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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

29 Oktober 2023

Main: Von Aschaffenburg nach Mainz

Mein Main

Das Angebertal endet - Kleinstädte im Kurzvergleich - Ein langer, flacher Windkanalpark - Die Stadt der boomenden Bücher - Kotzgrüne Kartoffeln - Der Turmbau zu Frankfurt - Wie und unter welchen Bedingungen die verschiedensten Mainbrücken errichtet werden - Anderer Adolf als Architekt - Spitzenleistung

Auf meiner Entdeckungsreise durch Hessen darf natürlich auch der größte Strom mit der dazugehörigen größten Stadt nicht fehlen. Den kompletten Main mache ich ein andermal, vorerst belasse ich es beim hessischen Teil. Einmal quer durchs Bundesland, an einem Tag - ob das klappt? Locker!

Beginnen wir also in Aschaffenburg. Ein imposantes Riesenschloss, hohe Mauern und Weinberge über dem Fluss? Klarer Fall, ich muss noch in Bayern sein. Wow! Wie soll Hessen da nur mithalten können?
Dies ist die typische Kulisse einer bayrischen Mainstadt.

Und in Aschaffenburg ist es tatsächlich nur Kulisse, denn hinter der opulenten Vorderseite kommt wirklich kaum noch etwas Sehenswertes zum Vorschein. Nur noch ein Kleidermarkt.

Nah, lieber schnell zurück ans Wasser, wo es prächtig weitergeht mit bewachsenen Felswänden unter dem letzten Mainwein.

Jenseits der Weinberge wird es schon weniger prächtig: Industrie und Irritation säumen die Ufer. Ich schob Betontreppen auf und ab und fragte mich, auf welchem Ufer es denn nun weitergeht. Antwort: Am Südufer. Ab jetzt kann man mit dem Südufer eigentlich nie was falsch machen.
Hinter mir zogen sich die letzten Berge zurück. Der hessische Main ist ein flacher Fluss. Ausgebremst werden die Radfahrer nur vom kräftigen Westwind, falls sie in Richtung Westen zur Mündung fahren.
Im Jahre 1903 gab es hier zwar schon eine Eisenbahnbrücke über den Fluss, aber Fußgänger kamen nicht rüber. Deswegen erhielt ein Fährmann die Erlaubnis, 24/7 hin und her zu fahren, auch nachts. Irgendwie mussten die Arbeiter schließlich zur Zellstofffabrik kommen. Sogar die Feuerwehr rückte auf dieser Fähre zum Löschen an. Erst 1954 erhielt die neue Brücke einen Fußgängersteg.

Wo ist denn nun Hessen? Der Main wird kurz zum Grenzfluss, dann verbirgt sich die Grenze im grünen Gestrüpp und gibt Rätsel auf. Hier stand mal die Grasbrücke, was auch immer das sein soll. Sie überquerte einen Graben zwischen Hessen und Bayern, und alle Kaufleute mussten auf dem Weg zur Frankfurter Messe einen gesalzenen Zoll abdrücken.

Und dieses Geld steht heute noch herum, also quasi. Die Zölle gingen nämlich ans Kloster Seligenstadt, das damit eine bestürzend niedrige Stadtmauer mauerte.

Hinzu kommen erschreckend schiefe Fachwerkhäuser.

Seligenstadt ist das Gegenteil von Aschaffenburg: Von außen nicht so beeindruckend oder pompös, aber von innen ein echter Hingucker. Und noch dazu voller voller Eiscafés! Definitiv eine Pause wert.

1883 war der Main noch zu flach, und die Schiffe vom Rhein kamen nicht rhein. Die innovative Lösung: Ganze elf dicke Staustufen vergrößern den Fluss, jede mit fetten Betonblöcken, kleinen Wasserfällen, einer blauen Fußgängerbrücke, blauen Treppen und einer Art Flughafenterminal. Die Staustufe Krotzenburg prahlt großkrotzig damit, sie sei die erste der 11 und habe damals als allererste Staustufe moderne Trommelwehre bekommen. Das eingebaute Wasserkraftwerk wurde 1981 aber dichtgemacht.

Im Prinzip fuhr ich jetzt bis zur Mündung fast durchgehend durch einen sehr langen Park. Der hessische Mainradweg ist auf jeden Fall großartig ausgebaut, oft auch an beiden Seiten. Ich bin aber einfach immer im Süden geblieben (außer für zwei Städte).

Warum? Never change a running system! Und gerannt bin ich in der Tat, geradezu durchgeglitten durch die 100 Kilometer Hessen, wie ein Messer durch Butter, die jemand vergessen hat, in den Kühlschrank zu stellen. Das geht allerdings nur, wenn der kräftige Wind im Maintal in die passende Richtung weht. Und meistens soll er hier von Westen wehen, also wäre es wohl gar nicht so doof, an der Mündung zu starten, falls man den hessischen Main als Tagesausflug fährt.
An beiden Ufern drängen ragen spitze Kirchtürme aus den Baumwipfeln, weiße Häuser gucken besorgt über den Deich, Stadt um Stadt reiht sich aneinander, so viele, dass ich sie mir unmöglich alle ansehen kann.

Klarer Fall: Ich dringe allmählich in ein Ballungsgebiet ein. Aber stellen Sie sich das bitte nicht so vor wie im Ruhrpott: Dieser Ballungsraum ist angefüllt mit vielen überraschend süßen kleinen Städtchen.
Ohne Berge können die Städte ihre Schlösser nicht mehr hoch über dem Pöbel aufragen lassen. Was sie aber nicht davon abhält, Schlösser zu bauen: Die sind dann halt ebenerdig und verstecken sich hinter dicken Stadt- und Schlossmauern.

Dieses putzige Türmchen ragt direkt über dem Mainradweg auf (siehe oberes Bild) und enthält einen Rastplatz. Die Zöllner kassierten hier den Steinheimer Zoll ab, sobald jemand die königlichen Wasserstraßen benutzen wollte. Ui, nach Frankfurt zu kommen war echt teuer damals.

Um dort hineinzukommen, musste ich erstmal in den Schlossgarten von Steinheim (was für ein passender Name) reinfinden. Steinheim wird ist eingeschlossen von einer Pressmauer - wahrscheinlich heißt die so, weil sich die Häuser in der engen Stadt an die Mauer pressten.

Aber auch Druckerpressen gab es in der Stadt. Sie spuckten aber nicht Grimms Märchen oder Goethes Dramen aus, sondern bloß Zigarettenverpackungen und Etiketten. Die müssen ja auch irgendwo herkommen.
Steinheim ist ähnlich ansehnlich wie Seligenstadt, aber deutlich ausgestorbener.

Am gegenüberliegenden Ufer liegt wiederum das Gegenteil von Steinheim: Lebendig, aber mit langweiligem Look. Hanau bewirbt sich gern als Märchenstadt der Brüder Grimm, welche hier schrieben, bis sie als Statuen und Ampelmännchen in den Ruhestand gingen. Doch würden die Brüder heute von ihrem hohen Sockel steigen, wären sie sicher entsetzt, was der Krieg aus ihrer alten Stadt gemacht hat. Märchenhaft sieht anders aus.

Mühlheim am Main hatte ganze 10 Mühlen, die aber alle an den Nebenflüssen standen. Erst später entstand ein Wasserkraftwerk, das mitten im Fluss in die Höhe ragte und deswegen "Kirche im Main" genannt wurde. Seine heiligen Turbinen wurden inzwischen abgebaut und durch ein moderneres Bauwerk ersetzt.
Am Ufer informiert die Klimaroute über die Landschaften am Main, wie zum Beispiel den... Amazonas-Regenwald? Okay, offenbar bin ich weiter gefahren, als ich dachte. Die Infotafel stellt einen Direktvergleich der Flüsse her und kommt zu folgendem Schluss: Der Amazonas ist der fischartenreichste Fluss der Welt, aber die Fische leiden unter Waldbränden, Rodungen und ausgetrockneten Nebenarmen. Am Main dagegen leben viel weniger Fischarten, die von Staustufen in einem unnatürlichen Fluss eingesperrt werden, aber unterm Strich trotzdem weniger gefährdet sind als ihre Amazonas-Artgenossen. Welche Arten das genau sind, verrät eine Wand im Wasser.
Später erzählt die Klimaroute unter anderem von den Auwäldern an der Daugava/Düna in Lettland. Mann, ich komme heute mal wieder richtig weit rum.

Die Bewohner von Rodgau schützen sich auf ihre ganz eigene Art mit merkwürdigen Mauern. Gegen das Hochwasser hilft diese spezielle Stadtmauer. Und gegen Banditen, die es auf die Kaufleute auf dem Weg zum Markt abgesehen haben, hilft das Rodgauer Landwehr - einfach zwei Erdwälle plus einen Graben dazwischen komplett mit Pflanzen überwuchern lassen.

Ein Bahngleis begleitet mich nach Offenbach. An seinem Ende knickt es in den Himmel ab und wird zu einer Spirale verdreht. Dieses Kunstwerk hat definitiv meinen Blick gefangen! So ähnlich muss die DNA eines Lokführers aussehen.

Und da ist auch schon der erste Wolkenkratzer! (Im Grunde ist dieses Foto ein super Symbolbild für die komplette Architektur der heutigen Strecke.) In seinem Schatten schrieb Goethe am Faust, wenn er nicht gerade mit seiner Verlobten Lili Schönemann beschäftigt war. Etwa gleichzeitig bewies Sophie La Roche nebenan als erste deutsche Frau, dass XX-Chromosomenträgerinnen nicht nur dichtende Männer inspirieren, sondern auch selbst Erfolgsautorin werden können.
Trotzdem vermarktet sich Offenbach heute eher als Shoppingstadt und nicht als Kulturstadt. Wir haben ein hochwertiges Warensortiment, gute Beratung, starken Service, kurze Wege, heißt es auf den touristischen Tafeln, die eigentlich die Sehenswürdigkeiten hinweisen sollen. Alles schön und gut, aber deswegen reise ich doch nicht extra in eure Stadt.

Im Hafen Offenbach wurden Holz, Kohle und Metall verladen, ach, nee, warte, die Industrielle Revolution ist vorbei, dann machen wir halt einen Ölhafen draus, obwohl, ups, Ölkrise, na gut, dann lass uns da halt ein fancy Wohnviertel reinbauen. Ich bestieg einen der Hafenkräne, um mir einen Überblick zu verschaffen.

Das Hafenviertel ist reich an Grafittikunst, die entweder einen grauen Tunnel mit bunten Schuppen verziert oder auf einer verstörend dunklen Mauer prangt, die aussieht, als sei sie aus Berlin entwendet worden.

Noch ein Wolkenkratzer! Der hier gefällt mir irgendwie. Er sieht aus, als hätte sich im Himmel eine Riesentür aufgetan.

Ah, da ist noch einer... aber wo sind die anderen Hochhäuser? Da drüben müsste doch jetzt schon das Frankfurter Zentrum sein, oder? Ist es auch: Die anderen Glastürme haben sich aus meinem Blickwinkel raffiniert hinter dem vordersten Hochhaus versteckt. Je näher ich komme, desto mehr entfaltet sich das sogenannte Mainhattan.

Frankfurt hat ja nicht direkt den besten Ruf unter den deutschen Städten. Deshalb hat mich überrascht, dass alle Frankfurter, denen ich begegnet bin, wirklich ausnehmend freundlich waren. Die Spaziergänger im Park entschuldigten sich sogar einfach nur dafür, dass sie denselben Weg benutzten (obwohl sie es definitiv durften).
Total unangenehm dagegen waren die Menschen in den Zügen nach Frankfurt. Kann es sein, dass sich der Mythos des asozialen Frankfurt irgendwie verselbstständigt hat und jetzt alle dahinfahren, um sich mal so richtig danebenzubenehmen?
Oder sind das einfach nur zufällige subjektive Erfahrungen, aus denen ich mal wieder eine bekloppte Theorie zusammenspinne?
Nee, das erste muss es sein, eindeutig.

Das obere Foto zeigt das Bild, das vermutlich jeder von Frankfurt hat.
Das untere Foto zeit ein Bild, das vermutlich nicht jeder von Frankfurt hat. Mit dieser hübschen Aufnahme können Sie sogar Menschen überraschen, die schon mehrfach dienstlich in Frankfurt waren (für Sie getestet). Ja, Frankfurt hat eine rotweiße Altstadt aus Sandstein und Fachwerk. Längst nicht so groß wie in Mainz, aber auch nicht superklein. Und eigentlich auch nicht schwer zu finden. Außer wenn man nicht sucht, weil man null damit rechnet, so etwas in einer Stadt zu finden, von der man ein völlig anderes Bild im Kopf hat.
Zu sehen ist das Rathaus, das aus irgendeinem Grund Römerberg heißt, obwohl es weder aus römischer Zeit stammt noch auf einem Berg steht.
Nicht weit entfernt in Mainz hatte ja Gutenberg der Buchdruck erfunden, und so siedelten sich die ersten Buchhändler am Frankfurter Kornmarkt an und verdrängten die Handwerker. In der Buchgasse erschien die erste gedruckte deutsche Bibel, und in der freien Reichsstadt waren sogar Luthers Texte noch legal erhältlich. 1480 überlegten sich die Händler, sie könnten noch mehr Buchnerds aus ganz Europa anlocken, indem sie einfach zweimal im Jahr ein extragroßes Event veranstalteten. Und so wurde hier die weltberühmte Buchmesse geboren (die heute natürlich längst in riesige Glashallen zum Stadtrand umgezogen ist).
Auf diesem Platz fand aber auch das genaue Gegenteil einer Buchmesse statt: Bücherverbrennungen. Eine kleine mobile Ausstellung erklärte mir, wie genau die Nazis hier Gedanken in Asche umwandelten, zuerst wahllos, später bestens organisiert in schwarzen Listen, zuerst in Innenstädten, später auf extra brandschutzkonformen Flächen außerhalb (eine ähnlicher Umzug wie die Buchmesse also, schon makaber). Die meisten Verbrennungsorte sind bis heute nicht gekennzeichnet.

Jetzt ergibt es auch endlich Sinn, das Goethe hier geboren wurde - zwischen den Glastürmen der Banken konnte ich ihn mir nicht so richtig gut vorstellen. Ein Struwwelpetermuseum zeigt die berühmten deutschen Kindergeschichten, die sich bis heute hervorragend eignen, um Amerikaner zu verstören. Und das Museum gegenüber überraschte mich im Schaufenster mit einem Gedicht des Satirikers und Verlegers Friedrich Stoltze, von dem ich vorher noch nie gehört hatte.

Man soll sein Lichtlein ohne Not
Nicht untern Scheffel setzen,
Das ist ein biblisches Gebot,
das wissen wir zu schätzen;
Doch weil in dieser Zeit voll Wind
stets in Gefahr die Lichter sind,
so stecken wir, als kluge Herr'n,
Das unsrige in die Latern'.

Natürlich ist auch Luther mehrmals hier gewesen (Worms ist ja nicht weit entfernt). Er pennte unweit der Nikolaikirche. Für gewöhnlich ist auf den Luther-war-hier-Tafeln dann die Rede davon, dass er predigte und Anhänger fand. In Frankfurt dagegen soll er von vorneherein von seiner begeisterten Fanbase bejubelt worden sein, woraufhin er sich die ganze Nacht mit den Frankfurtern die Köpfe heißdiskutierte. Kein Wunder in einer Stadt der Buchnerds.

Meine Mittagspause in Frankfurt abzuhalten, erwies sich als Fehler. Ein Geschäft warb mit einer Spezialität namens Frankfurter Grüne Soße. Bei dieser Soße handelt es sich um eine kalte Pflanzenpampe, bei der zwei lauwarme Kartoffeln weder Geschmack noch Temperatur retten können.

Erst hinter der Altstadt beginnt der Bereich, in dem sich die meisten Hochhäuser konzentrieren. Als Fan hoher Aussichtspunkte war mir natürlich wichtig, einen davon zu besteigen. Welchen nehme ich denn? Tja, die Auswahl ist nicht sonderlich groß. Es gibt nur einen einzigen, von dem man als Normalsterblicher ohne großes Gewese runtergucken darf. Das macht Frankfurt jetzt nicht unbedingt sympathisch, aber egal.
Der Maintower ist eine verspiegelte Riesenröhre, die aussieht, als sei sie aus riesigen, gebogenen Glaspuzzleteilen zusammengesetzt. Eintritt zahlen, durch eine Flughafenkontrolle und ab in den Aufzug. Jawoll, endlich mal ein Fahrstuhl in einem derart besonderen, hohen Turm, bei dem nicht extra ein Liftboy mitfahren muss. Frankfurt traut seinen Besuchern zu, selbst auf einen Knopf zu drücken! Das macht die Stadt wieder sympathischer.
Die Kabine zischt 200 Meter aufwärts. Oben stecken ein Fitnessstudio und ein Restaurant drin. Was in den restlichen Stockwerken ist? Wahrscheinlich Büros, die man aber auf anderem Wege erreicht. Im Aufzug gab es nur die Knöpfe Erdgeschoss, 52 und 53, dazwischen absolut gar nichts.

Über dem Fitnessstudio befindet sich ein komplett verglastes Stockwerk mit Toiletten. Hm, die Aussicht ist zwar nicht schlecht, aber das kann noch nicht die Plattform sein - sonst würden die Bauarbeiten auf dem Balkon nicht so viel verdecken, oder? Tatsache, die Treppe dort bringt mich noch höher.
Das letzte Stockwerk ist auch verglast, aber nur noch so halb. Die Fenster bilden zugleich das Geländer, und auf der einen Seite wurden sie als Windschutz erhöht - ein Safe Space für alle, deren eisgekühlte Ohren eine Pause von den scharfen Luftströmen brauchen.
In der Mitte gruppieren sich Sitzbänke (ohne jeden Windschutz) um einen Mast, der misst, wie stark genau es gerade weht. Ich bin mir sicher, die kleinen Windrädchen kamen zu folgendem Ergebnis: Sehr stark.
Oben an der Ostsee flutete gerade ein Sturm die Küsten, aber auch hier unten in Hessen pfiff der Wind ordentlich. Und auf Deutschlands viertgrößtem Haus umso mehr.

Das Nette am Wind war allerdings: Er jagte die Wolken so schnell über die Bühne, sodass sie gar keine Zeit hatten, um die Sicht zu verdecken oder gar Wasser zu lassen. Und so konnte ich doch erstaunlich weit gucken. In Richtung Norden funkeln in der Farbe von tiefschwarzem Obsidian die zwei Türme einer Bank - sind das die, bei deren Eröffnung es damals so viele gewaltsame Demos gegeben hat? Und dahinter, überraschend nah, die ersten Gipfel des Taunus.

Im Südwesten sind auch Berge, wenn auch weiter entfernt. Hm, welches Gebirge war denn da nochmal? (Der Odenwald. Das musste ich nachschauen, weil ich da noch nie war und der Geographieunterricht zu lange zurückliegt.)
Ständig steuern irgendwelche Flugzeuge die grauen Linien am anderen Ufer an, das muss der Frankfurter Flughafen sein. Oder, ach nee, das Flugzeug da drüben fliegt gerade erst los. Für Flugzeugfans könnte das hier der beste Aussichtsturm Deutschlands sein (mal abgesehen von Aussichtsplattformen direkt in Flughäfen).
Ich bin ja aber eigentlich Fluss- und Fahrradfan, wie viel sehe wohl vom Main? Fast nichts! Schon nach der ersten Biegung wird der breite Fluss unsichtbar, selbst das Grün der Bäume am Ufer lässt sich zwischen all den Gebäuden kaum ausmachen. Ich hatte gehofft, in der Ferne schon den Rhein zu erkennen, aber das konnte ich mir definitiv abschminken. Ob das da am Horizont Mainz ist? Absolut keine Ahnung. Ganz schön schwierig in einem Ballungsgebiet.

Andererseits: Immer noch besser als der Blick nach Osten. Denn die Konkurrenz hat ihren Wolkenkratzer gerade verlängert und dem Maintower damit den Blick auf die Altstadt und alles, was ich heute schon vom Main gesehen habe, geklaut. Frechheit! Gott, kannst du mal bitte das mit Babel wiederholen?

Wie auch immer, zurück ans Südufer. Im Norden mündet die Nidda im höchst mittelalterlichen Höchst in den Main, im Süden muss ich das Ufer verlassen, weil der nicht ganz so mittelalterliche Industriepark von Höchst gern direkt am Wasser Insulin und andere Medikamente produzieren will. Macht aber nichts, der Radweg führt trotzdem ganz bequem an einem Erdwall entlang, nur halt ohne Wasser dahinter.

Nebenan wurde mit Saatgut und Düngemittel experimentiert. Diese Versuchsfelder hat die Natur inzwischen gebraucht zurückbekommen.
Kurz darauf sprang mir ein kleines Kirchlein ins Auge. Ob darüber etwas auf der Infotafel neben dem Eingang steht... nope, es geht ausschließlich um die kanadische Raffinerie für transatlantisches Öl, das über Rotterdam hierherkam und anschließend Europas Tankstellen versorgte.
Die Caltex-Raffinierie ist inzwischen schon wieder Geschichte, aber bis heute steuern Schiffe voller Öl den Ölhafen von Raunheim an. Damit ich nicht schon wieder einen Umweg machen muss, führt eine Ölhafenbrücke über die Einfahrt. Dieser eindrucksvolle weiße Schnörkel wurde extra so gebaut, wie die Ölkonzerne ihn gern haben wollten: Möglichst kompakt, deshalb fahre ich in einer Spirale hinauf. Und das ganz spezielle Geländer ist besonders breit, um zu verhindern, dass irgendwer brennende Zigaretten in die Ölschiffe wirft. Zugegeben, das ist mal eine vollkommen nachvollziehbare Forderung eines Ölkonzerns.

Auch die nächste Brücke wurde von und für die Industrie gebaut: Auf der sogenannten Opelbrücke sollen die Angestellten über den Main kommen, um Autos zusammenzuschrauben. Davon finanzierten Fritz von Opel und Direktor Wenske in ihren weißen Opelvillen. (Ja, die heißen wirklich so.) Die olle Festung nebenan hatte da ihren Status als Machtzentrum längst verloren.
Passenderweise zeigt das moderne Kunstwerk im dazugehörigen Park ein Rad, und auch in den Villen ist heute Kunst untergebracht.

Bevor das Dampfschiff erfunden wurde, wollten die Seefahrer auch gern den Main hoch bis nach Frankfurt. Aber wie? So kräftig bläst der Wind im Maintal nun auch wieder nicht. Wie an der Ruhr wurden die Schiffe von Pferden und sogenannten Leinenreitern gezogen. Und wie an der Ruhr ist der Ursprung des Flussradwegs eigentlich der Leinpfad, auf dem sich diese tierischen Arbeitskräfte kaputtschufteten. Allerdings waren der Fluss und dementsprechend auch die Schiffe etwas breiter als an der Ruhr, deswegen brauchte es bis zu sechs Pferde pro Schiff. Eine Statue erinnerte an diese harte Arbeit. Wahrscheinlich sitzt der Leinenreiter verkehrt herum, damit er das Schiff im Blick hat.

Tja, und befand ich mich auf einmal schon auf dem Gebiet der Stadt Mainz, und zwar im Stadtteil Gustavsburg, dessen Name im Grunde schon seine ganze Geschichte enthält. Als der schwedische König Gustav Adolf nämlich im Dreißigjährigen Krieg hier vorbeikam, da sah er Mainz, dachte sich "Meins" und besetzte die Stadt. Weil es in der Stadt keine Burg gab, die seinen Ansprüchen genügte, baute er sich eine am anderen Rheinufer. Und woraus genau bestand diese Gustavsburg? Nun, wenn ich mich im Park so umsehe, dann errichtete Gustav Adolf offenbar eine lückenhafte Burgmauer aus Gabaionen (das sind diese Drahtgitterkästen voller Steine), legte einen Steinkreis der Geborgenheit an und baute in die Mitte einen düsteren Holzturm voller Kletternetze für seine Kinder.
War bestimmt nicht einfach, das zu verteidigen. Aber immerhin: Der Kletterturm wird abends abgeschlossen.

Ich musste nochmal kurz vom Main weg, und raste ich auch schon auf die Spitze zwischen Main (links) und Rhein (rechts) zu. Die Eisenbrücke rechts bringt bringt Radfahrer und S-Bahnen rüber nach Mainz.

Bequeme Liegen luden mich dazu ein, die Mainmündung zu bewundern. (In trockenem Zustand wären sie allerdings noch bequemer gewesen.) Ein riesiges Schild für die Schiffe markiert die Mainspitze, und falls es zum Lesen schon zu dunkel sein sollte, blinkt obendrauf ein rotgrünes Lämpchen. Die Spitze ist nicht so spektakulär geraten wie das Deutsche Eck an der Mosel, aber zumindest die alte Skyline von Mainz ist gut zu erkennen. Und zum Schiffegucken ist der Ort spitze.
Weil ich Mainz ja schon vom Rheinradweg kannte, konnte ich direkt zum S-Bahnhof Gustavsburg abbiegen.

26 Oktober 2023

Nidda: Von Ulrichstein nach Frankfurt

Der ehrliche Reiseführer zum Nidda-Radweg

1. Steigen Sie an der Haltestelle Ulrichstein Wiesenhof aus dem Bus. Keine Sorge, der Bus ist meist leer und der Fahrer sagt nichts, wenn Sie ihr Rad reinstopfen.
Falls Sie dennoch nicht unerlaubt Bus fahren möchten, starten Sie am Bahnhof Nieder-Ohmen auf der Ohmtaltour nach Ulrichstein. In dem Fall müssen Sie sich aber so richtig ins Zeug legen, wenn Sie an dem Tag noch die Nidda schaffen wollen.

2. Holpern Sie einen Feldweg schräg runter und zack, schon sind Sie mitten auf dem korrekten Radweg. Mit der Wiesenhof-Haltestelle haben Sie nochmal ein paar Kilometer gespart, auch wenn Sie dafür Ulrichstein nicht besichtigen konnten.

3. Nutzen Sie mapy.cz oder andere Onlinekarten, einen Reiseführer gibt es noch nicht. Oder folgen Sie einfach dieser roten Pfeilspitze. Ein cleveres Logo, das gleichzeitig die richtige Richtung verrät.
Oft verraten die Wegweiser auch, wie weit es noch zur Mündung ist. Noch 97,1 Kilometer, ui... aber lassen Sie sich ruhig von der stetig schrumpfenden Zahl motivieren.

Folgen Sie dem Kiesweg ganz intuitiv durch all seine Knicks, Kurven und sanften Anstiege. Bezwingen Sie schließlich ohne große Anstrengungen die Spitze des Sieben Ahorn, immerhin der drittgrößte Gipfel im Vogelsberg. Vorsicht, die Meinungen gehen auseinander, wo genau der liegt: Zuerst behauptet das Holzschild, Sie seien schon oben, aber die Karte sagt, noch ein Stück weiter, Sie hätten es geschafft. Die zweite Stelle scheint auf jeden Fall höher zu liegen.

4. Der Hohe Vogelsberg heißt nicht ohne Grund Land der tausend Hecken und hundert Quellen. Stoßen Sie auf eine Wiese vor und finden Sie die Ursprünge der Nidda, welche säuberlich mit Holzschildern markiert sind:

  • Hinter Ihnen kommt ein zugewachsener Bachlauf von einer anderen Wiese, in dem aber zur Zeit nichts mehr fließt.
  • Der Landgrafenborn ist die klassische Standardquelle: Ein Rohr in einer Mauer, aus dem es plätschert.

  • Ein Stück weiter unten finden Sie einen Quellfluss, der (obwohl er kürzer ist) zur offiziellen Niddaquelle ernannt wurde. Kein Wunder, es handelt sich immerhin um die schönste Quelle im ganzen Vogelsberg. In einer geschützten Waldmulde quillt das Wasser ganz sanft aus der Erde und sucht sich einen schattigen Hohlweg. Mit 720 Metern ist das die höchste Quelle in der Gegend.

5. Ignorieren Sie die Wegweiser und nehmen Sie die Abkürzung direkt an der Nidda. Die fast genauso gut zu fahren, kürzer, näher am Wasser, Sie kommen direkt an der Niddaquelle vorbei und schöne Rastplätze sind auch dabei.
Beobachten Sie, wie morgens Dampf von einer einsamen Bank aufsteigt, als würde dort ein unsichtbarer Raucher vor sich hin paffen.
Füllen Sie bitte kein Trinkwasser aus den Entwässerungsgräben im Hochmoor ab. Das Wasser ist auch so schon knapp: Das Moor entstand seit der letzten Eiszeit und hat sich vom Grundwasser getrennt. Jahrtausendelang reichte dem Moor der Regen völlig aus, um sich vollzusaugen - bis die Menschen diese lästigen Gräben reinpieksten und das Regenwasser wegschlürften. Inzwischen werden sie wieder verschlossen.


6. Überqueren Sie die kleine Nidda in einem orangefarbenen Plastikrohr unter dem Weg. Drehen Sie nun eine große Runde am Berg- und Waldrand einmal um ihr Tal - der großartigste Teil des Niddaradwegs!


Schauen Sie ein paar Meter nach links zu den kleinen Teichen in der Nidda. Sie werden wahlweise Flößerteiche oder Forellenteiche genannt - also was denn nu? Beides ist richtig: 1616 wurden die Teiche gebaut, um damit künstliche Flutwellen zu erzeugen und gefällte Bäume ins Tal zu schwemmen, was nur bei Hochwasser wirklich funktionierte. Es klingt nach ziemlich gefährlichen Methode, also probieren Sie dieses Fortbewegungsmittel lieber nicht aus! Später wurde es in den Teichen etwas ruhiger, weil darin nur noch Fische gezüchtet wurden.

7. Jetzt hat die Nidda ein tiefes Kerbtal in die Berge geschnitten. Da müssen Sie runter, aber hören Sie um Gottes Willen auf das Schild und brettern Sie möglichst vorsichtig abwärts.
Absteigen müssen Sie aber nicht (solange Ihre Bremsen funktionieren). Wenn auch nur aus dem Grund, dass den Verfassern des Warnschilds bestimmt klar war, dass kaum jemand auf Bitte-absteigen-Schilder hört.
Angeblich kann man von hier schon die Wolkenkratzer von Frankfurt sehen, aber haben Sie da bitte nicht zu hohe Erwartungen.

Direkt an der Nidda wachsen Erlen, dann folgt Weideland und weiter oben am Wegesrand stehen Kopfweiden. Sollten Sie eine Weide sehen, deren Äste fast schon so dick sind wie bei normalen Bäumen, dann rasieren Sie ihr dringend den Schädel! Sonst bricht sie unter dem Gewicht auseinander und der Schwefelporling, der Steinkauz und der Große Abendsegler sind auf einmal obdachlos. Besonders für den Eremiten wäre das eine sehr ungewohnte Situation, denn dieser Käfer hockt in seiner Baumhöhle, futtert schwarze Pflanzenreste und geht sein ganzes Leben lang nie nach draußen (der Gamer unter den Insekten).
Die Menschen haben sich nun einmal Bäume zurechtgezüchtet, die ihnen alle drei Jahre frische Ruten zum Flechten liefern, und jetzt kommen die Weiden ohne regelmäßige Rasur gar nicht mehr klar.
Biegen Sie ein auf einen perfekten Radweg im Niddatal und stellen Sie fest: Für so einen kleinen Fluss ist er echt gut ausgebaut. Ja, ich würde sogar so weit gehen und sagen: Von all den Mini-Flussradwegen, die keinen Bikeline-Radführer haben, gefällt mir der hier am besten.

8. Sagte ich, ein perfekter Radweg? Da bin ich doch etwas zu weit gegangen. Hier oben müssen Sie den Weg jedes Mal verlassen, wenn ein Örtchen kommt, und sich durch die fachwerkigen Gässchen schlängeln. An dieser Walkmühle von beginnt Schotten, der erste Ort an der Nidda.
Was haben ein britischer Barkeeper, ein Seemann und ein Getränkemarkt im Vogelsberg gemeinsam? Sie machen die Schotten dicht!

In Schotten drehten sich einst 60 Mühlsteine aus Basalt, dem typischen Gestein der Gegend. Vor der Kirche lief damals der Mühlgraben, der sie mit Wasser versorgte. Für 60 Mühlen reicht der Kirchplatz allerdings nicht.
Was also tun, wenn Sie als Künstler jede einzelne Mühle in einem Brunnen darstellen wollen? Stellen Sie einfach fünf Springbrunnen mit Mühlrad auf und behaupten Sie, jeder Brunnen repräsentiert 12 Mühlen. Damit die Zahl aber nicht ganz so willkürlich wirkt, stellen Sie außerdem klar, dass die fünf Wasserläufe die fünf Arten von Mühlen beziehungsweise die fünf Schritte zum Brot (Säuen, Wachsen, Ernten, Mahlen, Backen) darstellen. Außergewöhnlich ist, dass der Brunnen sogar noch Ende Oktober sprudelt. Andererseits liegt der Gefrierpunkt ja auch noch weit entfernt.

Sie mögen Vögel? Dann besuchen Sie den Vogelpark Schotten.
Sie sind geizig und mögen australische Vögel? Dann gehen Sie noch vor dem Eingang links auf die Aussichtsplattform und lassen Sie sich völlig kostenlos misstrauisch anstarren von einem Vogel Strauß... ach nee, ist ein Emu. Ein Gehege mit ein paar Vogelarten ist gratis zu sehen, quasi als kostenlose Probeversion des Vogelparks. Der Zoo scheint sich bei Apps und Computerspielen Inspiration geholt zu haben.

Sie mögen Vulkane? Dann haben Sie Pech, falls Sie an einem Oktobermontag gefahren sind. Der Vulkanbrunnen im Park sprudelt nicht mehr, und das moderne Vulkaneum ist montags geschlossen. Kommen Sie für das Museum an einem anderen Wochentag. (Am besten wenden Sie diesen Tipp generell auf alle deutschen Museen an.)

Sie mögen Wasserfälle? Dann haben Sie Glück. Entdecken Sie die hinterste Ecke des Stadtparks und beobachten blicken Sie von der Brücke hinunter. Die Nidda stürzt im Stadtpark das ganze Jahr über einen zwei Meter hohen Felsen. Beziehungsweise über einen zweihundert Zentimeter hohen Felsen, wie die Website behauptet. (Soll vielleicht nach mehr klingen, für mich klingt es eher nach weniger.)

9. Umrunden Sie den strahlend blauen Nidda-Stausee und entspannen Sie auf einer bequemen Bank.

Überqueren Sie schließlich die graue Staumauer und werfen Sie einen Blick in den Betontrichter, soweit möglich. Markierungen zeigen an, dass das Wasser anscheinend nur selten überläuft. Der Turm ist so hoch, wenn das Wasser wirklich bis dahin reicht, wären grob geschätzt schon die ganzen Wiesen ringsherum überflutet.

Überraschung: Gevatter Tod hat endlich geheiratet. Gratulieren Sie ihm ruhig. Aber schütteln Sie ihm nicht die Knochenhand. Die Halloweendeko darf nicht berührt werden.

Fahren Sie an zwei Hohlkellern vorbei. Die wurden in die Erde gebaut, um Kartoffeln und Getränke schön kühl zu halten - wann genau, weiß niemand. Falls Sie also im 18. Jahrhundert einen hessischen Apfelwein bestellen sollten und sich wundern, wo der Kellner bleibt - er muss erst mal bis hierher radeln. Mal eben zum Kühlschrank laufen war damals mangels Kühlschrank keine Option.

Natürlich kommt auch auch die Nidda nicht ohne die üblichen grauen Dorfmauern aus, in die der Fluss innerorts reingepackt wird. Auf diesem Bild ist das gemauerte Flussbett ungewöhnlich großzügig geraten.

10. Der Radweg wird immer lückenloser, ab jetzt dürfen Sie endlich an den Ortschaften vorbeiradeln. Sausen Sie hindurch zwischen einem See und dem Flutgraben, der die Stadt Nidda vor der Nidda beschützt.

Natürlich können Sie die Orte trotzdem angucken. Nidda, der erste Ort an der Nidda mit Bahnhof, hat zum Beispiel einen hübschen Brunnen und eine schiefe Fachwerkstraße.

Nanu, ist das ein Bahntrassenradweg? Dabei gibt es hier doch eine richtige Bahn im Tal? Studieren Sie irritiert das Schild, das verdächtig nach einem Bahnhof aussieht.
Um auf andere Gedanken zu kommen, wandern Sie über den Barfußpfad ins Kneippbecken. Wenn Sie nicht mal das im Herbst auf andere Gedanken bringt, dann weiß ich auch nicht.

Überqueren Sie den Limes, von dem aber nicht mehr wirklich was zu erkennen ist, ebenso wie von der einstigen Insel in der Nidda und der Burg, die an den Gestaden (also Ufern) der Insel stand. Im Namen der Stadt Staden verbergen sich noch die Ufer des Flusses.

Doch nun ist es Zeit, die typische Sehenswürdigkeit der Nidda kennenzulernen: Mineralwasserquellen. An diesem Fluss müssen Sie sich keine Sorgen machen, dass Ihnen das Trinkwasser ausgeht. Ihre Flaschen sind leer? Biegen Sie ab in den Herrengarten und stellen Sie Ihre Flasche unter eins der drei Rohre. Eine Pumpe oder irgendwas brummt im Innern der Holzhütte vor sich hin, und außen plätschern (mit kurzen Kunstpausen) drei Wasserstrahlen ans Tageslicht. Der Sauerbrunnen benutzt ganz natürlichen Kohlensäuredruck, um Mineralwasser an die Erdoberfläche zu holen. Und tatsächlich - was da in ihrer Flasche landet, ist ebenso klar und voller kitzliger Bläschen wie eine Flasche aus dem Supermarkt.
Seien Sie nicht sauer, wenn es ganz leicht säuerlich schmeckt - laut Schild ist es trotzdem "bekömmlich", und an den Eigengeschmack werden Sie sich schnell gewöhnen.

Die Hälfte haben Sie geschafft. Folgen Sie der breiten Nidda in Richtung Westen. Das Tal wird immer breiter und flacher, dafür taucht am fernen Horizont ein neues Gebirge auf, der Taunus. Sie fahren direkt am Ufer und profitieren damit (im Gegensatz zur Natur) von dem, was hier in den 1930ern und 1970ern fabriziert wurde.

Der Fluss wurde so stark begradigt, dass sich seine Länge halbiert hat. Jetzt ähnelt sie einem schmalen Kanal.
Falls Sie sich eine bessere Vorstellung davon machen möchten, begutachten Sie einen Nidda-Altarm bei Staden (sieht gar nicht so anders aus, hat aber mehr Bäume).
Den Wassertieren fehlt seitdem das Geröll und unterschiedliche Strömung. Noch viel gefährlicher waren damals aber mysteriöse Abwässer, von denen bis heute nicht klar ist, wer sie da reingeleitet hat.
Seit 1989 wird wieder renaturiert, dabei geht es jedoch weniger um die Altarme, sondern darum, dass nicht noch mehr Auen trockengelegt werden.

Speisen Sie in Florstadt in einem Imbiss, der anscheinend in eine ehemalige kleine Tankstelle eingezogen ist.

Unterqueren Sie die Eisenbahnbrücke von Assenheim. Die Nidda wird immer moderner: Hier entwickelte sich eine kleine mittelalterliche Wassermühle zur industriellen Walzenmühle. Weil die Nidda das nicht mehr alleine schaffte, griff ihr die Dampfmaschine unter die Arme. Kanadischer Weizen wurde zu Qualitätsmehl plattgemacht, das hauptsächlich an eine nahe Zwiebackfabrik ging.

Sie mögen Kunst? Drehen Sie eine Runde durch den Skulpturenpark in Karben und lassen Sie sich völlig kostenlos misstrauisch anstarren von der metallenen Version des Emus aus dem Vogelpark Schotten... ach nee, ist ein Strauß.
Alle Kunstwerke haben einen Naturbezug mit philosophischen Aspekten. Welchen genau, wird aber nicht erklärt. Warten Sie nicht, bis Sie die philosophischen Aspekte aus jeder Skulptur gezogen haben, sonst schaffen Sie die Strecke heute nicht mehr.

11. Vorsicht an den Mündungen! Die Horloff schließt sich der Nidda noch ganz unauffällig an, aber an der Wetter laufen Sie Gefahr, in die Landspitze und in eine Sackgasse zu fahren, wenn Sie nicht rechtzeitig rechts abbiegen.
An der nächsten Mündung dagegen besteht Verwechslungsgefahr, weil die Nidder in die Nidda mündet. Welcher Witzbold hat sich denn diesen Namen ausgedacht? "Och, lass einfach den Namen vom Fluss aus dem Nachbartal nehmen und eine Endung ranhängen, die fast gleich klingt. Dann werden ständig Leute ins falsche Tal fahren, das wird voll witzig!"

Die Nidder kommt vom Bahnradweg Hessen, der ihr eine Weile gefolgt ist.

Ignorieren können Sie die Schilder zur Niddasperrung, da geht es offenbar nur um den Grünstreifen direkt am Ufer - oder? Ja, die werden ja wohl nicht so einen aufwendigen Radweg bauen, um ihn dann von März bis September zu verbieten. Außerdem sind auf dem Schild ein Hund, ein Fußgänger und ein Paddler durchgestrichen, aber kein Radler.

Tanken Sie nach in Bad Vilbel, der ultimativen Burg- und Brunnenstadt. Den Schiffen wurden hier saftige Zölle abkassiert, was die Frankfurter Händler so stinksauer machte, dass sie irgendwann die Burgen und Zollhäuschen dem Erdboden gleichmachten.

Gleich am Ortseingang ragt ein rostiges Rohr aus einem Häuschen, welches großzügig Heilwasser in Richtung Fluss rotzt. Das ist der Römerbrunnen, die ergiebigste Quelle der Stadt. 220 000 Kubikmeter laufen raus. Weil sich das alles gar nicht so schnell in Flaschen füllen lässt, bekommt die Nidda einen Teil davon ab.
Über den Römerbrunnen-Steg müssen Sie nicht gehen, der führt nur ins Nirgendwo. Warum ist da dann überhaupt eine Brücke? Tja, dieses Nirgendwo gehörte einst zu Preußen, während die andere Seite hessisch war. Auf der preußischen Seite waren Bohrungen nur bis 15 Meter Tiefe erlaubt. Falls Ihnen die vielen Brunnen von Bad Vilbel also nicht reichen, um ihre (vermutlich gigantische) Trinkflasche zu füllen, und Sie einen neuen bohren wollen - tun Sie das nur auf hessischer Seite!
Das Heilwasser ist 287 Meter unter der Erde versteckt und damit nach preußischem Recht unerreichbar. Die Lösung: Wir bohren in Hessen, bauen den Römerbrunnen-Steg nach drüben und leiten das Wasser dann in die Kohlensäurescheideanlage auf preußischem Boden.

Brunnen, Brunnen, nichts als Brunnen, manche zugänglich, andere sprudeln dekorativ, aber unerreichbar unter Glashauben vor sich hin. Mitten in der Stadt tritt der Hassia-Sprudel ans Licht und wird prompt zu einem der beliebtesten deutschen Mineralwässer abgefüllt.

Und zwar in solche bunt bemalte Mineralwasserflaschen, welche mit unterschiedlichen Motiven in der Stadt herumstehen, offenbar das Pendant zum Berliner Bären/Rostocker Greifen.

Schon die Römer liebten ja bekanntlich Bäder, Quellen und Wasser. Bad Vilbel war also eine Stadt ganz nach ihrem Geschmack, wie man sich denken kann. Aber erst 1849 folgte der Beweis: Als der Südbahnhof gebaut wurde, entdeckten die Arbeiter das Mosaik einer römischen Villa. Es liegt nun in einem Glashaus unter einer dekorativen Schicht aus... Wasser? Nanu, ich dachte, das sei nur ein Boden und kein Schwimmbecken gewesen? Hält das etwa die uralten Fliesen frisch? Ach so, das ist bloß eine Kopie, das Original liegt in Darmstadt.

12. Durchqueren Sie eine Art Park, der sich auch zwischen den Städten am Fluss weiterzieht.
Ha, witzig, die haben da die Statue einer Gans auf die Bank gestellt - ach nee, warte, die ist echt! Fast bewegungslos wacht der stoische Vogel über seine Familie, während die Küken zurück zum Wasser trippeln.

Doch trotz dieser schönen Momente wird der schöne Radweg leider, leider kurz vor dem Schluss noch ein bisschen versaut. Verlassen Sie den Fluss wieder öfter, weil eine Brücke, ein Supermarkt oder einfach ein Stück weglose Natur im Weg sind.
Die Wehre müssen offenbar erneuert werden, und zu diesem Zweck bedecken braune Baggerberge kilometerweit das Ufer. Daher auch mein allerwichtigster Rat: Fahren Sie diesen eigentlich tollen Radweg erst, wenn hier alles fertig gebaut ist. Was hoffentlich bald der Fall sein wird. Irgendwann. Bestimmt.

Oder radeln Sie ein Stück hinauf und bewältigen Sie eine Umleitung mit Autobahnblick. Die ersten Wohnblocks von Frankfurt ragen in die Höhe, und dahinter die blaugrauen Bergrücken des Taunus. Einige sind mit Funktürmen besetzt, und der vorderste sieht mir ganz so aus, als sei er so was wie der Hausberg von Frankfurt.

Ziehen Sie den Kopf ein, oder besser den gesamten Oberkörper, wenn Sie unter der Autobahn durchhuschen. Oder steigen Sie gleich ab, wie es das Schild verlangt. Wenn auch nur aus dem Grund, dass den Verfassern des Warnschilds wohl nicht klar war, dass kaum jemand auf Bitte-absteigen-Schilder hört.
Irren Sie planlos durch ewig lange Umleitungen, vertrauen Sie den gelben Schildern und überqueren Sie die Nidda auf einer dieser Autobahnbrücken (die einen Fußweg an der Seite hat), in der Hoffnung, dass es am anderen Ufer besser aussieht (tut es nicht wirklich).

13. Rechts tauchen Gartenlauben auf, links richtige Häuser, und Sie tauchen unmerklich in die Metropole Frankfurt (m)ein.
Fahren Sie den letzte Kilometer am linken Ufer in einem Trauerweiden-Park. Wechseln Sie dann kurz vor Schluss doch lieber nach rechts. Bewundern Sie auf der Brücke das volle Panorama der Villen und Schlösser von Frankfurt-Höchst. Eine beeindruckende Umgebung für die Mündung.

Die Spitze zwischen Main und Nidda ist eine Sackgasse und nur zu Fuß gut erreichbar. Da müssen Sie nicht unbedingt hin, bewundern können Sie sie ja auch vom anderen Ufer. Auch wenn das eine oder andere Schiff vor Anker liegt und den Blick blockiert.

Höchst ist ein ganz besonderer Stadtteil und sieht noch viel mittelalterlicher aus als der historische Teil des Frankfurter Zentrums. Rund um die hohen Türme und dicken Mauern der Burg erstreckt sich ein extrabreiter Graben. (Ich meine, ernsthaft, so viel Platz nur für einen Graben, in dem niemand lebt, aber auch niemand im Grün spazieren gehen kann? Das würden heutige Städteplaner doch nie zulassen.) Und außenherum lehnen sich Fachwerkhäuser in allen Farben aneinander und laden ein, noch ihren Biergarten zu besuchen, ehe die schiefen Wände endgültig umkippen. Mit anderen Worten: Einfach toll. Wer hätte gedacht, dass so etwas Uriges in die Stadt der Wolkenkratzer gebaut wurde?
Wurde es auch nicht, denn als das hier entstand, gehörte es nicht zu Frankfurt, sondern zum Erzbistum Mainz. Der Bischof zockte Zölle ab, und genau wie in Vilbel reagierten die Frankfurter mit einer aggressiven Abrissverfügung für die erste Version der Burg.
Ach ja, Bürger im Kampf für Geld Freiheit vs. Kleriker im Kampf für Geld den rechten Glauben - ein uralter Konflikt, dem ich auf meinen Touren immer wieder begegnet bin.