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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

30 April 2022

Spree: Von Berlin nach Spandau

Die Spreemauer

Länge: 1,5 km (Regierungsviertel) + 2 km (East Side Gallery) + ca. 22 km (restlicher Spreeradweg ohne Mauer)
Grenzquerungen: 2
Bundesländer: nur Berlin
Seite: nur Ost
Erkenntnis: Manchmal braucht es nichts weiter als einen globalen Konflikt zweier Atommächte im Innenstadtgebiet, damit Touristen aus aller Welt ein Graffito genauso toll finden wie einen Michelangelo.

Die Spree floss mitten durch eine geteilte Hauptstadt. Da überrascht es nicht, dass die Grenze zwischen zwei Weltmächten auch mal direkt an ihrem Ufer lag. Zwar immer nur kurz, dafür aber insgesamt dreimal.

Spreemauer 1: Die East Side Gallery

In Berlin steht die wahrscheinlich hübscheste Spreebrücke. Zumindest gilt die Oberbaumbrücke als die schönste Brücke Berlins. Eigentlich sind das zwei Brücken: Auf der vorderen kommen Fußgänger und Radler bequem rüber, die große Brücke dahinter wurde 1894 für die U1 gebaut. Hitler wollte die prächtigen Türme und Bögen sprengen, aber es konnte alles wiederhergestellt werden. Nicht ganz so leicht rückgängig zu machen war die Teilung der Stadt: Kurz vor der Brücke kam die Berliner Mauer ans Ufer der Spree. In den 50ern durfte man noch rüber, um seine Verwandten zu besuchen. Zumindest, wenn man die sensationell schlechten Propagandaplakate ertrug. (Wen drückt das Deutschlandtreffen sehr hart? Den dicken Ludwig Ehrhard. - Euer Ernst, SED?) Auf Dauer waren die grauenhaften Reime trotzdem nicht abschreckend genug, also wurde die Brücke mit dem Mauerbau dichtgemacht, dann aber zweieinhalb Jahre später wieder ein bisschen geöffnet: Mit einem Passierscheinabkommen durften Westberliner ihre Verwandten im Osten besuchen. Keine Ahnung, was damals schiefging, aber das Abkommen hielt nicht mal einen Monat. Es dauerte nochmal ein Jahrzehnt, bis es ein ähnliches Abkommen für ganz Deutschland gab.
Sonderlich gefährlich sieht die Spree nicht aus. War sie aber: Manche Flüchtlinge entkamen den Kugeln, sanken dann aber vor Erschöpfung nach unten. Erfolgversprechender war es, falls man zufällig auf einem Ausflugsdampfer arbeitete, seinen linientreuen Käpt'n betrunken zu machen und den Dampfer ans Westufer zu steuern. Sogar Entenfüttern war hier lebensgefährlich: Als ein Schüler dabei ins Wasser fiel, erlaubten die Grenzsoldaten der Westberliner Polizei nicht, ihn rauszufischen.

Neben der Brücke beginnt ein 1,3 Kilometer langes Bauwerk: Die East Side Gallery ist die größte Freiluftgalerie der Welt, gestaltet von 118 Künstlern aus 21 Ländern, und zugleich das längste ununterbrochene Stück der Hinterlandmauer. Obwohl, inzwischen wurde die Mauer schon ein bisschen durchbrochen, damit man zum Schiffsanleger kommt. Und noch ein paarmal, damit man zum schicken neuen Hotelturm gelangt. Kein Wunder, dass die Künstler sauer waren, als Berlin einem Investor das Grundstück verkauft hat.

Auf welcher Seite läuft man an der East Side Gallery lang? Wenn Sie auf der Spreeseite laufen, steht da eine Reihe Bäume, übel zertrampeltes Gras und Infosäulen mit zersplitterten Spiegeln. Mit anderen Worten: Es ist eindeutig die schönere Seite. Zumindest, wenn man die Kunst selbst außer Betracht lässt. Auf der Mauer prangen nämlich ganz gewöhnliche dicke Graffiti-Buchstaben, die immerhin manchmal zeitkritische Kommentare enthalten. Diese Seite ist den wilden Sprayern vorbehalten. So ähnlich sah die Mauer wahrscheinlich schon im Kalten Krieg auf der Westseite aus.

Die großen Künstler haben sich auf der anderen Mauerseite an der Straße verewigt. Wer aber ihr Werk bewundern will, muss dafür eine Menge Stress auf sich nehmen. Entweder man radelt auf dem Fahrradstreifen, atmet die hirnbetäubenden Düfte der kunterbunten Trabi-Safari ein und erhascht über die parkenden Autos nur einzelne Schemen der Kunstwerke.


Oder aber man quetscht sich auf dem Bürgersteig zwischen Menschenmassen hindurch. Die meisten interessiert eigentlich nur ein bestimmtes Gemälde. "Excuse me, where is the kiss?", fragte mich ein Mann mit Basecap.
Hatte ich ihn gerade richtig verstanden? Der Kuss? Dann machte es Klick und ich verstand, denn sogar ich hatte dieses berühmte Bild schon mal irgendwo gesehen. Weiterhelfen konnte ich ihm trotzdem nicht. Erst zwei Stunden später (also gefühlt) hatte ich mich weit genug durch die Massen gearbeitet, um zu gucken, wie sich zwei nicht sonderlich attraktive Männer namens Honecker und Breschnew abknutschen. Und Menschen aus aller Herren Länder bespannen sie dabei. Naja, vielleicht hilft das wenigstens gegen die Homophobie in der Welt. (Obwohl, ich glaube, wenn ich homophob wäre, würde das Bild das eher verstärken...)

Immerhin ist das der Beweis, dass es sich um eine richtige Kunstgalerie handelt. Es ist fast so schlimm wie in der Sixtinischen Kapelle. Och Leute, schaut euch doch auch mal die anderen Bilder an, nicht nur den Kuss und das Trabibild, die in jedem Reiseführer zu sehen sind! Guckt mal, da ist der Japanische Sektor mit dem Berg Fuji (im echten Berlin leider nicht zu finden), Menschenmassen, die die Mauer durchbrechen, angekettete Friedenstauben, ein Drache und fremde Galaxien über Berlin, ein Vergleichsbild mit Mauern aus aller Welt... tja, oder ihr bespannt halt weiter die alten Säcke bei ihren romantischen Aktivitäten.


Kurz darauf verlässt die Mauer die Spree schon wieder, und der Radweg folgt einer Straße abseits des Flusses. Trotzdem versuchte ich auf dem nächsten Stück, einen Weg zur Spree zu finden. In dieser Stadt gibt's doch überall Wege, da muss doch irgendwas sein... nun ja, in der Tat war da was. Als ich jedoch auf diesem schmalen Was entlangfuhr, musste ich mein Rad eine Treppe hinauftragen und fand mich unversehens in einem Café wieder, wo ich das Rad zwischen leicht irritierten Gästen hindurchschieben musste. Die Wegführung hat schon ihre Gründe.


Etwas verloren steht am Rande eines gepflasterten Platzes eine einsame Ecke herum. Sie gehörte zur Bauakademie des Architekten Karl Friedrich Schinkel, der gefühlt ungefähr jedes zweite Haus in Berlin entworfen hat. Dieses Stück Musterfassade macht Werbung dafür, auch noch die komplette Bauakademie wieder aufzubauen.

Berlin ist dermaßen riesig, dass ich dachte, ich beschränke mich hier auf die Sehenswürdigkeiten, die direkt am Fluss liegen. Ich musste jedoch feststellen: Es liegen verdammt viele Sehenswürdigkeiten am Fluss. Zugegeben, bei der Museumsinsel ergibt sich das schon aus dem Namen, dass sie nicht nur am, sondern sogar im Wasser liegen muss. Die Spree teilt sich in zwei Arme.

Der kleinere Spreekanal ist allerdings viel schmaler und zugleich so lang, dass die Insel nicht wirklich nach einer Insel aussieht, sondern eher wie ein normales Ufer mit besonders vielen griechischen Säulen.
Auf der Insel ist auch die grüne Kuppel des Berliner Doms zu finden. Hinter den Museen stand einst das Berliner Stadtschloss, in dem der Adel von Preußen regierte - und später der Palast der Republik, in dem die Sozialistische Einheitspartei krachend daran scheiterte, es besser zu machen als die Adligen (und das in einem deutlich hässlicheren und asbestversuchten Palast). Beide Schlösser stehen nicht mehr, und nur ersteres wird vielleicht wieder aufgebaut.
Ist ja auch egal, für mich ist vollkommen klar, welches Ziel ich auf dieser Insel ansteuere.

Springen wir nun ein paar Jahrtausende vor die SED zurück, in antike Zeiten, als es noch... also, auch nicht wirklich zivilisierter war, aber auf jeden Fall anders. Damals plagten die Herrscher noch keine Probleme wie Wir können den Fünfjahresplan nicht einhalten und Manno, der Wolf Biermann hat schon wieder ein total gemeines Lied gesungen, sondern eher so was wie Das Orakel von Delphi hat gesagt, mein künftiger Enkel wird mich umbringen. Wat nu?
König Aleos fand eine clevere Lösung: Er machte seine Tochter Auge (ja, die hieß so) zur Priesterin, denn in dem Job ist alles, was zu Kindern führen könnte, streng verboten. Im Prinzip einleuchtend, klappt aber nicht, wenn irgendein betrunkener Herkules seine Triebe nicht im Griff hat. Sein zweiter Versuch war sowieso zum Scheitern verurteilt: Er setzte Mutter und Kind voneinander getrennt aus. Mensch, Aleos, hast du nie irgendwelche Geschichten gelesen? Bei ausgesetzten Babys geht die Säuglingssterblichkeit gegen Null, sie werden immer von Nymphen/Hirten/Pharaos/Wölf*innen/den Dursleys aufgezogen! Das Kind hieß Telephos, fand seine Mutter wieder und beide wurden von einem anderen König adoptiert.
Der Rest der Sage ist sogar ganz schön und hat eine versöhnliche, fast schon pazifistische Note: Die Griechen schauten auf dem Weg zum Trojanischen Krieg vorbei, plünderten ein bisschen und ihr bester Krieger Achilles piekste Telephos. Die Verletzung wollte einfach nicht heilen und das Orakel sagte, nur der Verursacher kann sie wieder in Ordnung bringen. Null Problemo, dachte Telephos, lief den Griechen hinterher und gab sich erstmal als anonymer Verwundeter aus. Er wurde nicht nur erfolgreich geheilt, sondern versöhnte sich auch mit den Griechen und zeigte ihnen den richtigen Weg nach Troja, damit sie anderswo weitertöten konnten (an dieser Stelle gerät die pazifistische Note ins Wanken). Ach ja, und außerdem wurde er selber König und gründete Pergamon. Seine Stadt wuchs zu einem kulturellen Hotspot mit einer der weltweit größten Bibliotheken heran, und in diesem Zustand übergab sie Jahrhunderte später der letzte König Pergamons besenrein ans Römische Reich.
Telephos' Nachkommen errichten einen gewaltigen Altar, um den Göttern Essen und Trinken zu opfern. In die Wände meißeln sie irgendeinen kreativen Quatsch, weil sie auch einen coolen Mythos haben wollen, der erklärt, warum ihre Stadt von den Göttern abstammt die absolut glaubhaft überlieferte Geschichte ihres Gründers.

Springen wir nun etwa 2000 Jahre weiter. Ein deutscher Ingenieur namens Carl Humann reist an die Küste der heutigen Türkei und wundert sich. Oh Gott, was machen die denn da, zerschlagen die etwa alte Steinplatten, um daraus Kalk zu brennen? Da gehen ja uralte Schätze verloren! Er holt sich Geld von den Museen und eine Genehmigung der türkischen Behörden, und gräbt los, um zu retten, was zu retten ist. Und es ist noch dermaßen viel zu retten, dass a) bis heute weiter dort gegraben wird und b) Berlin ein eigenes Museum bauen muss, um das ganze ausgegrabene Zeug irgendwo unterzukriegen. 1901 entstand das Pergamonmuseum 1.0, aber das war immer noch zu klein. Aktuell wird schon wieder an der neusten Version des Museums gewerkelt, deswegen ist der Altar gerade verschlossen, nur einzelne Statuen und Platten sind ausgestellt. Das Besondere ist: Sie werden mit einem speziellem Licht präsentiert, das sich ständig verändert, so wie sie damals im Freien zu verschiedenen Tageszeiten zu sehen waren.

Aber es gab auch Menschen, denen das immer noch nicht anschaulich genug war, nämlich Künstler. Deshalb malten sie Panoramen. Das Panorama 1.0 wurde schon 1886 im heutigen Hauptbahnhof aufgestellt, es ist also älter als das Museum. 2011 und 2018 hat der Künster Yadegar Asisi mit modernen Mitteln an neue Versionen davon geschaffen.
Zögerlich trotte ich in einen großen schwarzen Zylinderraum. Dunkelheit umfängt mich. Im Licht der Scheinwerfer Morgendämmerung schälen sich Säulen und Menschen hervor. Ein Fluss rauscht. Vögel zwitschern. Triumphale Musik verkündet den Sonnenaufgang. Ich steige einen Aussichtsturm hinauf, und Stockwerk erwacht eine antike Stadt zum Leben. Das Theater gibt eine Vorstellung. Auf dem Pergamonalter prasseln die Feuer, und das Blut der Tieropfer ziert den Boden (beim Originalaltar ist das heute vermutlich nicht mehr so, weshalb er auch von Vegetariern besichtigt werden kann). Im Gras chillen mehr Menschen als auf der Werbebroschüre einer Universität.
Dagegen kann das Mauerpanorama am Checkpoint Charlie einpacken.

Das richtige Pergamonmuseum ist im Hauptgebäude untergebracht und kostet noch einmal extra Eintritt. Auch wenn der Pergamonaltar aktuell gesperrt ist: Nirgendwo sonst gibt es dermaßen viele dermaßen riesige Werke aus so vielen Kulturen zu sehen. Alter, ist das riesig! (Außer das Modell vom Turm zu Babel, das ist etwas mickrig geraten.)
Ein paar Kilometer von Pergamon entfernt lag Milet, das im römischen Reich eher durch Handel als durch Kultur bekannt wurden. Eine brummende Wirtschaft war den Miletern dermaßen wichtig, dass ihr prächtigstes Tor nicht zu irgendeinem Tempel oder Palast führte, sondern einfach auf den größten Marktplatz der Stadt. Naja, und eventuell wollten sie sich mit dem Ding auch einfach bisschen schick machen, weil Kaiser Hadrian bald zu Besuch kam. Und sie bauten gut, denn das Ding überstand im Museum sogar einen Bombeneinschlag im Zweiten Weltkrieg!
Vor ein paar Jahren versuchten ein Berliner Senator und ein Modefürst, das Tor als Hochzeitsgeschenk zu klauen, wurden aber von drei Kindern aufgehalten. Behauptet jedenfalls der Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel.

Wer heute durch das Tor geht, kommt aber nicht mehr auf den Südmarkt, sondern aus einem komplett anderen Tor raus. Das Ischtar-Tor besteht aus absurd vielen blauen Fliesen, auf denen Löwen und deformierte Drachen die Beschützergötter von Babylon herumkriechen. Eigentlich war das bloß das Vortor, und danach kam ein noch viel größeres, das aber nicht mal ins Pergamonmuseum passt, obwohl das Museum ja nun extra gebaut wurde, weil seine Ausstellungsstücke zu große für normale Museen sind. Stattdessen hat man die komplette Prozessionsstraße dazugebaut, mit noch mehr blauen Fliesen und Löwen. Die Babylonier benutzten das Gebilde, um die Statuen ihrer Götter quasi aus der Winterpause von einem Tempel außerhalb der Stadt zurück nach Hause zu schleppen, das war in Babylon das Event des Jahres.
Wer an der richtigen Stelle volle Kanne gegen die blaue Wand läuft, gelangt auch heute noch ins öffentliche Sprechzimmer des blauen Dschinn von Babylon. Behauptet jedenfalls der Kinderbuchautor P.B. Kerr. Ich habe das Gefühl, die komplette Literatur meiner Kindheit diente nur dem Zweck, mich in dieses Museum zu locken. Es hat gedauert, aber der Plan ist nun endlich aufgegangen.

Spreemauer 2: Der Tränenpalast

Nach diesem Ausflug in die Antike springen wir direkt zurück in den Kalten Krieg (und in weiteres Kinderbuch, Emil und die Detektive, da habe ich erstmals vom nachfolgenden Bahnhof gehört). Einmal über die Spree streckt sich eine Stahlbrücke, obendrauf liegt der Bahnhof Friedrichstraße. Die Berliner Mauer stand hier eigentlich gar nicht, trotzdem verlief auch hier eine Grenze: Auf dieser Station stiegen die allermeisten Fahrgäste von Ost nach West um. Ost- und Westgleise waren per Sichtschutz abgetrennt und in ein bürokratisches Labyrinth eingebettet, in dem nicht mal die Mitarbeiter richtig durchblickten. Der perfekte Ort, um Geheimagenten nach drüben zu schmuggeln - viel besser als irgendeine Katzenklappe im Grenzzaun!

Wer die geheimen Agententricks nicht kannte, musste auf dem offiziellen Wege durch den Sumpf der Bürokratie ins andere Land stapfen. Dazu wurde eine blaugraue Halle aus Glas, Beton und braunen Bretterwänden direkt neben den Bahnhof gebaut. Die Grenzer durchkämmten das Gepäck und die Menschen. Für manche war das einfach nervig, für andere psychisch belastend.
Wer als harmlos genug eingestuft wurde, dass er einen Besuch in die DDR genehmigt bekam, der durfte sich hier eine Menge Regeln durchlesen, zum Beispiel, dass er keine Zwiebeln und keinen Maschendraht in den Westen mitnehmen durfte.
Wer in der DDR ganz offiziell seinen Ausreiseantrag genehmigt bekam und legal floh, der sah in diesem Haus zum letzten Mal Freunde und Familie. Darum hieß das Bauwerk Tränenpalast. Natürlich nicht offiziell, aber dermaßen inoffiziell, dass ich keine Ahnung habe, wie es eigentlich offiziell genannt wurde.

Spreemauer 3: Das Regierungsviertel

Am Spreebogenpark werden die Pflanzen spärlicher. Wieder einmal verändert sich das Spreeufer komplett.

Es ist jetzt vollständig von Glas und edlem, zart beigefarbenen Gestein umgeben. Klarer Fall, hier geht irgendwas relativ Wichtiges ab. In diesem Bereich steht der helle Hauptbahnhof, den viele nicht mögen, ich aber schon. Und irgendwo hinter all den modernen Fassaden flattern die Flaggen auf dem Dach des Bundestags.
Fußgängerbrücken führen ans andere Ufer. Eine davon ist zweistöckig: Eine Etage für Beamte (die sogenannte Höhere Beamtenlaufbahn), eine für den Rest. Darunter fahren flache Ausflugsschiffe vorbei.
Haha, das Gebäude da drüben sieht voll aus wie eine Waschmaschine. Warte mal, irgendwo hatte ich mal gehört, das Bundeskanzleramt würde von den Berlinern Waschmaschine genannt, ist das etwa...? Nope, es handelt sich um das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, was auch immer das ist. Bei genauerer Betrachtung sehen echt viele Regierungsgebäude nach einer Waschmaschine aus. Wie soll man da bloß den echten Bundeskanzler finden? Aber vielleicht ist ja gerade das Teil des Security-Konzepts. (Die echte Bundeswaschmaschine war schon auf dem Bild vorher.)
Im Regierungsviertel verlief die Berliner Mauer nochmal ganz kurz am nördlichen Ufer der Spree. Kaum zu glauben, aber dieses Gebiet war mal eine kahle, leblose Ödnis.

Nach Kriegsende lagen die Gebäude in Trümmern, die Bäume wurden zu Feuerholz (nur eine Eiche steht heute noch) und alle Böden zu Kartoffeläckern, um irgendwie durch den Winter zu kommen. Der Reichstag wurde zur Ausstellung, in der gelegentlich mal BRD-Politiker tagten. Daneben stand die Schweizer Botschaft, die im Auge des Sturms alle Kriegsbomben völlig neutral überstanden hatte.
Nach dem Mauerfall machten sich als erstes ein paar internationale Künstler in der Wüste breit, die sich voll entfalteten und alles groß und grün gestalteten - zum sogenannten Parlament der Bäume.
Kurz darauf wuchs das neue Regierungsviertel heran, und es mussten Kompromisse mit den Künstlern gefunden werden. Das führte zu dem seltsamen Ergebnis, das reihenweise Bäume gefällt, aber zugleich in großen Gesten Friedensbäume von Weltpolitikern gepflanzt wurden. Manche Mauerstücke wurden in die drittgrößte Parlamentsbibliothek der Welt eingebaut.
Im Parlament der Bäume soll auch das "einzige komplett Mauerstück" stehen, wie auch immer "komplett erhalten" definiert wurde, damit dieser Rekord hinkommt. Viel konnte ich nicht erkennen, denn die Bäume haben abgestimmt, ihre Blätter erhoben und beschlossen: Ich soll nichts sehen, und die Pforte blieb auch verschlossen.

Die Spree ändert ständig ihr Aussehen. Auf dem folgenden Abschnitt ist alles zusammengewürfelt: Restaurierte Industriegebäude, Plattenbauten des Todes, historische Villen, Ruinen und diese typischen Mietshäuser. Jup, Berlin ist eine bunte Stadt - und dermaßen groß, dass es im Grunde Quatsch ist, ein allgemeines Urteil über diese Stadt zu fällen. Aber tendenziell hat diese Spreetour meinen Eindruck von Berlin eher verbessert. Was aber auch klar ist, am Wasser sind Städte halt meistens schöner.

Am anderen Ufer erhebt sich das Schloss Bellevue am Rande des Tiergarten-Parks. Auf dem Dach flattert eine Flagge. Das bedeutet, Queen Frank-Walter die Erste ist zu Hause, oder?

Auf dem schönsten Teil hatte ich sogar die Wahl, ob ich am linken oder rechten Ufer und ob ich oben oder unten fahren will. Wow, so viele Optionen! Ein grünes Geländer sorgt dafür, dass niemand unfreiwillig von Option oben zu Option unten wechselt.

Ein Kunstwerk erinnert an die Berliner Mauer, die an dieser Stelle aber nicht mehr verlief.

Die Brücken werden immer älter und runder. Hinter diesem Exemplar ragt die Siegessäule in die Höhe. Die Berliner nennen sie auch Goldelse. Angeblich. Allerdings habe ich auch schon gelesen, dass all diese witzigen Spitznamen bloß ein Marketing-Gag sind und kein Berliner die ernsthaft benutzt. Keine Ahnung, welche Quelle nun wirklich Recht hat. Für Auswärtige bleibt es wohl ein ewiges Rätsel, so ähnlich wie die richtige Aussprache der Stadt Edinburgh.

Immer wieder habe ich mich auf schmalen Stegen unter den zahlreichen Berliner Brücken hindurchgequetscht.


Und immer wieder zweigten Kanäle ab, um mich in die Irre zu führen. Die Spree ist doch jetzt das Wasser da drüben, oder... ach nee, ich bin falsch.

Zwischen Kleingärten und Bahngleisen durchquert die Spree einen naturnahen Abschnitt, den ich in Berlin nicht erwartet hätte.

Während die Industrie immer lebendiger wird, geschieht dasselbe mit der Natur.
Die Sicht auf das letzte Spreestückchen verhindern gewaltige Gewerbegebiete. Wo ein großes Kraftwerk Strom produziert, verschwindet der letzte holprige Kiesweg am Ufer.
Oder komme ich da weiter, wo der LKW rauskom... nee, alles verboten. Also bleibt nur die proppenvolle Riesenstraße.

Dieses Spreestück bin ich im Anschluss an meine erste Havelradtour gefahren. Weil ich noch Zeit hatte, beschloss ich: Ich spar mir das Geld für die S-Bahn und fahr direkt direkt Hauptbahnhof - jedenfalls so direkt, wie sich die Spree eben mit ihren Kurven hinschlängelt.

Das war aber, wie gesagt, gar nicht so einfach. Die Mündung der Spree ist von Industrieruinen und 789 Quadratmetern Graffiti umgeben. Während die Havel an dieser Stelle mit perfekten Uferwegen ausgestattet wurde (zum Teil sogar auf beiden Seiten), ist die Spree blockiert.

29 April 2022

Havel: Von Oranienburg nach Spandau

Havelgeschwafel V: Das Mauergrauen
Durch den S-Bahn-Wald - Flussseen - Kanal der Lügen - Mein mitteilsamer Kerkermeister - Wer es geschafft hat, über die Havel und die Mauer zu entkommen - Kleingärtner des Kalten Kriegs - Baustellenirrfahrt - Die Hauptstadt - Zur gelben Schwaneninsel

Oder-Havel-Kanal und Havel vereinigen sich, fließen unter einer Eisenbahnbrücke durch und machen sich auf den Weg nach Berlin.

Für Radfahrer besteht der Weg dorthin erst einmal aus Waldradwegen neben der Straße.

Anders als gestern mussten wir aber immer wieder kreuz und quer durch Berliner Vororte irren, die ich bisher nur als S-Bahndurchsagen kannte:
Nächster Halt: Borgsdorf. Ausstieg in Fahrtrichtung links.
Borgsdorf ist mit monumentalen Bahnschranken ausgestattet, die monumental lange unten bleiben, um monumental viele Züge durchzulassen. Zum Glück wird es nicht langweilig: Eine wartende Mutter beschrieb am Telefon monumental detailliert die Probleme ihres bettnässenden Kindes.

Auf halber Strecke entdeckten wir das Ufer der Havel wieder, kurz nachdem sie die ungefähr 879. Schnellstraße des Tages unterquert hatte. Und nun überrascht die Havel uns.

Dachten Sie, wir wären mit den Havelseen durch? Von wegen, die Seensucht der Havel kennt keine Grenzen!
In Hennigsdorf beginnt die zweite Seenplatte der Havel. Die sieht ein bisschen anders aus. Die Seen sind sehr langgestreckt, man könnte sie auch einfach für einen sehr breiten Fluss halten - nur halt nicht für die Havel, denn die ist im Normalzustand viel schmaler. Bahngleise und Industrieanlagen säumen das Ufer, später werden sie von weißgelben Villen abgelöst. Nanu, auf der Regionalbahn steht irgendwas von Baden-Württemberg? Und da von Schleswig-Holstein? Die Züge sind aber weit vom Weg abgekommen. Ein Blick in den Radführer bringt Antworten: Hier produziert Bombardier, ein kanadisches Unternehmen, S-Bahnen, Triebwagen für Regionalzüge und Mittelwagen für ICEs. (Um einen kompletten Zug zusammenzupuzzeln, braucht es also noch andere Fabriken.) Auch während der DDR schmiedeten die Arbeiter hier Züge.
Nach ein paar Kilometern wiesen uns braune Wegweiser und orangefarbene Pfosten darauf hin, dass hier die Berliner Mauer verlief.

Havelsee Nr. 26: Nieder Neuendorfer See


Wenn Frachtschiffe aus Osteuropa die Häfen von Ostberlin ansteuerten, mussten sie hier jedes Mal durch Westberliner Kontrollen. Für die DDR-Regierung war das höchst unpraktisch, weshalb sie einen Kanal nach Westen grub, um den Westen zu umgehen (klingt komisch, ist aber so). Sie nannten ihn Kanal des Friedens, obwohl es eindeutig ein Kanal des Kalten Krieges war. Diesen Kanal überquerte ich auf der sogenannten Brücke der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, obwohl es eindeutig eine Brücke der Ost-West-Feindschaft war. Ähnlich wie bei den DDR-Fernsehkanälen handelt es sich um einen Kanal der Lügen.


Natürlich gab es auch Schiffe, die ihre Waren mit Absicht durch den Eisernen Vorhang bringen wollten. Die mussten so oder so durch die Kontrollstelle. Sie befand sich genau an dieser Stelle. Sehen Sie die kleinen Inselchen in der Havel? Das sind eigentlich versenkte Schiffe. Die wurden dort platziert, um diesen nassen Grenzübergang besser abzuriegeln und zu kontrollieren. Das wissen nicht mal viele Einheimische.

Woher ich das dann weiß? Tja, ich fuhr gerade nichtsahnend auf dem Radweg entlang, als neben mir plötzlich ein alter DDR-Grenzturm auftauchte. Dieser Grenzturm war ein besonders wichtiger Führungsturm. Er wurde frischem Aschgrau angestrichen und vollständig restauriert. Kaum hatte ich mein Fahrrad abgestellt, um einen Blick auf eine Infotafel zu werfen, da sprach mich auch schon jemand an.
"Kann ich Ihnen helfen?"

Im günstigen Eintrittspreis von 0 Euro ist ein gut informierter, ehrenamtlicher Museumsführer enthalten, der einem die Geschichte interaktiv erklärt.
"Mit einem privaten Boot konnte es leicht passieren, dass man aus Versehen mal die Grenze überquert. Wenn die Grenzpolizei Sie aufgespürt hat, wurden Sie hier eingesperrt und mussten erst mal ein paar Stunden warten." Klapp. Auf einmal schloss sich die Tür der Arrestzelle hinter mir, weil mir der Typ das einmal anschaulich vorführen wollte. Nur dass er aus den Stunden Sekunden machte.



Auf schmalen Treppen (die jedoch Luxus waren im Vergleich zu den Leitern im Grenzturm Kühlungsborn) stieg ich hinauf. Mit der Sprechanlage (unten links) wurden andere Türme angefunkt, und der Hebel (oben rechts) bewegt den großen Suchscheinwerfer auf dem Dach.
In der ersten Etage hängen Texttafeln mit den Geschichten jener, die in diesem Bereich nach Westberlin fliehen wollten. Viele versuchten es, obwohl ihre Chancen besonders schlecht standen. Sie mussten schließlich erfolgreich über die Mauer klettern und durch die Havel schwimmen. Der einzige, der Erfolg hatte, war ein Grenzsoldat, der sich im Gelände gut auskannte.
Im Hintergrund liegt übrigens

Havelsee Nr. 27: Havelsee (richtig einfallsreicher Name)


Übrigens stand an dem Ufer auch mal ein Schloss, das die Grenztruppen komplett abrissen, weil es die Sicht blockierte. Und es ist zu weit entfernt von den berühmten Potsdamer Parks, um wiederaufgebaut zu werden.

In diesen hübschen Nadelwald wurden Zauneidechsen umgesiedelt, die ein Bauprojekt von anderswo vertrieben hat. Hoch über der Havel fährt es sich hier superangenehm bis zu der Stelle, wo die Mauer den Fluss wieder verlässt.
Dort stehen die Kleingartenanlagen Fichtewiese und Erlengrund. Warum ich die erwähne? Weil es die Kleingartenanlagen mit der irrsinnigsten Geschichte in Deutschland sind.

Diese Schrebergärten waren nämlich Westberliner Exklaven. Die "Erlengründer" trotzten sowohl dem Kommunismus als auch dem Kapitalismus: Zuerst kauften sie in den 1940ern ihre Gartenanlage, sodass jedem ein Sechstel gehörte, und bewirtschafteten alles ökologisch ohne fließendes Wasser und Strom. Und davon ließen sie sich auch nicht im Kalten Krieg, mitten im Auge des Sturms, abhalten. Sie mussten sich während der Öffnungszeiten per Sprechanlage melden, ihren Ausweis am Postenhäuschen vorzeigen. Dann kam ein Grenzsoldat, der sie über diesen Betonplattenweg zur Pforte führte. Wer Besucher mitbringen wollte, musste sie ein Jahr vorher anmelden. Die Havel floss gleich nebenan, gehörte aber nicht mehr zur Exklave - baden war also seit dem Mauerbau verboten.
Erst im Juli 1988 bekam Westberlin durch einen Gebietstausch das ganze Gebiet um die Kleingärten dazu.
Heute dürfen sogar die baden, die hier gar keinen Garten haben - gleich nebenan wartet ein kleiner Badestrand mit Restaurant. Rein da!

Immer wieder verschönern blaue Holzbrücken den Weg.

Die restliche Strecke macht weniger Spaß. Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre es: Baustellen. Im immerwährenden Kampf gegen den Berliner Wohnungsmangel wird gebaut, gebaut, gebaut. Wie bitte, ich soll auf die Baustelle abbiegen? Nein danke, so engen Kontakt mit dem Wesen Berlins brauche ich nun auch nicht.

Immer wieder blockieren ehemalige Hafenbecken die Fahrt am Ufer der Havel.

Wer in diesem städtischen Durcheinander noch was von der Havel sehen will, sollte gut aufpassen und nicht die richtigen Abzweigungen verpassen. Das ist mir hin und wieder sogar gelungen.
In diesem Bereich verschwindet der Radfernweg Berlin-Kopenhagen auf seiner eigenen Route ins Zentrum.

Havelsee Nr. 28: Tegeler See

hängt nur mit einem Ende an der Havel dran.


Umgeben von Wassergräben ragt am anderen Ufer ein Koloss aus Backsteinen auf, die Zitadelle von Spandau (hinten rechts, aufgrund ungünstiger Lichtverhältnisse sehr mies zu erkennen - vertrauen Sie mir einfach, die ist da). Die Festung wird vom gegenüberligenden Ufer aus bewacht von einer Armada aus Schwänen und Technomusik hörenden Jugendlichen.

In Spandau führt ein wunderschöner Uferweg an der Havel entlang. Dort hatte ich einen super Blick auf die Mündung der Spree. Gegenüber zweigt ein kleiner Kanal ab, der zwei Arme der Havel verbindet und so mal eben Berlin-Spandau in eine Insel verwandelt.

Diese Insel beinhaltet eine hübsche, gelb gestrichene Altstadt. Und hier endet erst einmal die erste Staffel unseres Havelgeschwafels. Fortsetzung folgt. Irgendwann. Das bedeutet, in ein paar Monaten oder auch in zehn Jahren, falls Sie mit der Zuverlässigkeit dieses Blogs noch nicht vertraut sein sollten.

Die Havelmauer

Länge: 7,6 km
Grenzquerungen: 1
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: Ost (wobei die politische Ostseite hier im Westen liegt)
Erkenntnis: Einen Kleingärtner kann vielleicht eine zu lange Hecke aus der Ruhe bringen, aber kein Kalter Krieg.