fluss wird, nehmen die Radfahrer die Fähre von Nordenham-Blexen nach Bremerhaven. Joa, und ab jetzt besteht die niedersächsische Nordseeküste im Prinzip nur noch aus den riesengroßen Mündungen der Weser und Elbe. Dementsprechend geht es auf dem Weser- und Elberadweg weiter.

10 November 2022

Nordsee: Von Wilhelmshaven nach Varel

Wilhelmshaven existiert deshalb, weil der preußische König 1848 Stress mit den Dänen hatte. Er schloss einen Deal mit dem Herzog von Oldenburg: Das kleine Stück Land an der Jademündung ging an Preußen und er durfte da einen Nordseehafen bauen. Natürlich nicht der König persönlich, sondern Arbeiter, die Schubkarren mit tonnenweise Matsch durch den Sumpf karrten und dabei an Malaria starben. Aus irgendeinem Grund fanden die Arbeiter diese Bedingungen gar nicht mal so gut und mit der Zeit entstand eine ähnliche Arbeiterbewegung wie in Ruhrgebiet.


Ich habe mir Zeit genommen für eine Runde rund ums Hafenbecken, das gleichzeitig auch den Start des Ems-Jade-Kanals in Richtung Emden darstellt. Modernen Backsteinkästen, mehrfarbige Backsteinbürgersteige und grüne Deiche umzingeln das Becken.
Am anderen Ende überquerte ich die Kaiser-Wilhelm-Brücke. Das war mal die größte Drehbrücke Europas und ist immer noch das Wahrzeichen der Stadt. Auf Fotos sieht es ganz schön beeindruckend aus, wenn sich die zwei Brückensegmente zur Seite drehen. In der Realität konnte ich das nicht erleben. Einerseits schade, andererseits habe ich dadurch ordentlich Zeit gespart.

Für den Straßenverkehr des 21. Jahrhunderts ist das alte Stahlteil eigentlich zu schmal, weshalb Autofahrer die Brücke nur überqueren dürfen, wenn eine Bauampel (ohne Baustelle) grün zeigt.
Hinter der Drehbrücke geht der eigentliche Hafen los, inklusive Kriegsschiffe.

Auf der anderen Seite habe ich kurz nach dem Wattenmeer-Besucherzentrum gesucht. Es sollte da ein echtes Pottwal-Skelett geben, in das die Organe des Wals reinprojiziert werden. (Sind Pottwale typische Bewohner des Wattenmeeres? Wusste ich gar nicht.) Das klingt spannend, war aber wegen Umbau geschlossen.
Unten habe ich einen wunderbaren Rad- und Fußweg am Wasser entdeckt. Im Stadtgebiet musste ich noch einigen Fußgängern ausweichen, aber bald wurden das immer weniger.

Herrlich, so habe ich mir den Nordseeradweg vorgestellt!
In Wilhelmshaven schwammen drei mutige alte Damen im Meer. Ob ich das auch wagen sollte? Einige Kilometer hinter Stadt hielt ich an, um erstmal die Wassertemperatur zu prüfen. Dazu ging ich den befestigten Abhah...!
Ui, ganz schön rutschig. Es war gar nicht so einfach, die Hand ins Wasser zu tauchen, ohne gleich den restlichen Körper mit einzutauchen.
Prt! Was war das denn für ein Geräusch? Prt! Das waren diese Algen, oder? Immer wenn ich drauftrat Prt! platzte ein Luftbläschen in der Pflanze. Ein bisschen wie Prt! Springknollen im Wasser.
Ergebnis des Temperaturtests: Das Wasser ist nicht zu kalt, sondern inzwischen vor allem zu flach zum Schwimmen.

Die Nordsee wurde immer flacher und matschiger, und das lag nicht an den Gezeiten, sondern vor allem daran, dass ich nach Süden fuhr. Irgendwann begannen Salzwiesen auf dem Matsch zu wachsen und schließlich wird aus dem Meer Land. Die Küste knickt nach Westen ab, ich will mitknicken.

Aber wo? Oben auf dem Deich ist kein Weg - oder? Moment mal, da oben steht eine Bank, ich schau mal nach. Ist bestimmt auch eine schöne Aussicht, wenn ich mich da gemütlich hins... oh, es ist eine Schafstränke.
Angeblich sollten hier Schafe grasen. Der Schutz der schreckhaften Schäfchen ist ein Grund, warum ich nicht mehr außendeichs fahren durfte.  Ein anderer Grund ist, dass sich der Betonplattenweg immer mal wieder im Gras auflöst.
Die Schafe sind dermaßen schreckhaft, dass ich kein einziges gesehen habe. Es sei denn, die Schafe können Radfahren. Denn irgendwelche Radfahrer waren nicht so gehorsam wie ich und fuhren einfach trotzdem außen lang.

Dieser Teil des Nordseeradwegs wurde zum Skulpturenpfad aufgewertet. Die Statue des Opas mit der Schaufel soll daran erinnern, wie Demonstranten erfolgreich einen angemessenen Ausgleich von Naturschutz und Küstenschutz erreichten. Dabei bleibt offen, welcher Schutz ihrer Meinung nach weniger ernst genommen werden sollte.

Ein anderer Künstler schuf gleich sieben Skulpturen. Er hat irgendwie die sieben Schöpfungstage aus der Bibel mit den sieben Phasen des Deichbaus gleichgesetzt und in jedem Dorf ein davon inspiriertes, höchst abstraktes Gebilde zusammengematscht.

Irgendwann waren die Verbotsschilder zu Ende und ich wechselte zurück auf die Außenseite. Und ausgerechnet da waren auf einmal doch Schafe. Die waren aber nicht sehr schreckhaft. Direkt auf dem Radweg pennten zwei aneinandergekuschelte Lämmchen. Ich hielt größtmöglichen Abstand und... ja, sehr schön, die Unschuldslämmer schliefen weiter.

Es folgt das Nordseebad Dangast, an dem gleich mehrere Sachen bemerkenswert sind. Als erstes bemerkte ich eine Werbetafel: Heute schon gefischturmt? Das Alter der Fischbrötchen wird auf 30 Sekunden geschätzt.
Zack, schon war ich überzeugt und steuerte den Fischturm an. Gut, möglicherweise lag das nicht nur an der originellen Tafel, sondern auch an meinem Hunger. Wenige Minuten später biss ich in ein frisch gebackenes Backfischbrötchen und überlegte, ob ich jemals ein besseres Exemplar gegessen habe. Zu einem eindeutigen Ergebnis kam ich nicht, weil mich erstens der gute Geschmack und zweitens eine wahrhaft einzigartige Skulptur ablenkten.

Am Strand von Dangast ragt der Dangaster Phallus in die Höhe. Er sieht aus wie... ja, ganz genau das soll er darstellen, nur aus irgendeinem Grund rechteckig.
Der Phallus wurde dannundann vom Künstler soundso gestaltet, steht in meinem Reiseführer - aber nichts darüber, was der Künstler damit symbolisieren wollte oder warum er der Meinung war, dass dem Strand solch ein Kunstwerk guttun könnte. Nicht jugendfreie Kunst habe ich ja schon öfter gesehen, aber normalerweise denken sich die Künstler wenigstens irgendeine Begründung aus. Soll er vielleicht darauf hinweisen, dass hier ein FKK-Strand ist? Ist das überhaupt ein FKK-Strand? Wenn nicht, wäre das Kunstwerk noch absurder.
Weiter hinten steht ein weiteres Kunstwerk, ein riesiger Stuhl. Zum Fischbrötchenessen ist er nicht bequem genug.

Bemerkenswerte Sache Nummer drei wächst gleich hinter der Mauer am Strand in die Höhe: Ein Wald. Windflüchtern recken ihre dürren Äste in den Wind und bilden eine Mini-Version des Nienhager Gespensterwalds an der Ostsee. Der Wald ist echt klein, aber absolut einzigartig: Dies ist die einzige Stelle der Nordsee, an der ein richtiger Wald direkt ans Wattenmeer grenzt. Nur hier kann man Spechte durchs Watt fliegen sehen.

Der Fahrradverleih in Dangast hat sich vorwiegend auf sechsjährige Mädchen als Zielgruppe eingestellt. Warum sonst sollte eine Herde Fahrradrikscha-Einhörner vor dem Geschäft grasen?
Außerdem steht da ein Conference Bike, das ist die schmalere und seriösere Version eines Bierbikes, ohne Bier.

Zum Schluss bin ich vom Deich abgebogen und einem kuriosen kleinen Kanal gefolgt, der noch ganz oldschoolmäßig mit Brettern befestigt war. Das etwas heruntergekommene Becken verwandelte sich nach und nach in den Vareler Hafen. Er beherbergt die Keksfirma Bahlsen, die kleinste Kneipe Deutschlands und ein Ein-Mann-U-Boot.

Das beschauliche Varel hat eine spannende Geschichte. Friesische Häuptlinge hatten hier mal ihren Häuptsitz und waren häuptberuflich als Piraten tätig, obwohl das Meer damals total weit weg war (weil es den Jadebusen noch nicht gab).
Später versuchte der dänische König eine Festungsstadt nach dem Vorbild St. Petersburgs errichten. Die Bürger waren schon damals Großbauprojekten gegenüber eher skeptisch, weshalb es bei einer ungewöhnlich grauen Schlosskirche blieb.

09 November 2022

Nordsee: Von Esens nach Wilhelmshaven

Von Esens wollte ich auf dem kürzesten Weg zur Nordsee zurückkehren. Die Straße war weitgehend leer. Nachdem ich alle Häuser hinter mir gelassen hatte, ragten eigentlich bloß noch ein Funkmast und der Deich am Horizont in den Himmel. Alles andere war grün und platt. Am Ende der Straße habe ich erstmal versehentlich ein Privatgrundstück durchquert, um den Deich zu erreichen. Ein pflichtbewusster Hund wies mich lautstark auf die Eigentumsverhältnisse hin.

Der Nordseeküstenradweg verläuft häufig abseits der Küste im Binnenland, direkt am Meer gibts oft nur eine Variante. Und selbst die befindet sich hinterm Deich ohne Meerblick. Ein Wassergraben trennte den Radweg vom endlosen platten Grün und den Gehöften, die sporadisch darin wuchsen.

Schön und gut, diese Bauernhöfe sind ja ganz idyllisch, aber eigentlich wollte ich doch zur Nordsee. Ich hatte mir vorgestellt, den ganzen Tag am Meer zu radeln und langsam den Übergang von Flut zu Ebbe mitzuerleben. Diese Vorstellung wurde von der Realität weggespült.

Zielstrebig stiefelte ich durch den Deich hinauf, um zumindest einen Blick aufs Meer zu werfen. Der Deich bestand aus schlammigem Gras und grasigem Schlamm. Nach wenigen Schritten sah mein Schuh aus, als wäre ich schon am Meer gewesen und hätte spontan eine Wattwanderung eingelegt.

Das schlammige Gras auf dem Deich wird von schreckhaften Schlammschafen gemäht. Die müssen vor furchteinflößenden rasenden Radfahrern geschützt werden. Deshalb ist Radfahren verboten. Die hiesigen Schafe sind anscheinend viel sensibler als ihre Kollegen bei Norddeich, die mit Radfahrern praktisch auf Kuschelkurs gehen.

Nach einer Weile stieß ich doch auf einen Weg ohne Verbotsschild zur anderen Seite des Deichs und wagte einen Versuch. Die wenigen Schafe standen eh weit vom Weg entfernt. Das Asphalt war stark zum Wasser hin geneigt, wo die graue Nordsee lustlos auf ein paar Steine klatschte. Idyllischer Meeresstrand sieht anders aus. Komische Betonpickel und trockenes Gras erschwerten meinen Weg.

Irgendwann war der Weg vollständig vom Gras bedeckt und ich musste umkehren. Auch mein zweiter Versuch, am Meer zu radeln, blieb erfolglos. Okay, gut, ich habs ja verstanden, ich fahre innen am Deich. Meh, da hat mir der deutsche Ostseeradweg echt besser gefallen.

 

Na schön, immerhin kann ich in den Ortschaften einen Meerblick erhaschen. Das hier ist die Küste der Siele, alle Orte enden auf -siel. Neuharlingsiel begrüßte mich mit blauen Straßenlaternen und ein bisschen Strand. Trotz des Wetters kam minimales Urlaubsfeeling auf.

Ein kleines Mädchen grüßte mich im Vorbeifahren mit einem extrem langgezogenen "Mooooooiiiiiiin". Entweder litt es an einer Sprachstörung oder ich bin so schnell gefahren, dass ich eine temporale Verzerrung der Realität verursacht habe.

Neuharlingersiel hat ein Buddelschiffmuseum, das saisonbedingt oder coronabedingt oder vielleicht auch für immer und ewig geschlossen war oder an jemanden verkauft und neueröffnet wird, das Internet war diesbezüglich wie so oft äußerst widersprüchlich. Schade, insbesondere das 60-Liter-Flaschenschiff hätte ich mir gern angeschaut. Das einzige Buddelschiff des Museums, das ich gesehen habe, befand sich in diesem Bullauge hinter einer Straßenlaterne und wartete geduldig, was in Zukunft mit ihm geschehen würde.

Sternengucker und nächtliche Fotografen sollten hier in die Fähre steigen: Die Insel Spiekeroog hat sich auf solche Gestalten der Nacht spezialisiert, indem sie ihre Lichtverschmutzung extra niedrig hält. Leider ist sie voraussichtlich die erste, die durch den Klimawandel verschwinden wird.

Zu jeder Siel-Ortschaft gehört standardmäßig eine Art Kanal (die Sieltiefe) mit historischen Fischerhäusern und Segelschiffen. Auf dem Kanal steht ein Sperrwerk (das Siel).

Als ich zum nächsten Siel geradelt bin, habe ich Ostfriesland verlassen. Ich befand mich zwar geographisch gesehen noch auf der ostfriesischen Halbinsel, aber kulturell gehört das letzte Drittel der Halbinsel nicht zu Ostfriesland, sondern Wangerland, und wer etwas anderes sagt, könnte einen Ostfriesen oder Wangerländer eventuell schwer beleidigen. Klingt komisch, ist aber so.

Harlesiel ist deutlich kleiner, hier bin ich einfach fix über das Sperrwerk gesaust, das den Fluss Harle sperrt. Ein kleines, aber durchaus imposantes Bauwerk.


Naja, vielleicht sind meine Ansprüche auch einfach gesunken, weil bisher nicht so viel Interessantes zu sehen war. Was nicht daran lag, dass ich nicht danach gesucht habe. Nanu, was ist denn das auf dem Deich? Neugierig stapfte ich einen Betonweg in einer nicht enden wollenden Spirale hoch, und was erwartete mich oben - abgesehen von Schafen?

Eine formschöne Welle aus Beton, ein Kunstwerk halt. Sie steht in einer Kreis aus etwa fünfzig Infotafeln. Hm, okay, wow.


So langsam verstehe ich, warum die Hauptroute ganz woanders verläuft, nämlich weitab der Küste durch Jever. Aber immerhin eine tolle Stelle gab es dann doch noch auf dieser Strecke: Die nordwestliche Ecke der ostfriesischen Halbinsel in Schillig.
Die Wiesen am Strand waren zum Teil überflutet, und die Spazierwege hatten sich in kleine Kanäle verwandelt. Dieses grüne Wasserland hat mich ein bisschen an die Naturschutzgebiete von Fehmarn erinnert.
Nicht im Bild: Direkt hinter dem Deich befindet sich ein recht modernes Hotel, eine kleine Brücke befördert die Gäste über die Straße direkt auf den Deich.

Schillig sieht zwar nicht chilliger, aber deutlich moderner aus als die ganzen Siel-Dörfer. Der dürre Leuchtturm erstrahlt in sprödem Beige, und davor ragt eine bizarre schwarze Parabel in die Höhe. Offensichtlich hat der Sauron beschlossen, auf seine alten Tage ein Strandhotel zu eröffnen und sich architektonisch nicht nur an seinem Dunklen Turm, sondern auch am Warnemünder Teepott orientiert.


Es folgen noch zwei Siele: Horumersiel besteht aus adretten Handelshäusern und einem hölzernen Aussichtsturm. Der war weder corona- noch saisonbedingt geschlossen, vielmehr ist irgendjemandem aufgefallen, dass dieser Turm baurechtlich gar nicht erlaubt ist.

Ab jetzt umrunde ich den Jadebusen. In dieser Bucht darf ich endlich ganz offiziell ans Wasser beziehungsweise an den Schlamm, wenn gerade Ebbe ist.
Hätte ich diese Radtour vor Jahrhunderten gemacht, könnte ich von hier aus geradeaus zur Weser radeln, aber seitdem haben ein paar Sturmfluten die Bucht namens Jadebusen geschaffen.

Am historischen Sielhafen von Hooksiel habe ich mir ausnahmsweise Mühe gegeben, ein kreatives Foto zu schießen. (Sorry, wird nie wieder vorkommen.) Das Boot im Vordergrund ist bloß Blech-Deko auf einer Mauer. Im Hintergrund liegt unter anderem das Mudderboot, das bis 1956 den Hafen von Schlamm befreite.

Wegen der Hafenanlagen von Wilhelmshaven durfte ich auf den letzten Kilometern nicht mehr ans Meer. Stattdessen bin ich im Zickzack in die Stadt und zugleich in die Nacht hineingeradelt. Weil mich der Wetterbericht dreist über die Windrichtung angelogen hatte, war ich spät dran und ziemlich erschöpft. Eigentlich wollte ich noch weiter nach Varel, aber daraus wurde nichts.
Na schön, dachte ich, dann lege ich nach diesem windigen, kalten Nordseetag zumindest noch einen Stopp in der Therme ein. Kurz darauf sah ich, dass die Warteschlange vor dem Schwimmbad fast bis nach Oldenburg reichte. Seufz, na schön, dann nehme ich halt doch den früheren Zug. Heute läuft es wohl einfach nicht.

Bisher hatte ich über Wilhelmshaven nicht viel Schmeichelhaftes gehört, aber die Einfahrt in die Stadt hat mich positiv überrascht. Okay, da waren viele Hauptstraßen, aber auch jede Menge Parks mit Spielplätzen, einer Windmühle und... huch, wo kommt den plötzlich dieser dicke Burgturm her?

Je näher ich dem Stadtzentrum kam, desto mehr weiße Villen ploppten links und rechts vom Park auf. Besteht die Stadt etwa aus diesen Dingern?

Nein, die Innenstadt selbst war dann doch nichts Besonderes. Okay, wo ist jetzt der Bahnhof? Der müsste doch eigentlich direkt hier sein, oder? Ist es das Haus da? Nein, da stehen nur die Namen von irgendwelchen Geschäften dran.

Um es kurz zu machen: Es war doch dieses Haus. Die Wilhelmshavener haben ihren Bahnhof in einer Shoppingpassage versteckt. Ich musste mein Rad mitten durch die Mall schieben (was eigentlich verboten war), um das Geheimgleis zu erreichen.
Was für eine komische Stadt.