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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

04 August 2021

Hunte: Von Lemförde nach Melle

Der Dinosaurier im Schlamm

Donnerstagvormittag. Stehe am Bahnhof Lemförde und starre mürrisch auf eine Treppe. Die Treppe starrt mürrisch zurück, also quasi. Bei Treppen lässt sich das ja nur schwer ein Gesichtsausdruck erkennen. Muss ich das Rad da jetzt wirklich runterschleppen? Natürlich muss ich, was frage ich auch so blöd.

Als ich den ersten Treppenabsatz erreiche, tut sich plötzlich eine Öffnung in der Mauer auf. Anders kann ich es nicht beschreiben. Der Bahnhof hat also doch einen Hintereingang! Und zwar den kleinsten und unauffälligsten Hintereingang, den je ein Bahnhof hatte. Das Mauseloch unter den Bahnhofseingängen. Wer den wohl benutzt? Wahrscheinlich ausschließlich Feldmäuse: Als ich zögerlich durch die magische Mauer trete, stehe ich nicht in der Winkelgasse, sondern auf einem niedersächsischen Acker. Ein Feldweg windet sich um einen Busch und verschwindet ins Ungewisse. Bin ich hier richtig? Gucke aufs Handy: Ja, das Mauseloch geht genau in die Richtung, wo ich sowieso hinwollte. Das magische Mauseloch hat mich vorm Treppenschleppen gerettet.

Und ermöglicht mir, direkt in die erste Sehenswürdigkeit zu holpern. Das Ochsenmoor wird bis in den Spätsommer hinein über ein Grabensystem gestaut und bietet ein Mosaik aus Wasser- und unterschiedlich stark bewachsenen Schlammflächen. Na gut, ob so ein Mosaik  wirklich so sehenswürdig ist wie die antiken Mosaike in den Ruinen von Pompeji, darüber kann man sicher streiten. Zumindest die Karte vom Hunteradweg hat es ganz unten am Rand noch als Sehenswürdigkeit markiert. Hunderte von Wasser- und Watvögeln machen auf dem Weg nach Skandinavien Halt, um Nahrung aufzunehmen... ach so, also im Prinzip wie beim Dümmer See nebenan, die Vogelraststätte hat quasi einen Anbau.

Wenn die Karte zu Ende ist, was mache ich hier eigentlich? Gute Frage, denke ich, während das nächste Mosaiksteinchen an mir vorbeizieht, das immer noch mehr nach Acker als nach Moor aussieht. Auf der App mapy.cz habe ich entdeckt, dass die Hunte doch noch eine richtige Quelle hat und dass irgendwelche Radwege da hinführen, oder zumindest in die Nähe. Nicht der Hunteradweg, sondern irgendwelche anderen: Der Brückenradweg Bremen-Osnabrück, die Seen-Tour, die Dümmer-Moortour und, vielleicht Deutschlands bescheidenster Fahrradweg, die Gute Route.

Denke mir: Tja, Brücken, Moor und Seen, viel mehr ist hier auch nicht, oder? Doch, ein Fluss! Bin überrascht, wie breit die Hunte immer noch ist. Kein Wunder, dass sie früher mal zur Grenze zwischen den Bistümern Osnabrück und Minden bestimmt wurde. Fahre auf einer Brücke rüber und entdeckte einen super Kiesweg direkt am Wasser.
Einen Wanderweg.
Aber ohne einen einzigen Wanderer.
Hm.
Kann ich da nicht einfach...?
Noch vor ein paar Jahren wäre ich da wahrscheinlich raufgefahren. Aber plötzlich blitzen vor meinen Augen unzählige Internet-Kommentare auf, in denen wütende Menschen Radfahrern, die sich ja praktisch nie an die Regeln halten, die Pest an den Hals wünschen. Ich denke an Berlin, wo gerade alle neuen Radwege gecancelt wurden. Wenn da jetzt doch einer wandert und meinetwegen auch so was schreibt? Ui. Eigentlich wollte ich nur eine Runde fahren, und auf einmal lastet das Schicksal des Planeten auf meinem Gepäckträger, also quasi. Es wird ja durchaus öfter darauf hingewiesen, dass das Lesen von Kommentarspalten ungesund sein kann. Aber dass es zu chronischen Umwegen führt, wurde mir bisher verschwiegen.

Drehe also eine Runde durch die Dörfer und entdecke einen Friedhof. Deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegen hier friedlich neben Zwangsarbeitern aus Osteuropa aus dem Weltkrieg Nummer 2. Pro Person ein winziges Steinklötzchen, das nichts darüber verrät, aus welchem Land der Mensch darunter stammt und ob er Täter, Opfer oder beides war. Mal eine andere Art des Gedenkens.

Gibt es hier auch größere Orte? Naja. Es gibt Bohmte. Fahre auf der Straße mitten durch weiße Wände.  Sehe eine Tafel, auf der steht: Verkehrsraum ist auch Menschenraum. Ach? Für mich sieht diese Innenstadt eher aus wie der Warteraum einer Arztpraxis. Was vielleicht auch zum Altersdurchschnitt passt.
Entdecke das einzige historische Fachwerkhaus. Über der Tür prangt das Baujahr 1813, vermutlich die Zeit, als Bohmte boomte. Daneben ein rätselhaftes Schriftzeichen, das aussieht, als stamme es von Außerirdischen. Vermutlich ein galaktisches Pfändungssiegel der Cyanen. Irgendwer hat eine durchsichtige Tafel an das Wohn- und Wirtschaftsgebäude geschraubt, die ein bisschen aus dem architektonischen Nähkästchen plaudert. Es sind keine außerirdischen Schriftzeichen zu erkennen, also wird dieser Text wohl verständlicher sein. Gehe näher ran und lese folgenden Satz:
Linke Giebelseite abgewalmt über Schwerbalkenüberstand vorkragend.
Denke mir: Nee, komm. Die Wörter habt ihr euch doch jetzt ausgedacht.
Will die abgewalmte Bude trotzdem fotografieren. Hole das Handy heraus und drücke auf den Auslöser.
In genau dieser Millisekunde geht die Tür auf. Eine Frau starrt mich an.
Ihr Blick ist nicht freundlich. Nicht im engeren Sinne. Also genau genommen schaut sie so, als würde soeben ein cyanischer Außerirdischer vor ihr Haus pinkeln.
Drehe mich um, sehe jedoch keinerlei Anzeichen von extraterrestrischem Urin.

Fahre dann eine Weile am Mittellandkanal lang. Sehe zuerst einen Hafen mit Kränen und rostigen Metallwürsten. Dann wird der Kanal komplett grün. Dann kommt wieder ein Gewerbegebiet. Nicht nur die Wasserstraße, auch das Wetter zeigt sich komplett unentschlossen.

Hinter den Häusern ragt schon das Wiehengebirge in die Höhe, fahre hier nämlich ziemlich genau an der Mittelgebirgsschwelle.

Komme vorbei an Bad Essen. Natürlich nicht das Essen im Ruhrgebiet, obwohl auch dieses Essen hier Industrie und Kanäle hat. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen Bad Essen und Essen. Aber nicht, wie der Name vermuten lässt, dass man in Bad Essen besser baden kann. Wer im Mittellandkanal schwimmen will, sollte entweder sehr schnell schwimmen oder sehr lange und tief tauchen können: Alle paar Minuten tuckert ein Lastschiff über ihn drüber.

Rase durch Schlammpfützen, setze mich auf eine Parkbank und verspeise eine Dose Fisch. Jetzt wo ich darüber nachdenke: Ein Bad wäre schon nicht die schlechteste Idee.
Die Hunte fließt eine Weile neben dem Mittellandkanal her, merkt dann aber doch, dass sie so nicht weiterkommt und kriecht in zwei Röhren unten durch. Ein Teil der Hunte landet aber auch direkt im Kanal. Da hab ich noch nie so richtig drüber nachgedacht, aber: So ein künstlicher Fluss muss sein Wasser ja auch irgendwo hinbekommen.

Komme dann Burg Wittlage vorbei. Naja, wobei, Burg klingt jetzt vielleicht bisschen übertrieben. Das einzige, was halbwegs an eine Burg erinnert, sind das Tor und der graue Turm, der Rest sieht eher nach Landgasthof aus. Ein Osnabrücker hat die Burg bauen lassen, aber keiner hat sich in den nächsten Jahrhunderten die Mühe gemacht, die Mauern auf den aktuellen Stand zu bringen. Kein Wunder, dass die Dänen sie im Dreißigjährigen Krieg direkt erobert haben. Die haben sich aber auch nicht die Mühe gemacht, die Verteidigungsanlagen zu aktualisieren. Kein Wunder, dass sie sich bloß zwei Jahre auf der Burg halten konnten. Die Schweden dagegen bauten sie zur Festung aus und blieben ganze 27 Jahre bis zwei Jahre nach Kriegsende. Wie sagte schon Gorbatschow: Wer nicht rechtzeitig alle Updates installiert, den bestraft das Leben.
Fahre mittlerweile auf dem Diva-Radweg. Denke, huch, worauf muss ich mich hier gefasst machen? DiVa steht aber bloß für Dino-Varus-Tour. Heißt aber nicht, dass ich mich auf nichts gefasst machen muss: Eine Baustelle hat die Straße komplett aufgewühlt und zwingt mich zum nächsten Umweg. Wie kommen die Leute bloß durch diese wilde Wüste zu ihren Häusern?
Überall in Wittlage glotzen mich Holzmasken an. Die meisten in ödem Braun, eine mit bunten Streifen. Glotze zurück. Finde aber nicht heraus, was die hölzernen Diven wollen.

Fahre die Straße runter. Die Hunte ist jetzt doch ein ganzes Stück schmaler geworden, Pflanzen verdecken das moosgrüne Wasser. Eine einsame Kuh mampft das Gras. Das Wiehengebirge rückt immer näher. In Barkhausen entdeckt das Flüsschen eine Lücke in den Bergen und schlüpft sofort rein. Äh, ich meine natürlich raus. Ich bin es, der reinschlüpft. Und dabei kurz vergisst, dass ich ja immer noch gegen den Strom fahre.


Die Waldwände rücken immer näher und ragen steil hoch. Keine Felswände, sondern bloß steile Erde - die Klippen des kleinen Mannes. Die Porta Westfalica nebenan bei der Weser war schon irgendwie spannender. Ein hölzerner Dinosaurier starrt deprimiert die nasse Straße an.

Fahre über die Hunte und überlege, wo es jetzt weitergeht. Im nächsten Moment reißt der Himmel auf und es fällt Wasser runter. Jede Menge Wasser. Renne zur Schutzhütte, aber die ist schon proppenvoll mit Wanderern. Na prima. Fahren will ich in dem Wetter nicht, also wenn ich hier schon im Regen stehen muss, dann doch wenigstens irgendwo, wo's interessant ist. Als hätte der Wegweiser meine Gedanken gelesen, steht da plötzlich folgendes drauf: Saurierfährten. Perfekt! Also wenn mich Dinosaurier nicht davon ablenken können, wie patschnass ich bin, dann schafft es niemand.

Gehe den Pfad ein paar Meter hoch und finde mich in einer kleinen, ganz versteckten Kuhle in den Hügeln wieder. Bunte, lebensechte Dinosaurier aus Plastik starren mir entgegen. In dieses Loch in den Bergen hat irgendwer ein Glasdach eingebaut, das mich komischerweise an den Einstieg zum Big Loop im Heidepark erinnert. Entdecke aber keine alte Achterbahn, sondern eine schräge Felswand, in der komische schlammige... Abdrücke klaffen.
Die Dinger sind halb so lang wie ich und viel, viel auffälliger, als ich es bei Millionen Jahre alten Fußspuren erwartet hätte. Aber dass diese schlammigen Muster ausgerechnet Fußspuren von Dinos sind, darauf wäre ich jetzt nicht unbedingt von allein gekommen. Ist aber auch besser so, Paläontologen brauchen ja auch bezahlte Arbeitsplätze. Mache mir etwas Sorgen, dass der Regen irgendwie am Glasdach vorbeikommen und die Spuren wegspülen könnte. Ist das da wirklich eine feste Felswand? Es sieht einfach aus wie stinknormaler Matsch.

Wie sind die Dinos überhaupt so steil hochgewandert? Sind sie nicht. Vor 165 Millionen Jahren war hier alles flach. Und, auch wenn das im Moment schwer zu glauben ist, noch nasser. Und, was für mich gerade deutlich leichter zu glauben ist, es war wärmer. Damals trieb diese Erdplatte in der Nähe des Äquators rum. Die Texte beschreiben das ganz anschaulich: Sie stehen bis zum Bauchnabel im Wasser in einem tropischen Meer. Denke, hm, das wär mir im Moment tatsächlich lieber, glaub ich. Es ist drückend schwül und auch das Wasser ist warm. Trotzdem.
Dass hier ein Meer war, erkennt man am roten Tongestein - die Erde ist damals quasi verrostet. Das einzige, was damals wie heute gleich ist, sind die Nadelbäume im Wald. Auch wenn sie damals neben Palmen standen.
Eine Herde mit neun Pflanzenfressern stapft auf allen Vieren vorbei und hält auf die Insel zu. Sie wissen nicht, dass Menschen ihnen in Zukunft den befremdlichen Namen Elephantoides barkhausensis verpassen werden - weil ihre Spuren wie Elefanten aussehen und hier bei Barkhausen zum ersten Mal irgendwas von dieser Dino-Art gefunden wurde. Einen besseren Namen haben die Fleischfresser von Barkhausen abgekriegt: Megalosaurus teutonicus, Deutscher Megasaurier, das könnte man doch fast schon als Namen für einen Rapper nehmen. Dieser räuberische Einzelgänger läuft auf zwei Beinen. Und er hat scharfe Zähne, Vorsicht! Gut, dass sein Magen voll ist. Ach, konnten die Wissenschaftler das auch irgendwie aus den Fußabdrücken rauslesen? Oder haben sie das bloß auf die Tafel geschrieben, weil es sich besser macht als: Und er hat scharfe Zähne, die blitzschnell zupacken, dich zerfleischen und deine Überreste über die Saurierfährten verteilen.

Der Regen hat aufgehört. Radle nun weiter über kleine Straßen durch irgendwelche Dörfer. Also eigentlich wie vorher, aber eigentlich doch nicht, denn: Jetzt ist es hügelig. Und: Die Hunte ist kein Fluss mehr, sondern bloß ein Bächlein, das sich immer weiter aufspaltet, im Prinzip bloß eine Linie Bäume in der Ferne, ach nee, das ist der Wittelsbach, wo ist die Hunte denn? Ah, jetzt sieht man sie wieder ganz hinten. Biege ständig falsch ab und komme irgendwann verschwitzt am Waldrand an. Hier taucht die Hunte endgültig ins Gehölz ein. Die Frage ist: Mache ich das auch? Entweder folge ich dem Waldweg, der definitiv nicht als fahrradtauglich eingezeichnet ist. Oder ich mache einen Riesenumweg und versuche irgendwie, von der anderen Seite zur Quelle vorzustoßen. Nee, wenn ich es so formuliere, klingt die zweite Variante auch nicht so berauschend.

Nehme also den Waldweg, fahre entschlossen drauflos... und bleibe stehen.
Was ist denn jetzt los?
Der Matsch ist los. Und zwar überall. Manövriere das Rad durch tiefe Pfützen. Anfangs versuche ich noch, Stellen zu finden, wo ich durchfahren kann statt zu schieben. Doch der Schlamm schraubt meine Ansprüche drastisch herunter: Bald suche ich bloß noch Stellen, wo das Wasser nicht über den Rand meiner Schuhe läuft. Mit Erfolg. Also meistens.

Immerhin: Nach einer Weile kann ich die Hunte richtig sehen. Der Bach zieht sich zielstrebig durch sein Tälchen im Mischwald. Hier gibt es keine Nebenbäche mehr, keine Verzweigungen und auch keine Diskussion, welcher Bach die richtige Quelle ist - nur noch die eine Hunte, die schnurstracks ihren Anfang ansteuert. Wenn ich den doch auch nur so schnurstracks ansteuern könnte!

Aber ich schaffe es. 170 Meter über dem Meeresspiegel weist ein Schild auf die Huntequelle hin. Das ist gut, denn sonst hätte ich sie komplett übersehen. Garantiert. Also genau genommen übersehe ich sie sogar mit dem Schild. Erkenne nämlich absolut nichts Quellenartiges, schon gar kein Loch, aus dem Wasser kommt. Nennt mich einen Nörgler, aber irgendwie so was in der Art erwarte ich schon von einer Quelle. Da ist einfach ein Bachbett voller Blätter, inzwischen so gut wie trocken. Sickert das Wasser unter den Blättern raus? In so kleinen Mengen, dass man nichts sieht?

Oder kommt die echte Quelle doch noch? Folge dem Bachbett über die letzten Meter, bis es in einer Sackgasse aufhört. Fühle mich etwas überrumpelt von diesem Ende. Aber gut, genau deswegen endet der Hunteradweg ja auch schon am Dümmer.

Noch ein paar hundert Matschmeter, dann entkomme ich endlich auf eine richtige Straße. Fahre das Wiehengebirge runter und genieße dabei immerhin noch die beste Aussicht des Tages.


Biege dann unten ab zum Bahnhof Melle-Westerhausen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals entspringt schon die Hase. Meine schlammige Hose flattert im Fahrtwind.
Hoffentlich lassen die mich so in die Bahn.

02 August 2021

Hunte: Von Wildeshausen nach Lemförde

Dumm, Dümmer, am dümmsten oder: Was der deutsche Nahverkehr mit russischen Puppen zu tun hat

Dienstagmorgen. Ich erwache. Brauche einen Moment, um herauszufinden, wo ich bin. Liege offenbar im Wald. Über mir verblassen die letzten Sterne zwischen den Zweigen. Bin entzückt, aber auch verwirrt. Erinnere mich vage. Habe gestern versucht, anhand der letzten Sonnenstrahlen auf der ausgehängten Landkarte zu erkennen, wo die Naturschutzgebiete enden, wo ich also einigermaßen legal im Wald schlafen darf. Der letzte Zug war schon weg. Da war auf der einen Straßenseite das Naturschutzgebiet Pestruper Gräberfeld und auf der anderen Seite das Naturschutzgebiet Rosengarten. Keine Ahnung, wieso das so heißt. Es ist halt einfach ein dichter Wald.

Stehe auf und gehe ein paar Schritte. Treffe auf eine Bundesstraße mit Radweg. Esse Frühstück in einer Bushaltestelle und entscheide dann, der Straße zu folgen. Kürze mir dadurch viele Kilometer ab. Komme an 500 Bäumen vorbei. Die wurden als Ersatz für ihre älteren Kollegen gepflanzt, die eine Windhose 2017 abrasiert hat.


In Goldenstedt überspannt ein Kunstwerk die Hunte. Es besteht aus gebogenen bunten Stangen, an denen Seile mit Goldmünzen dran baumeln. Die Goldmünzen konnte ich kaum erkennen, vielleicht wurden sie auch geklaut. Das Kunstwerk heißt Goldregen, es bezieht sich auf die Märchen und Sagen, die sagen, dass ein Schatz am Ende des Regenbogens liegt (obwohl der bei diesem Kunstwerk ja gar nicht am Ende liegt, sondern aus der Mitte rausregnet, aber das ist vielleicht auch Haarspalterei).
Im Prinzip also ein ganz harmloses Thema. Eigentlich. Aber wie wir diesen Sommer gelernt haben, ist so ein Regenbogen alles andere als harmlos, sondern ein brandgefährliches politisches Statement. Hätte man diese Brücke über die Donau genau neben die ungarische Grenze gebaut, dann hätte sie wahrscheinlich eine außenpolitische Krise ausgelöst und wäre europaweit in den Schlagzeilen gelandet. Aber sie überquert nun mal die Hunte, und dieser Fluss passiert gar keine Grenze (nicht einmal zwischen zwei Bundesländern).
Dennoch lassen die aktuellen Ereignisse eine neue Interpretation des Kunstwerks zu: Wenn in Ungarn demnächst solche Regenbogenbrücken verboten sind, könnte dadurch auch der Goldregen der EU ausbleiben.


Mir fällt etwas auf. Eigentlich sollte aus meiner Tasche ein Laptop ragen. Den habe ich mitgenommen, um in der Bahn ein bisschen zu schreiben. Sehe nun: Er ragt nicht mehr aus der Tasche. Fluche. Durchwühle die Tasche. Fluche. Kehre sofort um und fahre fluchend 20 Kilometer zurück. Komme zu dem Schluss, dass der Laptop vermutlich an der Bushaltestelle Pedestrup liegt, wo ich gefrühstückt habe. Halte unterwegs zwei Busse an und frage sie, ob jemand einen Laptop aufgesammelt hat. Beide entgegnen, sie würden da gar nicht langfahren. Einer kennt nicht mal das Dorf. Wundere mich, dass die Busfahrer sich so wenig in der Gegend auskennen. Stelle später fest, dass es daran lag, dass ich mir den Namen falsch gemerkt hatte. Das Dorf hieß Pestrup, Pedestrup liegt in Dänemark. Fluche. Erreiche die Haltestelle. Nichts. Fluche. Fahre weiter zum Schlafplatz und durchwühle den Wald. Fluche. Gucke nach, ob ich die 20 Kilometer sinnlosen Rückweg irgendwie sinnvoll per Bahn überspringen kann. Fluche. Fahre die 20 Kilometer zum Dritten mal. Beruhige mich umgehend und setze die Tour fort, weil, hilft ja nix.

Esse in Barnstorf erstmal einen Eisbecher für meine Nerven. Gegenüber steht eine Wassermühle. Die sieht zwar ganz schick aus, erscheint in dieser Region aber seltsam deplatziert. Der Schein trügt nicht: SCHWARZWALD Wassermühle verkünden die Buchstaben auf der Gartenmauer. Die hat sich aber ganz schön weit in den Norden verirrt.


Im nächsten Dorf wächst eine Hecke. Sie ist sehr lang, extrem breit und irrsinnig hoch. Frage mich, ob das wirklich nur eine Hecke ist oder was genau da von den Kriechpflanzen versteckt wird. Vielleicht will ich das auch gar nicht so genau wissen. Will es dann aber doch wissen und gucke um die Ecke. Sehe verschiedene Fahrzeuge. Kann nicht erkennen, ob die einfach ganz dicht an der Hecke dranstehen oder halb in die Hecke geparkt sind, als offene Halbheckengarage quasi.

Die letzte große Stadt auf dieser Reise ist Diepholz. Das sieht etwas größer und moderner aus als Wildeshausen, dafür ist weniger los. Naja, ist ja auch Dienstagmittag. Ein Flussarm namens Lohme fließt hier mit der Hunte zusammen, von dem zweigt der Schlossgraben ab.


Diepholz ist stolz auf sein Schloss und kümmert sich liebevoll darum, behauptet eine Tafel. Angeblich ist da ein Museum drin und man kann sogar den Turm besteigen. Entdecke jedoch nur den Eingang zum Amtsgericht und zum Grundbuchamt. Finde Diepholz jetzt aber nicht so toll, dass ich mir da gleich ein Grundstück kaufen will.


Ist auch nicht weiter schlimm, denn im Schlosspark steht auch schon so eine Art Gratismuseum. Sprich: Da stehen Vitrinen mit kleinen Bildern und viel Text. Ein Text erzählt die Geschichte der Grafen von Diepholz. Im Großen und Ganzen lässt sich das folgendermaßen zusammenfassen: Die haben sich überall in Niedersachsen und woanders eingeheiratet, mit adligen Frauen aus Hoya, Oldenburg, Waldeck, Sternberg, den Königen von Schweden... die meisten dieser Orte kenne ich sogar.

Hier startet ein Skulpturenpfad. Den Anfang bildet eine Vitrine mit Tonfiguren. Die wurden von Schulkindern aus afrikanischem Lehm geknetet. Bei einigen lässt sich eine ungefähre Tierart erahnen. Andere Kinder sind künstlerisch schon weiter entwickelt: Bei ihnen erkenne ich genau so wenig wie bei den erwachsenen Künstlern weiter unten am Skulpturenpfad.

Macht ja nichts, zum Glück wird alles erklärt: In der temporären Skulptur Raumschwingen drückt sich das Ambivalente des Seins dadurch aus, dass zum einen in der Lebenskraft der Raumschwingen der Wunsch sich zeigt, die Räume der Zeitgebundenheit zu überwinden, zum anderen aber die Quelle und damit der Ursprung dieser Lebenskraft an die Ebene des Materiellen gebunden ist.
Joa, ach, da wär ich wahrscheinlich auch selber drauf gekommen.

Das hier ist zufällig die Gegend, wo der Schriftsteller Horst Evers seine Kindheit verbracht hat, bis er irgendwann nach Berlin gezogen ist. Wandle nun auf den Spuren dieses großen deutschen Dichters.

Denke mir, hm. War das wirklich so eine gute Idee, diesen Blogeintrag im Stil von Horst Evers zu schreiben? Andererseits weiß ich eh nicht, ob man da so einen großen Unterschied bemerkt. Immerhin schaffe ich es eh nicht, seinen Stil so hundertprozentig zu treffen, und außerdem hat mich sein Humor schon länger beeinflusst. Glaube ich. Zum Beispiel bekomme ich oft zu hören, dass ich das Wort quasi ja quasi genauso oft benutze wie Horst Evers, also quasi.


In seinem neusten Buch schreibt er über den Dümmer See. Von wegen, dass in seiner Kindheit immer alle Leute sehr skeptisch angeschaut wurden, die freiwillig hierher reisen. Und dass sogar der Bürgermeister mal gesagt hat, dass hier bloß Leute Urlaub machen, für die richtiger Urlaub zu weit oder zu aufregend ist. Dieser Text hält die Leute aber nicht davon ab, trotzdem hier Urlaub zu machen. Am Ufer erhebt sich eine Reihe sauberer Strände, moderner Hotels, Segelboote, Bootsclubs und Restaurants, erst dahinter geht das normale Dorf los.
Beschließe am erstbesten Strand, eine Runde zu schwimmen. Das Wasser ist warm und flach. Ich wate und warte, das Seil kommt immer näher, dahinter darf ich nicht weiter. Schaffe es gerade so, vor der Absperrung vernünftig zu schwimmen, ohne ständig gegen den Boden zu stoßen.
Bin der einzige im Wasser und der fast der einzige am Strand. 100 Meter entfernt sitzt ein alter Mann auf einer Bank und beobachtet mich skeptisch. Horst Evers hatte mal wieder Recht. Fühle mich etwas unbehaglich und beschließe spontan, lieber in Badehose und T-Shirt weiterzuradeln, statt mich hier nochmal umzuziehen.
Die Hunte fließt durch den Dümmer See durch, auch die Lohme aus Diepholz kommt aus dem See rausflossen und sprudelt über eine Fischtreppe. Bin nicht sicher, welchen Höhenunterschied die Fische auf dieser Treppe überwinden sollen. Es ist alles flach und ich sehe weit und breit keine Schleuse.


Überall heißt es, der Hunteradweg führt Von Elsfelth bis zum Dümmer. Das ist irgendwie komisch, denn der Dümmer ist ein See und keine Ortschaft. Die Karte zeigt noch ein kleines Stückchen vom See und lässt die rote Linie einfach kurz vor dem Wasser abbrechen. Will die letzten Meter geradeaus bis zum Ufer fahren und lande prompt auf einem Privatgrundstück.
Wahrscheinlich soll das darüber hinwegtäuschen, dass es eben keine richtige Stadt mit Bahnhof direkt am Dümmer gibt, die sich als Schlusspunkt eignet. Finde nur lauter kleine Orte, die meistens mit Lem- beginnen: Lembruch, Lemwerder und Lemförde. Letzteres liegt noch ein Stück weiter südlich und hat dann auch einen Bahnhof, ist aber auf der Karte nicht mehr drauf.
Habe auf der letzten Radtour zum Glück eine Broschüre mit einer kompletten Karte vom Dümmer gefunden. Ein 18-Kilometer-Radweg führt um den See. Normalerweise würde ich da einmal komplett rumfahren, aber dann müsste ich ja eine Seite doppelt fahren, weil ich von Norden komme und nach Süden zum Bahnhof will. Fahre deshalb nur am Ostufer. Im Westen verläuft der Radweg sowieso an der Straße. Im Osten dagegen kann ich auf einem roten Kiesweg am See fahren. Muss dazu allerdings ständig Fußgänger und Graugänse aus dem Weg klingeln.

Durchquere das Naturschutzgebiet Hohe Sieben. Das ist ein seltsamer Name für einen Sumpf. Betrete einen Steg und wandere durch das Schilf. Beobachte eine Entenmutter mit ihren Küken. Normalerweise sieht man die im Stadtpark, wie sie brav in einer Reihe hinter der Mama herschwimmen. Hier sehe ich die aber quasi in ihrem privaten Bereich, und da geht es alles andere als ordentlich zu. Die Küken schwimmen wild durcheinander durch ihr unaufgeräumtes (und überflutetes) Kinderzimmer. Ich versuche, alle zu zählen, aber ich gerate ständig durcheinander. Baumstümpfe, Grasbüschel, Äste und Entengrütze... Moment, was ist das für ein blaues Vogelküken? Das ist ja gar keine Stockente, sondern noch eine andere Art. Wahrscheinlich ist die gerade zum Spielenachmittag da.

Ich bin ja generell kein Fan der Idee, Wörter klein zu schreiben, die eigentlich groß geschrieben werden, nur weil das irgendwie modern und stylisch aussieht. Aber wenn man das bei dem Wort Dümmer macht, dann wirkt diese Idee gleich noch viel dümmer.

Der See wird manchmal einfach Dümmer genannt und manchmal Dümmer See. Überlege, welche Bezeichnung die Einheimischen wohl in Wahrheit benutzen. Will mich ja nicht gleich als Tourist outen. Andererseits - will ich mich etwa als Einheimischer aus dieser Region ausgeben? Frage mich, was wohl peinlicher ist - freiwillig hierhin zu reisen oder freiwillig hier zu leben.

Komme zu dem Schluss: Eigentlich keins von beidem. Der Dümmer ist doch super! Superflach, superweit, supergrün, ganz ähnlich wie das Steinhuder Meer. Und super übervögelt. Aber hallo! Hier sind viele Vögel unterwegs. Das bedeutet zwangsläufig, dass in regelmäßigen Abständen so ein hölzerner Aussichtsturm stehen muss, wo man anhand der Bilder auf einer vergilbten Plastiktafel die einzelnen Vogelarten identifizieren kann. Also rein theoretisch. (Auf meinen Reisen ist mir das bisher nur zweimal gelungen.). Im Norden steht der Nordturm, im Osten der Ostturm, im Süden der Südturm und im Westen war ich ja wie gesagt nicht, aber ich vermute mal ganz stark, da steht der Westturm. Einer der Aussichtspunkte hat komische Plastikscheiben mit Löchern, die man über die Fenster schieben kann. Keine Ahnung, was das bringen soll. Ist ja nicht so, dass die Vögel dadurch besser vor dem Lärm der Leute geschützt sind, wenn die Leute das Fenster nach Belieben öffnen oder schließen können und rundherum sowieso alles offen ist.

1860 wurde ernsthaft geplant, den Dümmer trockenzulegen. Weil dann ja viel mehr Platz für die Landwirtschaft und die vielen Menschen ist. Wurde zum Glück nicht umgesetzt. Wenn Niedersachsen etwas nicht braucht, dann sind es noch mehr flache Felder.

Der Hunteradweg ist jetzt zu Ende, der Fluss aber noch nicht ganz. Die Hunte muss schließlich noch zu ihrer Quelle im Wiehengebirge am Teutoburger Wald. Denke, gut, ist mir aber egal, wenn es da überhaupt keine Radroute gibt. Stelle erst ein Jahr später fest: Es gibt doch eine, und hole den Abschnitt nach.

Epilog

Am Bahnhof Lemförde hat jemand drei weise Ratschläge auf die Wand geschrieben: Stay in drugs. Eat your school. Don't do vegetables. Immerhin: Den dritten habe ich in meiner Kindheit konsequent befolgt.
Fahre über Osnabrück bis zur Zigarrenstadt Bünde und erfahre dort, dass mein Anschlusszug ausfällt und ich eine Stunde warten muss. An sich eine ganz normale Information für einen Bahnfahrer. Wo man sich schon denkt: Das ist jetzt nicht sonderlich originell. Den haben sie schon oft gebracht, da hätten sie sich ruhig was Neues ausdenken können.
Die Bahn-App scannt offenbar automatisch meine Gedanken und denkt sich gleich etwas Originelleres aus: Bei dem Zug in einer Stunde entfällt dessen Anschlusszug, also quasi der Anschlusszug an den Anschlusszug, sodass ich dann auch in Hannover noch anderthalb Stunden warten muss, während der frühere Anschlusszug an den Anschlusszug, den ich geschafft hätte, wenn der Anschlusszug nicht ausgefallen wäre, ganz normal fährt. Also zwei gekreuzte Verspätungen. Respekt. Das ist schon sehr kreativ und gleich auf so vielen Ebenen ärgerlich. Bin begeistert.

Komme irgendwann in der Nacht zu Hause an und mache mich am nächsten Morgen auf die Suche nach dem verschwundenen Laptop. Laut dem Schild an der Bushaltestelle fahren dort Busse des Verkehrsverbunds Bremen-Niedersachsen. Bin naiv und denke also, dass die zuständig sind und ich mich dann einfach an sie wenden muss. Ich suche auf Google nach dem VBN, finde eine E-Mail-Adresse und schreibe dahin. Erhalte am nächsten Tag die Antwort: Die sind gar nicht zuständig, dafür muss ich mich an die Verkehrsbetriebe Oldenburger Land wenden, bekomme sogar eine Telefonnummer. Rufe da an und höre eine automatische Durchsage: Willkommen bei der Wilhelm-Hering-Verkehrsgesellschaft. Nanu? Für Fundsachen solle man sich auf der Website melden. Rufe die Website auf. Die besteht eigentlich nur aus Weiterleitungen zu anderen Verkehrsbetrieben, darunter auch wieder die Verkehrsbetriebe Oldenburger Land. Ich klicke mich zur Website der VOL durch und schreibe eine Nachricht ans Kontaktformular. Bekomme am nächsten Tag die Antwort: Die Strecke bedienen sie gar nicht, dafür ist das Busunternehmen Jürgen Schloter zuständig. Immerhin, jetzt habe ich schon einen richtigen Namen. Habe das Gefühl, ich komme dem Ziel langsam nähe. Google findet von Herrn Schloter eine Website und eine Telefonnummer. Leider geht bei der Nummer niemand ran und die Website gibts nicht mehr. Langsam beschleichen mich erste Zweifel. Als Herr Schloter irgendwann doch noch abhebt, frage ich ihn nach dem Laptop. Er erklärt kurz angebunden, es wurde kein Laptop gefunden, es würden aber auch andere Busunternehmen die Haltestelle anfahren. Leider weigert er sich, mir zu verraten, welche das sind. Die Suche geht weiter.

236783 Verkehrsverbünde, Busfirmen und Verkehrsbetriebe später komme ich zu dem Schluss, dass ich den Laptop vermutlich nicht finden werde.
Habe dann noch die Idee, beim Huntebad in Oldenburg zu fragen. Die antworten direkt, dass er gefunden wurde. Jetzt weiß ich wieder, warum ich lieber schwimme als Bus fahre.

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01 August 2021

Hunte: Von Elsfleth nach Wildeshausen

Hunte x Hunte

Montagvormittag. Sitze im Zug in Richtung Nordenham. Stelle fest: Ich bin der einzige, der Montagvormittag Lust hat, im Zug nach Nordenham zu sitzen. Auch schön. Fühle mich gleich wie etwas Besonderes.

Zwanzig Minuten später stelle ich fest, dass ich auch der einzige bin, der am Montagvormittag in Elsfleth aussteigt. Bin womöglich einzigartig.

Oder auch nicht, denn ich bin definitiv nicht der einzige, der an einem Montagvormittag mit dem Fahrrad durch Elsfleth fährt. Da sind noch viele andere unterwegs. Aber hallo! Jedes Mal, wenn ich stehenbleibe, zischen ein paar E-Bikes vorbei wie moderne Raumschiffe. Auf dem Kiesweg am Wasser sind spazieren Spaziergänger, ansonsten steht das Städtchen still und unauffällig in der Landschaft rum.

Am Hafen soll ein historisches Segelschiff stehen und ein Museum mit Schiffsimulator, aber die einzigen Schiffe, die ich sehen kann, sehen nicht so richtig historisch aus. Außer man benutzt das Wort als Beleidigung, weil sie ein bisschen abgewrackt sind.

Ein modernes Haus behauptet, es sei eine Hochschule. Das hätte ich Elsfleth nicht zugetraut, eine eigene Hochschule. Genauer gesagt gibt es hier eine Seefahrerschule und ein maritimes Kompetenzzentrum. Das klingt, als würden die da drin entweder Seemannsknoten knoten und Kautabak kauen oder mit hochmodernen Satelliten Schiffsrouten berechnen. Vielleicht auch alles gleichzeitig.

Die meisten Häuser sehen aber weder modern noch historisch aus, sondern einfach nur wie Häuser. Kein Wunder, dass die E-Biker vorbeizischen, ohne sich genauer umzusehen.

Die Radfahrer sind alle auf dem Weserradweg unterwegs. Ich nicht. Ich möchte den Hunteradweg fahren. Bin also doch was Besonderes, wusste ichs doch. Außer auf den ersten paar Kilometern, die ich mit den Weserradlern teile. (Wäre die Freundin nicht krank geworden, würde ich dieses Wochenende genau hier den Weserradweg fahren.)

Die Hunte mündet am Sportboothafen Elsfleth in die Weser. Da ist im Prinzip eine Linie aus Gras und Steinen im Wasser, und mittendrin ist eine kleine Lücke, wo sich die Schiffe auf die Weser rausfahren. Das sieht ganz schön eng aus. Wieso macht man das ist für die Bootsfahrer so schwierig? Naja, vielleicht sieht das auch nur von meinem Blickwinkel so aus. Oder ich sollte einfach nicht von meiner Treffsicherheit auf andere schließen. Für letzteres sprechen jedenfalls meine Erfahrungen beim Basketball in der Schule. Aber ist das echt die Mündung der Hunte?

Nee, die richtige Mündung ist viel breiter und liegt hinter dem Huntesperrwerk. Das Sperrwerk besteht aus einem Haufen großer, gebogener Metallplatten, die im Ernstfall ein Hochwasser verhindern. Dazu gehört auch eine Klappbrücke. Da darf man zu jeder vollen Stunde ein paar Minuten lang rüberfahren. Für die Weserradler ist das eine praktische Abkürzung, bei der sie über die Insel Elsflether Sand fahren und ganz Elsfleth umgehen. (Eine Insel ist das deshalb, weil auch noch irgendwelche anderen Gräben und Arme die Weser und die Hunte verbinden. Einer davon heißt zum Beispiel Rekumer Loch, was nicht direkt einladend klingt.) Im Moment verkündet ein Schild, wegen Bauarbeiten sei das Sperrwerk generell gesperrt, egal wie spät es ist.

Ein älterer Rennradfahrer nähert sich dem sperrigen gesperrten Sperrwerk, liest das Schild und ärgert sich. Anschließend liest er ein zweites Schild und ärgert sich noch mehr, denn auch die Schwenkbrücke für den offiziellen Weserradweg ist gesperrt. Komisch, da bin ich doch gerade erst mit dem Zug rübergefahren. Man soll also Brücke Nr. 3 an der Bundesstraße nehmen. Ich müsste die sowieso nehmen, aber von der Weser aus ist das ein ganz schöner Umweg. Der Mann überlegt, ob er nicht doch nach Bremerhaven zurückfahren soll, was aber noch viel länger ist. Er fragt mich um Rat. Ich kann ihm im Prinzip auch nur das sagen, was auf den Schildern steht. Aus irgendeinem Grund scheint ihn das zufriedenzustellen und er fährt weiter.

Als ich Brücke Nr. 3 erreiche, steht sie senkrecht in der Luft. Das überrascht mich. Erinnere mich vage, auf dem Schild irgendwas von wegen Klappbrücke gelesen zu haben. Dennoch habe ich nicht mit diesem Anblick gerechnet: Ein halber Kilometer Bundesstraße ragt in den Himmel, nur um ein klitzekleines Segelboot durchzulassen, dessen Mast ein klitzekleines bisschen zu hoch ist. Schaue mich um, ob Egon Olsen in der Nähe ist. Als das Boot durchgesegelt ist, senkt sich die Brücke ganz langsam nach unten. Vorne am Asphalt sind so schwarze Gummizacken dran. Ein bisschen wie die Zähne eines grauen Steinriesen, der mit dem Konzept der Zahnhygiene bislang keine Erfahrungen gemacht hat. Schließlich legen sich die Zacken der Brücke auf die Zacken der restlichen Straße. Erstaunlich, dass das bisschen Gummi in der Lage ist, die Brücke zu halten.

Ich schaue in die Karte, wie es weitergeht. Das ist nicht so eine schicke neue Karte vom Esterbauer-Verlag. Diese Karte habe ich in den Tiefen des Internets auf einer leicht altbackenen Website entdeckt, also sofern man das Wort altbacken für Websites benutzen kann. Habe sie dort bestellt und war überrascht, dass ich die gewünschten sieben Euro gar nicht zahlen musste. Nochmal nachgeguckt: Nein, keine Zahlungsdaten in der E-Mail, nirgendwo. Was letztlich aber auch irgendwie fair war, denn die Karte kam auch nicht.

Nach zehn Tagen hatte ich dann mal nachgefragt, wo sie denn bleibt. Es kam eine ganz nette Antwort: Da hat sich leider ein Fehler eingeschlichen, wir hoffen, sie bekommen sie noch rechtzeitig. Bald darauf war sie dann da. Man merkt gleich, dass sich jemand bei der Konzeption der Karte Gedanken gemacht hat. Die Gedanken lauteten: Wie können wir diese Karte so unhandlich und unpraktisch wie möglich machen? Es gibt ja so große Karten zum Auffalten, und es gibt Kartenbücher zum Umblättern. Diese Karte vereint die Nachteile von beidem. Sie besteht aus einer Plastikhülle mit vier mittelgroßen Karten zum Auffalten darin, und rundherum ein gefaltetes Stück Pappe, das diese Karten durch das Prinzip Hoffnung zusammenhalten soll. Aber immerhin, wenn man raufguckt, ist das sehr übersichtlich, weil der Maßstab so klein und die Landschaft so leer ist.

Die erste Karte geht von Elsfleth nach Oldenburg. Auf der Rückseite sind Sehenswürdigkeiten beschrieben. Alle befinden sich ausnahmslos in Elsfleth oder in Oldenburg. Überlege, was das wohl über die Landschaft dazwischen aussagt. Wahrscheinlich, dass sie ziemlich menschenleer ist. Aber andererseits auch nicht so menschenleer, dass das schon eine eigene Sehenswürdigkeit darstellt. Das beschreibt die Wesermarsch eigentlich ganz gut.

In der Wesermarsch gibt es Flüsse, dann kommt der Deich, eventuell ein paar reetgedeckte Häuser, dann nur noch Felder. Und ab und zu ein Entwässerungsgraben, der unter dem Deich durchschlüpft. Wesermarsch klingt so ähnlich wie Wasser marsch. Zu Recht, denn es ist definitiv eine Menge Wasser vorhanden. Überlege, ob ich die Hunte nicht lieber als Gedicht beschreiben soll:

Mein Sattel in der Wesermarsch,
der tut mir etwas weh am...

Nee, lieber doch nicht.

Auch wenn das alles erstmal nicht so spannend klingt, lassen sich hier faszinierende Naturschauspiele beobachten. Zum Beispiel: Zwei Traktoren fahren aneinander vorbei auf einer Straße, die so breit ist wie ein Traktor. Oder das besonders seltene Phänomen: Motorisiertes Fahrzeug überholt Radfahrer unter Einhaltung des vorgeschriebenen Sicherheitsabstands. Oder: Krähe setzt sich einem Schaf auf den Rücken und reißt Wolle für ihr Nest aus. Letzteres wollte ich gern fotografieren, aber leider ist die durchschnittliche Krähe deutlich schneller als meine Kamera. Schade. Da hätte man bestimmt lustige Memes draus machen können. Aber auch so liegen überall Schafe in witzigen Positionen herum. Das bringt mich auf eine Idee: Wieso stelle ich die Hunte nicht in Memes dar? (Für die älteren: Das sind lustige Bilder im Internet, meistens mit weißer, kurzer Beschriftung, die oft ein verbreitetes Schema variieren und häufig Metaphern darstellen.)


Die Schafe sind hier wirklich extrem wichtig, denn eine schüttere, obergräserreiche Grasnarbe mit lockerem Unterboden ist 1962 eine der Hauptursachen für zahlreiche Ausspülungen und Kappenstürze. Ein regelmäßiges Abweiden schafft dagegen eine feste, dichte Grasnarbe und der Tritt der Hufe (Trippelwalze) schließt Wühltiergänge. Der Schäfer, der diese Informationstafel verfasst hat, kann ungefähr so anschaulich und eingängig erklären wie ein Mathematikprofessor.
Auf den ersten 25 Kilometern sehe ich wirklich viele Schafe und fast genauso viele Wölfe, letztere allerdings nur auf Plakaten. Dem Subtext meine ich zu entnehmen, dass die Landwirte den Wölfen gegenüber grundsätzlich erstmal eher negativ eingestellt sind. Was genau die gegen die Wölfe machen oder fordern oder was auch immer, steht da aber nicht. Außerdem weiß ich nicht, ob es dem eigenen Anliegen wirklich nützt, wenn sie Fotos nehmen, auf denen die Wölfe wie niedliche, gutmütige Huskys gucken. Warum nicht ein zähnefletschendes Ungeheuer und darunter eine Forderung wie Mehr Wackersteine jetzt?


Auf einem Aussichtspunkt kann ich über den Deich gucken. Stelle fest: Auf der Hunte sind Schiffe unterwegs. Aber hallo! Das sind nicht nur ein paar Paddelboote, sondern richtig fette Pötte. Damit die von der Weser bis Oldenburg durchkommen, wurde die Hunte an 20 Stellen begradigt. Und zum Ausgleich für die Natur ist in einer der Kurven so ein komischer kleiner See. Zweimal am Tag ist der mit dem Fluss verbunden, wenn Flut ist.
Oldenburg selbst hat übrigens keine Deiche, sondern nur Polder, also so Gebiete, wo das Wasser bei Hochwasser hinfließen soll. Blöderweise haben die Oldenburger ihre Kläranlage, den Osthafen, die Weser-Ems-Halle und die Autobahn in die Polder reingebaut. Tja, da hat mal einmal nicht hingeschaut und schon steht das Haus am falschen Platz, wer kennt das nicht? Die mussten dann jedes Mal woanders einen Ersatzpolder anlegen.
So steht das da auf den Infotafeln. Im Prinzip steht da mehr oder weniger dasselbe wie am Rhein, an der Weser und an den meisten anderen Flüssen. Ich sags mal so: Wer in Deutschland einen großen, nicht begradigten Fluss sehen will, der braucht kein Fahrrad, sondern eine Zeitmaschine.

So langsam wird die Strecke etwas eintönig. Hoffe, dass ich bald Oldenburg erreiche. Erreiche kurz darauf Oldenburg. Freue mich, dass ich gleich im Zentrum bin. Ich muss nur noch diese Straße da überqueren.

Zehn Minuten später keimen in mir erste Zweifel auf. Neben mir stehen ungefähr zwanzig Radfahrer. Sie alle wollen offensichtlich über die Straße. Aber die Autos fahren dicht an dicht. Niemand hält an. Wir warten.
Frage eine Frau, wie lange sie hier schon wartet. Sie zeigt auf ihr Kind und den Mann hinter sich. Sagt, sie hätte hier beim Warten ihren Mann kennengelernt und letztes Jahr hätten sie beschlossen, eine Familie zu gründen. Ich lache. Hoffe, sie macht einen Witz.

Im Mittelalter verteidigten sich die Städte mit Stadtmauern gegen feindliche Angreifer. Heutzutage werden Bundesstraßen eingesetzt. Gegen Radfahrer sind sie sehr effektiv. Und wenn der Verkehr noch ein klein wenig dichter wäre, dann wären sie vermutlich auch gegen Autofahrer sehr effektiv.

Zwei weitere Radfahrer stoßen zur Gruppe. Plötzlich geht ein Ruck durch die Menge. Die ersten preschen in eine Lücke, und die Masse folgt ihnen. Die Autofahrer sind gezwungen, anzuhalten. Ich verstehe. Hier gibt es keine Ampel, stattdessen muss man warten, bis die Wartenden eine kritische Masse erreicht haben. Zum Glück ist (noch) so gutes Fahrradwetter, sonst hätte ich hier übernachten müssen.

Im Zentrum von Oldenburg stehen lauter klassizistische Paläste: ein gelbes Schloss mit Schlossmuseum, ein weißer Prinzenpalais mit Kunstmuseum, so ein Zeug halt. Bestimmt hat die Großstadt auch dunkle Schattenseiten hinter dieser prächtigen Fassade. Aber ich habe gerade keine Lust, die zu suchen - wozu auch, wenn man beim Vorbeiradeln die Fassade bewundern kann. Bin schließlich Tourist.

In Oldenburg wird das Wasser neu aufgeteilt. Zuerst teilt sich die Hunte in Alte Hunte und Neue Hunte. Die Alte Hunte fließt träge durch die Innenstadt und wird an jeder Kreuzung unter die Erde verbannt. Ab und zu darf sie dann wieder rauskommen. Hinter dem Stadtzentrum ist ihr sogar ein längerer Spaziergang im Schlosspark erlaubt.

Im Prinzip wird die Alte Hunte wie alle Alten in der Gesellschaft behandelt - wenn es passt, holt man sie mal raus, ansonsten wird sie ins Altersheim beziehungsweise in die Kanalisation abgeschoben.

Fahre am Schwimmbad von Oldenburg vorbei. Es heißt Olantis Huntebad. Olantis, also quasi Atlantis plus Oldenburg. Denke, mein Gott, welcher kreative Geist hat sich denn das schon wieder ausgedacht. Beschließe dennoch, schwimmen zu gehen.
Im Freibad darf man sogar in der Alten Hunte baden, die jetzt aus irgendeinem Grund plötzlich Mühlenhunte heißt. Die Leute können in einem ganz natürlichen Fluss schwimmen, also quasi. Ich schwimme eine Weile im Fluss. Es ist trübe, aber warm. Normalerweise ein sicheres Zeichen, dass ein Kind ins Wasser gepinkelt hat, aber ich bin gerade der einzige im Fluss. Keine Ahnung wieso, aber die schwimmenden Vormittagsrentner ziehen alle das gekachelte 50-Meter-Schwimmbecken vor. Obwohl, andererseits, wozu sollte man auch schwimmen, wenn man nicht genau weiß, wie weit man geschwommen ist? Da könnte man ja auch gleich in der Natur joggen gehen statt auf dem Laufband.
Es gibt ja in Deutschland einige Freibäder, wo man sowohl in einem Becken als auch in einem Natursee baden kann, aber das ist das erste Mal, dass ich so was mit einem Fluss sehe. Hätte gar nicht gedacht, dass das in Deutschland so einfach geht. Könnte ja gefährlich sein, von wegen Strömung und so. Aber Tatsache, es geht. Man muss halt nur vorher einen neuen Flussarm bauen, über den die Mühlenhunte außenrum fließen kann, den Fluss auf der einen Seite mit großen Steinen abdichten und auf der anderen Seite mit einem Netz, das an einem Steg hängt, und einen flachen Sandstrand aufschütten. Da sage noch einer, in Deutschland sei immer alles so kompliziert.

Am Ausgang von Oldenburg teilt sich die Neue Hunte schon wieder, diesmal in die Hunte (also den normalen Fluss) und den Küstenkanal. Dazwischen führt ein Kiesweg entlang, links und rechts tauchen in regelmäßigen Abständen Ruderbootclubs auf. Die haben hier die einzigartige Auswahl, ob sie ihr Boot links oder rechts ins Wasser setzen.
Der Küstenkanal fließt mit der Alten Hunte zusammen und geht dann quer durch bis zur Ems. Hier biegen dann auch die ganzen großen Pötte ab. Die können auf diesem Kanal einmal ganz Ostfriesland abkürzen.

Am Friedhof von Wardenburg steht ein besonderer Turm. Was den Turm so besonders macht, ist, dass  er nicht religiös ist. Da drin wurden nur Glocken geläutet und Wache gestanden. Okay, ich vermute mal, die Glocken wurden schon auch für den Gottesdienst geläutet, aber trotzdem war das im Prinzip, also an sich, kein Kirchturm. Es verrät viel über den Einfluss, den die Kirche damals hatte, dass man so einen Turm nirgendwo sonst in der Region finden kann. Der einzige Turm für Atheisten. Damit die auch mal einen Ort haben, um reinzugehen und ganz in Ruhe nicht zu beten.

Bestimmt bin ich nicht der einzige, der da an den Film Willkommen bei den Sch'tis denken muss, wo der eine Einwohner versichert, ihr Turm mit dem Glockenspiel drin sei "nichts Religiöses", in deinem Tonfall, in dem man auch "nichts Unanständiges" sagen würde.

Ab jetzt ist die Hunte also ein kleiner Fluss ohne große Schiffe, der ganz natürlich fließen darf. Also außer, das beeinträchtigt die Menschen irgendwie. Und auch nur für wenige Kilometer. Und auch nicht da, wo sie ursprünglich geflossen ist. Und genau genommen doch ein ganz klein bisschen begradigt. Aber sonst - ganz natürlich.
1996 wurden zwei alte Flussarme wieder angeschlossen, und eventuell kommt in Zukunft vielleicht noch einer dazu.

Ich darf eine ganze Weile am Fluss fahren, aber irgendwann sind auf dem schönen Deichweg keine Fahrräder und Hunde mehr erlaubt. Das mit den Hunden wird auf dem Schild genau erklärt: Immer wieder werden tote Schafe im Wasser gefunden, weil sie vor Joggern oder Hunden in Panik geraten und sich gegenseitig in die Hunte schubsen. Da frage ich mich schon, wie die Spezies Schaf ohne den Menschen überhaupt überleben konnte.

Es folgt ein kurzer Abschnitt, wo die Wege ziemlich wild sind.

Ich holpere durch den Sand am Tillysee. Ein Schild verbietet so gut wie alles, was die Natur irgendwie beeinträchtigen könnte. Gute Wege gehören leider offensichtlich auch dazu.

Auch die Beschilderung ist manchmal ein bisschen schwierig zu finden. Verfahre mich das einzige Mal so richtig auf dieser Tour. Verglichen mit meiner üblichen Leistung ist das ziemlich gut.

Laut Karte komme ich nun vorbei am sogenannten Freizeitpark Ostrittum. Da gibt's keine Achterbahnen, sondern ein paar Wildtiere, Spielplätze und einem Märchenwald. Also für kleinere Kinder im Prinzip super. Ich find's nur seltsam, dass man dafür dasselbe Wort benutzt wie für ein riesiges 50 Euro teures Areal, wo lauter hohe Achterbahnen und anderes wahnsinniges Zeug steht.

Ein Biobauernhof hat die Verkaufsstrategie übernommen, mit der Bahnhöfe den Reisenden uralte Schokoriegel andrehen: Ein Automat schmeißt gegen Münzeinwurf Chips, Schokoaufstrich, Käsesuppe im Glas und tausend Sorten Fleisch und Wurst raus. Zum Glück wird das Zeug gekühlt. Das steigert mein Vertrauen in diesen Automaten ungemein, sodass ich mir tatsächlich etwas hole.


Als mir die Fahrradkarte zugeschickt wurde, stand im Brief Vielen Dank, dass Sie sich für den Naturpark Wildeshauser Geest interessieren. Da hatte ich dann ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Dass ich mich für den Naturpark Wildeshauser Geest interessiere, kann man so jetzt nicht direkt sagen. Ehrlich gesagt wusste ich bis dahin überhaupt nicht nicht, dass so etwas wie ein Naturpark Wildeshauser Geest überhaupt existiert. Ich weiß eigentlich nicht mal, was überhaupt eine Geest ist. Ich dachte, das sei irgendwie das Land hinter der Küste, mit Deichen und so. Also quasi wie die Küste, nur ohne das Meer.
Stelle nun fest: Totaler Quatsch. Die Wildeshauser Geest ist im Prinzip ein Wald. Ein wilder, schöner, uriger Wald, und mittendurch schlängelt sich die Hunte, so richtig norddeutsch und ein bisschen geheimnisvoll. Genau genommen sogar sehr geheimnisvoll: Plötzlich komme ich auf einer Kreuzung raus und sehe, dass ich laut Wegweiser links abbiegen soll. So weit, so gut, passt auch zu dem, was die Karte sagt. Komisch ist nur, dass ich laut dem Wegweiser genau aus der gegenüberliegenden Richtung hätte kommen müssen. Wie kann das sein? Der Wegweiser sitzt fest, er wurde nicht verdreht. Funktionieren Raum und Zeit in diesem Wald anders? Oder habe ich mich womöglich schon wieder verfahren? Ich werde es wohl nie erfahren.

Wald ist aber nicht die einzige Landschaft, die es zu sehen gibt. Zumindest laut den Straßenschildern. Die Straßen hier heißen alle MoorwegHeideweg, Waldweg oder so ähnlich. Überlege, das ist ja eigentlich schon ein Privileg, wenn man so viele Landschaften hat, dass man alle Straßen danach benennen kann. Würde man das in Nordafrika machen, dann hießen alle Straßen Wüstenweg. Oder im Norden von Sachsen-Anhalt - überall nur Ackerweg. Wäre für die Orientierung auch eher suboptiomal.

Vom Moor sehe ich nichts, das ist zu weit weg vom Radweg. Aber für die Heide ist ein nur ein kleiner Umweg nötig, den nehme ich gern auf mich. Ich habe die Heide jetzt schon in vielen Jahreszeiten gesehen und bin gespannt, wie sie im Juli aussieht, kurz vor der Blüte. Stelle fest: Gar nicht mal so interessant. Da ist alles grün, sieht fast so aus wie normales grünes Gras oder Getreide. Tatsächlich finde ich Heidepflanzen im Dezember interessanter, da ist noch viel von der violetten Farbe aus dem Sommer übrig.
Die Bewohner der Heide stört das nicht. Also, glaube ich zumindest. Denn die sind ja schon lange tot. Unter dem Heidekraut wurden nämlich Leichen aus der Steinzeit bestattet. Eins muss man den Steinzeitmenschen lassen, sie haben sich schöne Orte für ihre Friedhöfe ausgesucht.
Der erste Friedhof liegt in Döttlingen und besteht aus richtig großen Steinen. Die liegen zwar nicht mehr so aufeinandergestapelt wie ursprünglich geplant, aber allein die Tatsache, dass da so viele Riesensteine liegen, zeigt eindeutig, dass die da nicht von allein hingekommen sind. Die Grabstätte heißt Glaner Braut. Ein Name, der Fragen aufwirft. Es wird vermutet, dass die Menschen damals wirklich Friedhöfe als ideale Location für eine Hochzeit angesehen haben. Was erstmal seltsam klingt, aber eigentlich hat sich, seit das Christentum dazukam, gar nicht so viel geändert - jetzt ist halt nur die Wand einer Kirche dazwischen.
Der zweite Steinzeitfriedhof ist eine Nummer größer. Der heißt Pestruper Gräberfeld und besteht aus großen, länglichen Hügeln. Die türmen sich in der Heide auf wie Wellen, nur dass sie sich halt nicht bewegen. Abends im Mondschein ist das schon ein magischer Anblick. Hat was.

Also insgesamt ist die Wildeshauser Geest schon echt eine super Landschaft, wenn man auch mal auf Berge und so verzichten kann. Mittendrin ist da auch noch die Stadt Wildeshausen. Die ist auch super. Zum einen ist da eine historische Altstadt, neben der Kirche steht sogar das älteste Haus im Oldenburger Land. Und dann hat diese Altstadt auch noch ein Nachtleben. Zumindest ein bisschen. Sprich: Ich konnte zwischen gleich drei geöffneten Restaurants wählen, und die waren alle gut besucht. Mitten im ländlichen Niedersachsen während einer Pandemie ist das definitiv eine Erwähnung wert.

Beschließe, im Ratskeller etwas zu essen. Das Rathaus war in der Vergangenheit schon eine Markhalle, ein Gefängnis und Feuerwehrhaus, da ist ein Restaurant wahrscheinlich nicht weiter ungewöhnlich. Am Nebentisch sitzen sieben ältere Herren. Einer von ihnen beschwert sich bei der Kellnerin, sein Bier sei zu kalt.
Das überrascht mich.
Die junge Kellnerin offenbar auch. Sie erklärt dann aber ganz routiniert, dass sie nur die eine Zapfanlage hätten, die das Bier nun mal so kalt macht und es aus ökonomischen Gesichtspunkten, da die meisten Gäste kaltes Bier nun mal lieber mögen, keinen Sinn ergäbe, eine wärmere Zapfanlage zu erwerben, falls es so eine überhaupt gibt. Der Herr zeigt angesichts dieser betriebswirtschaftwissenschaftlichen Ausführungen Verständnis und bestellt ein zweites Bier.
"Ihr dürft das trinken, ihr seid ja schon groß. Ihr seid doch über 16, oder?", witzelt die Kellnerin.
"Ja, oder wie man bei uns sagt: Pflegestufe 2.", entgegnet ein anderer Senior.
Denke mir, Generationenkonflikt ist in Wildeshausen offenbar ein Fremdwort. Wie schön wäre es, wenn Alt und Jung immer so unbeschwert miteinander umgingen.