NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

23 Juli 2023

Unstrut: Von Gorsleben nach Naumburg

Nach einem durchwachsenen Mittelteil zeigt der Unstrut-Radweg im Finale nochmal so richtig, was er draufhat (und das nicht nur in meteorologischer Hinsicht).

Morgens fand ich mich verpennt in einem Nebel wieder, in dem ich kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Ich erkannte gerade so den Rasenrand der Flutmulde gegen Hochwasser. Und die Steinbrücke, unter der ich gerade durchfuhr. Und die Hand, die das Fahrrad unter dieser Brücke hindurchlenkt. Mit Ach und Krach.

Die Hügel der Hohen Schrecke? Könnten genauso gut in Papua-Neuguinea stehen. Irgendwo da oben soll es eine Schlucht mit Hängebrücke geben. Aber jetzt da hinzufahren, wäre wahrscheinlich so sinnvoll, wie stocktaub ein Symphoniekonzert zu besuchen.

An dieser Stelle, sagt der Wegweiser, zweigt der Unstrut-Werra-Radweg ab. Ein Wegweiser, der Fragen aufwirft. Frage eins: Warum zur Hölle nach Norden? Wie soll man in die Richtung bitte an der Werra rauskommen? Frage zwei: Warum braucht es einen zweiten Unstrut-Werra-Radweg, wenn es mit dem Kanonenbahn-Radweg bereits eine perfekte Werra-Unstrut-Verbindung gibt?

Kurz vor der Grenze nach Sachsen-Anhalt bringt mich schon wieder ein kurzes Stück Bahntrasse in eine Stadt mit Kurtherme. Artern sieht aber deutlich trister aus als Langensalza. Die Wiedervereinigung war hier etwas schwieriger, aber hey, dafür hat die Stadt ihre eigene "ostdeutsche Truman-Show" (so einige Zeitungen) bekommen, wo alle genau sehen können, wie schwierig das doch für die Einwohner ist.

Sachsen-Anhalt begrüßt mich dann erstmal mit verstreuten Burgen und Gutshöfen, manche mehr, manche weniger beeindruckend.

Doch was ist das? Kann das wahr sein? Ist das möglich? Ist das... Licht? Die Sonne bricht sich einen Spalt durch die Wolken, und auf einmal sehe etwas vom Land, das ich durchquere.
Also, ein bisschen.

Puh, gerade noch rechtzeitig. Ich wollte gleich einen ganz speziellen Aussichtsturm besteigen, und da wär es doch nett, etwas mehr zu sehen als graue Suppe.
Es wurde knapp. Als ich in die Biegung des Tals reinfuhr, war der Berg mit dem Turm immer noch deutlich eingenebelt. Erst ganz kurz, bevor ich oben ankam, verzog sich der letzte graue Fetzen, als würde er vor meiner Kamera fliehen. (So furchteinflößend ist die nun auch wieder nicht.)

Neugierig radelte ich den Berg rauf und in den schlanken Birkenwald rein. Daneben müsste theoretisch ein steiler Abhang sein, und direkt darunter Radweg und Fluss unten im Tal, da, wo ich gerade langgefahren bin. Davon war leider nichts zu sehen, dafür wuchs der Wald einfach zu dicht.
Nach einer Weile bog ich ab auf einen Extraweg, den irgendwelche Künstler mit allen möglichen Extras dekoriert haben. Zum Beispiel ein Open Air Kino: Die Sonne sinkt herab und der Nachthimmel wird zur Leinwand. Der Mond und die Sterne sind die Akteure.
Mooment, nicht so schnell, ich bin doch froh, dass die Sonne überhaupt erst angekommen ist. Die kann ruhig erstmal bleiben, auch wenn der Film dadurch ein bisschen zur One-Sun-Show wird. Allzu viel von der Leinwand ist durch die Bäume eh nicht zu sehen, der Standort scheint mir nicht optimal gewählt.

Irgendwann kam ich dann oben auf einer Lichtung heraus. Im Jahr 1999 war das noch irgendein stinknormaler Wald in Sachsen Anhalt (ein sogenannter Sachsen-Anwald) ohne irgendwelche Himmelskinos und anderen Schnickschnack.
Bis zwei Grabräuber den Boden mit Metallsonden absuchten. Ohne Genehmigung, also illegal. In einer Mulde, wo heute eine riesige silbrige Scheibe liegt, piepste es. Sie gruben ein rundes Stück Metall aus und dachten, das sei ein Schild. Obwohl sie es erfolgreich verticken konnten, sprach sich auf dem Schwarzmarkt schnell herum, dass da so ein komisches Dings mit Sternen drauf im Umlauf ist und dass es eigentlich dem Land Sachsen-Anhalt gehört. Ein verdeckter Ermittler behauptete, er wolle die Scheibe ankaufen, die Hehler wurden verhaftet und endlich konnte die Sensation ganz offiziell zelebriert werden.
Der Fundort der Scheibe ist heute eine riesige Sonnenuhr. Betonlinien am Boden sind das Zifferblatt, und der Zeiger ist ein riesiger Aussichtsturm in Sonnengelb. Auf so was muss man auch erstmal kommen. In eigentümlichen Winkeln windet sich die Betontreppe aufwärts, während vor dem tiefen Sturz ins Treppenhaus kein Geländer, sondern nur ein durchsichtiges Netzt schützt - mein Gleichgewichtssinn war nicht direkt begeistert, fand sich aber damit ab.

Als Himmelsscheibe von Nebra ging das Ding in die Geschichte ein. Wobei die Stadt Nebra eigentlich noch ein Stück entfernt liegt und weitgehend abgewrackt aussieht. Das Dorf, über dem die Scheibe wirklich gefunden wurde, heißt Wangen. Vor dem Fund hielt da nicht mal die Bahn an, bis die Bewohner bei mehreren Radsternfahrten ihren eigenen Bahnhof durchsetzten, auch, damit da Touristen aussteigen können. Die können dann direkt die Arche Nebra besichtigen. Dieses Museum thront über den Dorf wie ein gestrandeter Goldbarren. Auf den ersten Blick hat es nicht wirklich Ähnlichkeit mit einer Arche oder einem Schiff. Aber wenn man weiß, dass auf der Scheibe auch ein Schiff zu sehen ist, das ganz ähnlich aussieht (wobei ich mich frage, wie die Forscher dann überhaupt mit Sicherheit wissen, dass es ein Schiff ist), dann ergibt das natürlich Sinn.
Die Scheibe hat sogar ernsthaft ihren eigenen Himmelsscheiben-Radweg, der von hier bis zur Original-Scheibe im Landesmuseum Halle führt. Bisschen enttäuschend für die Arche Nebra, aber man kann so ein wertvolles Stück ja nicht wirklich in einem Kaff wie Wangen verstecken.

Das Museum entstammt der häufigen Kategorie: Modern, großzügig, anschaulich gemacht, aber für den Preis halt doch nicht soo groß. Die Ausstellung dreht sich vor allem darum, wie die Menschen zur Bronzezeit so gelebt haben. Und wie andere Völker die Sterne erforscht haben.
Und welche nicht ganz so ernstgemeinten Theorien es über die Himmelsscheibe von Nebra gibt.

Aber wer sich mit den ernstgemeinten Theorien beschäftigen will, der muss entweder eine VR-Brille aufsetzen und in einem virtuellen Sachsen-Anhalt-Stonehenge, das irgendwo in der Gegend liegt, die Himmelsscheibe aufheben. Oder aber, wenn ihm all die Knöpfe zu kompliziert sind, setzt er sich einfach ins Planetarium.
Die Scheibe wurde 1600 v. Chr. geschmiedet. Damit ist sie die älteste Darstellung des Himmels auf diesem Planeten. Das allein würde ja für eine Sensation reichen, selbst wenn das Bild einfach nur Deko oder für irgendeine religiöse Zeremonie gedacht gewesen wäre. Aber die Wahrheit ist anscheinend eine ganz andere.
Die Wissenschaftler sind sich bei vielem, was die Platte angeht, immer noch nicht einig, weil es ganz einfach kein vergleichbares Fundstück gibt. Nur weil im selben Grab ein paar Waffen lagen, konnten sie überhaupt ungefähr die Zeit bestimmen. Es ist noch nicht mal klar, ob der Kreis nun die Sonne oder den Vollmond darstellt. Andere Sachen sind überraschend klar. Zum Beispiel, dass es drei Versionen der Scheibe gab, weil sie zweimal umgeschmiedet wurde. Und, dass der Sternhaufen da drauf die Plejaden sind. Das ist eine Art Sternenkindergarten, eine helle Wolke voller frisch geschlüpfter Sonnen.
Von den Plejaden aus kamen die Forscher also auf folgende Vermutung: Die Himmelsscheibe 1.0 war für die Bronzezeit ein hochwissenschaftliches Gerät. Die Menschen konnten auf ihr ablesen: Wenn Mond und Plejaden eine bestimmte Position haben, dann muss man das Getreide aussäen (sagen die einen) oder das Jahr um so und so viele Tage (nämlich die Anzahl der restlichen Sterne) verlängern, damit das astronomisch mit den Schaltjahren hinkommt (sagen die anderen).
Die Himmelsscheibe 2.0 hat am Rand sogenannte Horizontbögen dazubekommen, mit denen man sie waagerecht halten und so die Bewegung der Sonne das Jahr über ablesen kann, eventuell mithilfe des Brockens am Horizont oder auch nicht. Und erst bei der Himmelsscheibe 3.0 kam etwas Religiöses dazu, nämlich ganz unten ein göttliches Sonnenschiff (oder noch eine Mondsichel, sagen andere).
Wenn Aliens die Scheibe finden, würden sie also schlussfolgern, die Menschen hätten sich im Laufe ihrer Geschichte von der Wissenschaft weg und hin zur Religion entwickelt.

Die inspirierenden Fliesen auf dieser Wand verraten: Der Schluss wird fahrradfreundlich!

Naja, zugegeben, die Städte am Schluss sind irgendwie seltsam. Eine graue Leere zum Durchfahren mit einem Namen, der klingt, als hätte jemand auf die Ortsschilder geniest.

Aber die Strecke dazwischen ist 1A! Hinter Nebra musste ich an der ersten rotbraunem Felswand herumschieben, von da an konnte ich bequem an Fels- und Pflanzenwänden vorbeirasen. Besonders nah kam ich dem Felsen an einer Klippe namens Glockenseck.
Auch bei Kanufahrern ist das Tal sehr beliebt.

Manchmal enthalten die Fels- und Pflanzenwände zusätzlich Alkohol - das Land der Weinberge beginnt! Der erste Wein wächst auf dem Hahnenberg. Der heißt angeblich so, weil die Winzer frühmorgens gemeinsam mit den Hühnern aufstehen - seit 800 Jahren. Dann ist es aber dringend an der Zeit, dass sie auch mal morgens ausschlafen.
Hmm, dieses Hin und Her der grauen Weinmauern erinnert mich doch an irgendwas...

Jedes Dorf hat irgendein Weingut. Hm, wenn der Unstrut-Wein so beliebt ist, dann nehme ich mir auch eine Flasche mit. Die ersten Weingüter waren aber (noch) geschlossen.

Woran ich das gemerkt habe?
Wenn hängt der Strauß, schenken Wein wir aus, stand überall dran. Es hing kein Strauß, also auch kein Wein - ebenso eindeutig und energiesparender als ein rotes OPEN-Display.
Aber schließlich stieß ich auf ein größeres Weingut. Die hatten sogar ein Museum eingerichtet mit alten Geräten und vergilbten Listen, auf denen jemand handschriftlich den Tagesablauf eines Weinbauers und einer Bäuerin vor 1945 notiert hatte. Wenig überraschend hatten sie viel zu arbeiten, eigentlich war immer irgendwas. Interessant wäre da jetzt zum Vergleich eine Liste mit dem heutigen Tagesablauf. Was läuft automatisiert, und wie viel Zeit kostet es, stattdessen die Social-Media-Präsenz des Weinguts zu pflegen (etwas, mit dem sich die Bäuerin vor 1945 nicht herumschlagen musste)? Aber vielleicht setzt der Hof auch vollständig auf andere Methoden, um junge Menschen anzusprechen: Neben Wein kann man auch Hanflikör und Hanfkuchen erwerben.
Der mitgebrachte Wein stieß jedenfalls zu Hause auf großes Lob.

Der Herzogliche Weinberg in Freyburg (wo übrigens auch Turnvater Jahn herkommt, falls den noch jemand kennt) hat einen besonders hübschen Weinberg mit Fachwerktürmchen. Die Mauern sehen alt aus, sind sie auch, aber anders als die Burg nebenan stammen sie nicht aus dem Mittelalter. Solche Wein-Terrassen werden erst seit dem Barock gebaut. Vorher musste der Wein vermutlich waagerecht aus dem Berg rauswachsen.
Anfang des 20. Jahrhunderts ereignete sich eine Katastrophe. Also, klar, Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Katastrophen, aber schlimmer noch als irgendwelche Weltkriege war für die Winzer ein Insekt: Die Reblaus zerstörte zusammen mit dem Mehltau den Großteil der Pflanzen. Erst amerikanische Anti-Reblaus-Unterlagen brachten die Rettung.

Die letzten Unstrut-Weinberge sind dann noch einmal ungewöhnlich künstlerisch. Einen kaufte der Bildhauer Max Klinger, um mittendrin in seinem Haus Skulpturen zu klopfen.
Und gleich nebenan haben die Bürger ihre Steinfiguren direkt in den Weinberg reingeklopft. Das Ding heißt aus irgendeinem Grund Steinernes Album, obwohl ein Fotoalbum doch ziemlich anders aussieht.
Die Reliefs sind von 1722 und standen die ganze Zeit draußen im Regen rum, kein Wunder, dass die Gesichter und eigentlich auch sonst alles etwas verwaschen aussehen. Zum Glück stehen die Erklärungen am Wegesrand, sonst käme ich gar nicht klar (wobei die Bilder auf den Infotafeln auch keine wirklich höhere Bildqualität haben).

Die meisten Bilder stammen aus der Bibel, mache zeigen auch versoffene Fürsten aus der Region. Die Hauptsache ist, dass das Motiv irgendetwas mit Wein zu tun hat.

Unter diesem Hang zum Alkohol erreicht die Unstrut schließlich den Blütengrund. Der ist fast so idyllisch, wie es klingt, auch wenn eventuell vorhandene Blüten um diese Jahreszeit schon fertiggeblüht haben und grasgrün glühen. Und auch die Unstrut ist nun verblüht und am Ende, denn sie fließt in die Saale rein. Wobei es eigentlich eher so aussieht, als würde die Saale von der Seite in die Unstrut münden und nicht umgekehrt - aber die Saale ist trotzdem länger und breiter.
Direkt dahinter pendelt ein kleines Fährboot zur anderen Seite. Fahrräder passen rein, auch wenn es nicht direkt angenehm ist, das volle Rad mit Taschen die Stufen ins Boot runterzutragen. Außerdem ist der Fahrpreis vergleichsweise hoch. Im Prinzip spricht also nichts dagegen, die Fähre Blütengrund rechts liegenzulassen und noch zwei Kilometer weiter zur Brücke zu fahren. Es sei denn, man hat es eilig oder möchte der Mündung möglichst nahe kommen - denn der Blütengrund ist so grün zugewachsen, dass der Zusammenfluss sonst nur aus einem bestimmten Blickwinkel mit etwas Abstand zu erkennen ist.

Am anderen Ufer beginnt Naumburg an der Saale, eine eindrucksvolle Stadt aus Arkaden und rotweißen Prachtbauten -  und ganz schön alt: Im Jahr 1000 Jahren beschloss ein Bischof, in die Naumburg zu ziehen, die, wie es der Zufall wollte, im heutigen Naumburg stand. Kurz darauf zogen Kaufleute aus dem Unstruttal dazu, denn sie fanden es praktischer, wenn sie einen zentralen Umschlagplatz für leckere Dinge wie Alkohol, Gewürze und (Farb)Stoffe hatten. König Konrad schenkte ihnen ein paar Handelsprivilegien. Das war die älteste urkundliche Stadtgründung Deutschlands. Mit anderen Worten: Es gibt vielleicht ältere Städte in Deutschland, aber die können es nicht beweisen.
Nach der Gründung gab es eine Situation ähnlich wie in Höxter: Einer Doppelstadt im Kalten Krieg, der eine Teil kirchlich, der andere bürgerlich. Erst nach 500 Jahren sorgte ausgerechnet ein Mönch namens Luther indirekt dafür, dass die Kirche verlor. Heute kann ich nur rätseln, wo die Trennlinie verlief.
Naumburg hat das kleinste Straßenbahnnetz Deutschlands, und tatsächlich kenne ich die Stadt auch über den Nahverkehr, weil ich dort im 9-Euro-Sommer einmal nachts mit der Bahn gestrandet bin. Und ich muss sagen, es war eine ganz gute Stadt zum Stranden im Sommer. Gut beleuchtet, eine bequeme Straße führt als Rampe hinauf in die hübsche Altstadt und sogar ein Restaurant war bis spät geöffnet. Auch wenn der Rest vom Marktplatz trotzdem etwas leer schien.

22 Juli 2023

Unstrut: Von Mühlhausen nach Gorsleben

Vor Kurzem hat ein schweres Unwetter Nordhessen geflutet. Auch in Nordthüringen hat der Sturm den einen oder anderen Baum zu einem Nickerchen auf dem Gehweg veranlasst, sodass alle Fußgänger die Wahl zwischen Straße und Schlamm hatten.

Eine etwas unerwartete Auswirkung des Sturms: Der Weg wimmelte von Weinbergschnecken. Schon am Ausgang von Mühlhausen teasern sie an, was mich später an der Unstrut erwartet. Ob die Weinbergschnecken auch zu den Weinbergen der Unstrut wollen? Na, das kann ja dauern...
Die Viecher sind mir deutlich lieber als Nacktschnecken: Durch ihre Größe kann ich sie früher sehen und rechtzeitig ausweichen.

Und nur wenige Tage nach dem Sturm will ich weiterfahren? Na, das kann ja was werden... aber der Wetterbericht sagte definitiv, der Sturm sei vorbei und im Laufe des Tages sollte es schön werden.

Ich wechsle jetzt vom hügeligen Eichsfeld ins Thüringer Becken. Das ist ein flaches Stück Thüringen zwischen Harz/Eichsfeld und Thüringer Wald. Genau die Landschaft, bei der ich bei meiner ersten Bahnfahrt durch Thüringen dachte: Langweilig, wann kommen wieder Berge?
Die älteste Kirche im Becken steht in Görmar. Schön: Sie hat einen Fachwerkturm in dänischem Gelb. Weniger schön: Die Dramen, die sich um diesen Turm abspielten, Kriege, Brände, Katastrophen, zwei Blitzeinschläge, so viele Schulden, dass das Dorf die meisten Felder verkaufen musste, und Thomas Müntzer wurde hier auch noch hingerichtet.

Nun ist es ja so, dass der Wetterbericht natürlich immer nur den Regen für einen bestimmten Ort anzeigt. Ich aber fahre von Ort zu Ort. Was ist, wenn sich die Regenwolken rein zufällig in dieselbe Richtung bewegen? Und ich ihnen hinterherjage, ohne es zu wissen? Sodass ich mich scheinbar in einer endlosen Regenfront befinde?
Was dann?
Nass dann.

Überrascht hat mich, dass der Radweg schon wieder hier und da Bruchstücke einer Bahntrasse benutzt. Irgendwo anderen Ufer fährt doch schon eine Bahn? Anscheinend zu weit entfernt, sodass einst eine weitere nötig war. Von der einen Bahnbrücke ist nur das Skelett übrig, die andere wurde zum Radfahren nachgebaut. Die Uhr am alten Bahnhof funktioniert immer noch und zeigt mir an, dass ich schon viel zu viele Stunden durchnässt werde. Brücken, Hecken und Gräben, alles schimmert patschnass und mein Poncho arbeitet am Limit, damit es mir nicht ähnlich ergeht.

Auf einer Schlammwüste am Wegesrand wurde 1866 Geschichte geschrieben: Preußen verleibte sich während der Schlacht bei Langensalza mit einem großen Haps das Königreich Hannover ein. Selber schuld: Was waren diese Hannoveraner auch so kackfrech, sich im Bundesrat gegen Preußen zu stellen?

Das war der vorletzte Schritt, um kurz danach in Hradec Králové auch Österreich zu schlagen und den Deutschen Bruderkrieg zu gewinnen, und dann im nächsten Krieg auch Frankreich, um dann in der Euphorie des Sieges einen gesamtdeutschen Staat zu gründen. (Sorry Hannover, aber ohne Krieg wär das halt nicht gegangen, weil, is halt so.)
Das Schlachtfeld ist heute so schlammig, man könnte fast ein Heavy-Metal-Festival darauf abhalten.

Von da aus bin ich der Bahntrasse zur zweiten richtigen Unstrut-Stadt gefolgt. Das sind zwar ein paar Extrakilometer Umweg, dafür finde ich dort vielleicht einen Unterstand.

Die Kurstadt Bad Langensalza ist eine verbesserte Version von Mühlhausen. Die Fachwerkbalken und die graue Stadtmauer sehen sich sehr ähnlich, aber alles ist noch nasser, schöner und bunter gestaltet. Zum einen durch die Farben der Fassaden.

Vor allem aber wegen der Blumen. Überall strecken Rosen und andere bunte Gewächse ihre Blüten in den Himmel und gönnen sich eine ordentliche Portion Regenwasser. Die Stadtmauer ist zwar an sich auch grau, aber das fällt kaum auf, wenn sie von so viel Grün und Rot (plus ein paar braune Bretter-Anbauten) umgeben ist. Nebenan fließt ein verzweigter Wassergraben, sogar mit Kreisverkehr.  Irgendwo müssen schließlich die Kurgäste spazieren gehen, nachdem sie sich in den Schwefelquellen vollgeschwefelt haben. Die ganze Stadt sieht aus wie ein frisch gewaschener Garten, der Regen spült den Staub ab und bringt die Farben erst so richtig zum Leuchten.
Es gibt definitiv schlechtere Orte, um draußen bei Regen unterwegs zu sein.
Rings um die Altstadt verbergen sich größere Gartenanlagen. Manche kosten Eintritt, der Natur!Garten (nur echt mit dem Ausrufezeichen) dagegen ließ mich gratis eintreten reinschwimmen.

Außer den Preis für zwei Stück Kuchen. Ups, jetzt habe ich doch Geld ausgegeben.
Dort wuchern Pflanzen, die typisch für einen Bauerngarten aus der Region sind, ungezwungen vor sich hin. Ganz überraschend entdeckte ich sogar die einzige Möglichkeit, die Stadtmauer zu besteigen. Auf dem Wehrgang verbarg sich ein kleines gemütliches Zimmer mit Sesseln. Ohne irgendwas zu verkaufen, ohne irgendeinen anderen erkennbaren Zweck, als irgendjemandem, der sich in diese Ecke des Gartens verirrt, ein gemütliches Zimmer zu bieten.
Ich glaube, ich mag Bad Langensalza.
Und das nicht nur, weil das WLAN am Markt WLANgensalza heißt.

Aber Vorsicht! Nicht die Tür auf der anderen Seite des Zimmers öffnen, dort lauern Bienen. Oder auch nicht, denn die haben sich bei dem Wetter alle in ihren Kasten zurückgezogen, den man sogar aufklappen und begutachten kann. Mit Glasscheibe dazwischen, versteht sich.

Jetzt bricht die Unstrut durch Felsen aus Muschelkalk. Behauptet ein Schild, viel Felsiges habe ich aber nicht gesehen. Obendrauf liegt nämlich ein bisschen Erde mit Magerrasen. Klingt eher mau, aber manche magersüchtigen Blumen wie zum Beispiel Orchideen fühlen sich gerade da pudelwohl.
Ich hatte meinen Magen in Langensalza gut gefüllt, den Regen nahm ich kaum noch wahr, ich fuhr nur noch weiter. Inzwischen musste ich öfter mal Straßen durch Städtchen benutzen, kein genussvoller Abschnitt, sondern eher einer zum Durchrasen.

Oder?
Trübselige Felder im Regen, Straßen und verstreute Bäume, das klingt nun echt nicht sonderlich sehenswert. Aber dann, ein paar Kilometer vor der Gera-Mündung, geschah etwas Erstaunliches.

Hinter den Wolken leuchtete immer noch die unsichtbare Sonne. Und auf einmal erstrahlte Thüringen in Farben, die vollkommen... künstlich aussahen. Mit einem Foto lässt sich das kaum einfangen, aber all das Grün und Gelb der Felder, das leichte Rosa in der Ferne am Himmel, alles erschien mir viel zu grell, um echt zu sein. Okay, wenn ich es formuliere, klingt es nicht so toll. Dabei hatten sie etwas Verzaubertes, diese seltsamen Stunden im Regen. Die ich nie gesehen hätte, hätte ich den Wetterbericht nicht ein wenig zu... wohlwollend interpretiert.
Wes Anderson sollte seinen nächsten Film im verregneten Nordthüringen drehen.

Die nächste Stadt empfängt mich wieder mit einem Park, diesmal ein etwas unkomplizierter als in Langensalza: Bäume, Gras, zwei Holzbrücken, fertig.

Sömmerda klingt nach einem IKEA-Sonnenschirm, der Name kommt aber von den Sümpfen rundherum und müsste deswegen theoretisch mit dem Wort Unstrut verwandt sein. Die Stadt ist eine Nummer kleiner, was mir aber nur recht ist - diesmal muss ich keinen Umweg fürs Stadtzentrum machen, Kirche, Markt und Rathaus liegt gleich am Weg und sind in einem Bogen fix umrundet. Ein bisschen erinnert mich der Markt an Malchin, Neubrandenburg und andere Städte in MV aus der Kategorie Naja.

Die Stadtrunde dauert drei bis fünf Jahre länger, falls man sich vornimmt, unterwegs sämtliche Details der Statuen bewusst wahrzunehmen. Unterwegs trifft man nämlich die drei Göttinnen Minerva (zuständig für Krieg, Frieden, FKK, Aufklärung und Pädagogik), Pomona (zuständig für Früchte) und Fortuna (zuständig für Schicksal). Und jede Göttin ist umgeben von einem, nun ja, nennen wir es mal Wirrwarr der Stadtgeschichte.
Im Falle von Fortuna kommt das Wirrwarr direkt aus ihren Hörnern geschossen. Sowohl nette Sachen als auch Horrorgestalten, so ist das halt mit dem Schicksal.

Und der mit Abstand größte Brocken, der je aus ihrem Horn auf Sömmerda niederkam, trug den Namen Nikolaus (von) Dreyse. Dieser Tüftler fand eine Sache total unpraktisch: Dass man bei Gewehren immer noch hinter die Patrone extra ein Zündhütchen stopfen muss. Das Zündhütchen ist quasi so was wie das Streichholz im Gewehr, das das Schwarzpulver anzündet.
Schon sein Meister hatte damit experimentiert, das "Streichholz" direkt an die Patrone dranzukleben. Er benutzte dazu eine Pille aus Knallquecksilber. Ein Hebel haute volle Kanne auf das explosive Knallquecksilber drauf, was ungefähr so sicher war, wie es klingt.
Nikolaus fand Jahre später heraus, dass sich das Knallquecksilber viel besser anzünden lässt, wenn eine Nadel reinsticht. Also baute er Nadeln in seine Gewehre rein und bäm (wortwörtlich) war das Zündnadelgewehr geboren. Die Soldaten mussten viel weniger Zeug in die Gewehre stopfen und konnten mehr Zeit mit schießen verbringen - zum Beispiel auf die Hannoveraner in der Schlacht bei Bad Langensalza. Am Ende töteten sie mit der neuen Waffe sogar die Kleinstaaterei Deutschlands und erbeuteten ein Deutsches Kaiserreich (wobei Historiker inzwischen denken, dass die gute Organisation und nicht die neuen Waffen den Ausschlag bei Bismarcks Reichseinigungskriegen gegeben hat).

Die Waffenfabrik in Sömmerda wuchs immer weiter, Nikolaus Dreyse erjagte sich mit seinem Gewehr sogar ein schickes Von für seinen Nachnamen. Der geadelte Erfinder bekam eine Statue, in der er mit weisem Blick einem Soldaten das Gewehr erklärt, und die stünde da sicher heute noch, hätte seine Fabrik nicht lange nach dem Tod des Erfinders Waffen für zwei Weltkriege produziert, die (im Gegensatz zu ein paar ganz normalen Nachbarschaftskriegen und ein bisschen Kolonialisierung im 19. Jahrhundert) nach allgemeiner Ansicht zu weit gingen.
In der DDR wurde der Name totgeschwiegen, die Fabrik rüstete auf Büromaschinen und Computer um, weil diese Geräte nur selten Menschen töten und folglich besser fürs Image sind. Inzwischen hat Dreyse wieder eine Statue. Diesmal ist er dargestellt als weiser Opa in griechischer Toga, der mit Spielfiguren spielt, die so aussehen wie die beiden Skulpturen des ursprünglichen Denkmals.

Dreyse benutzte für seine Gewehrfabrik die Wasserkraft der Dreyse-Mühle (ganz links).
An dieser Stelle eine kurze Übersicht über einige Wassermühlen an der Unstrut.

Rund um Sömmerda wird die Strecke wieder schöner, mehr Uferwege, weniger Dorfstraßen. Eine Konstante an diesem Tag waren auch irgendwelche Schläuche zum Fluss hin, mit denen vielleicht noch Sturmwasser abgepumpt wurde.
Und endlich, endlich hatte auch der Regen gestoppt. Jawoll, mein Poncho hat durchgehalten, ich bin noch halbwegs trocken und der Himmel reißt endlich auf. Dann kann ich morgen doch noch weiterfahren.

In der Abenddämmerung ragen zwei Hügel links und rechts vom Fluss auf. Diese Landschaft trägt den absonderlichen Namen Hohe Schrecke. Ich sehe mit Schrecken, nun endet das Becken! Thüringen kann einfach nicht lange flach bleiben.