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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

17 Juni 2023

Inselsee

Inselsee & Sumpfsee
Zwischen den Zitrusringen - Wen man straflos stalken darf - Eine Insel mit zwei Zäunen - So erziehen Sie Ihr Kind zu einem guten Sklaven - Der spontane See und seine Bewohner - Wahl ohne Qual - Ehre sei dem Kaffee und dem Tee und der heiligen Milch - Blutspende am Ende - Rasender Radler, Versteckter Schwimmer und andere Partizipien

Die Sonne scheint, ich besuche meine Familie, das heißt: Zeit für eine Mecklenburger Seentour! Wo darf es hingehen, welche fehlen uns noch? Der Malchiner See? Die Feldberger Seen? Ach nö, wir sind alle bisschen spät aufgestanden und die sind so weit weg und bei den Benzinpreisen... machen wir einfach entspannt den kleinen Güstrower Inselsee.

Der Mühlengraben erinnerte mich an die Wasserläufe von Bützow, die aber keine so netten Radwege haben. Er verbindet die Stadt Güstrow mit ihrem See, an seinem Ufer verläuft auch der Radweg Berlin-Kopenhagen. Wir starteten in der Nähe des Wildparks auf einen Kiesweg. Sofort stellten wir fest: Dieser See ist reich an Gräben und hölzernen Bootshäusern.

Ein gelber Ring aus Raps umschließt den See. Irgendwo dahinter sind manchmal die Güstrower Kirchtürme zu erkennen.
Und in diesem Rapsring befindet sich ein schmaler, zugewachsener Buschring. Diese Büsche und der See bilden ein Natura-2000-Gebiet, weil da unterschiedliche Arten von Wiesen und Mooren drinstecken.

Was uns nur recht ist, solange wir in diesem grünen Ring fahren können. Und das können wir. Zwar nur auf schmalen Pfaden, dafür aber gleich auf mehreren. Die sich nach wenigen Metern aber wieder vereinigen.

Manche Familien schaffen es sogar, ihr Auto in den grünen Ring reinzuquetschen - wie auch immer das möglich ist.

Andere mögen es rustikaler und campen lieber - auch dabei stoßen sie auf gewisse Schwierigkeiten.

Boah, ist das heiß. Zeit für die erste Badepause. Der See ist mit dicht bewachsen, aber wie üblich hat der Röhricht Lücken, in denen sich eine traditionelle Mecklenburger Badestelle verbirgt: Eine Kante mit Erde, über die man ins Wasser watet, um dann zwischen dem Schilf rauszuschwimmen.
Der Inselsee hat einen angenehmen Boden und wird recht schnell tief. Man kann bis zu drei Meter tief sehen, erklärt ein Schild, was wohl heißt, dass er noch deutlich tiefer sein muss. Da unten lebt die seltene Armleuchteralge. Der Inselseebewohner schlechthin ist aber, soweit ich das beurteilen kann, die Libelle. Überall wirbelten die blauen Geschöpfe über dem Schilf dahin, wechselten von der einen auf die andere Seite, flohen vor dem polternd-platschenden Menschen. Manche hatten sich zu romantischen Zwecken direkt hintereinander auf ein Blatt gesetzt. Andere Libellen waren noch Single und guckten in den Röhricht.
Wo ist eigentlich meine wasserfeste Handyhülle? Nein, für gute Fotos bin ich zu laut und die Insekten zu scheu.

Soo, nun heiß der See ja Inselsee. Wo ist denn jetzt die Insel? Ich erinnere mich vage, wie ich in jungen Jahren einmal über die Güstrower Insel gelaufen bin - da ich gerade erst Jim Knopf gelesen hatte, fand ich es klasse, auch mal auf einer echten Insel von Lummerland-Größe zu sein. Selbst, wenn sie jetzt nicht im engeren Sinne im großen weiten Meer lag und auch keine so gut ausgebauten (beziehungsweise überhaupt keine) öffentlichen Verkehrsmittel hatte.
Die Insel heißt Schöninsel und beinhaltet einen alten slawischen Burgwall. Was wir hier sahen, war jedoch weniger schön.

Die Brücke war verrammelt und verriegelt. Warum, ist auch deutlich zu erkennen: An einigen Stellen sind die Bretter schon durchgebrochen. Das verschlossene Tor sich war nicht das Problem, denn jeder mit ein bisschen Gleichgewichtssinn konnte das Tor ganz easy an der Seite umgehen und den Bruchstellen ausweichen. Aber auch auf der Insel folgt nach wenigen Metern das nächste Tor, und irgendwo dahinter liegt das abgeschottete Haus von König Alfons, der ganz offensichtlich dringend möchte, dass sich alle von seiner Privatinsel verpissen - aber dann doch nicht so dringend, dass er deswegen Geld ausgeben würde, um die Schwachstelle seiner Verteidigungsanlagen zu beheben. Diese Insel wirft viele Fragen auf. Gibt es noch andere Schleichwege zu zugänglichen Teilen der Insel? Manche sagen ja, die Karte sagt nein, wir haben jedenfalls keine gefunden.
Ich war der einige, der sich die paar Schritte auf die Insel wagte. Auf der Brücke und auf dem Bootssteg direkt direkt daneben hatten sich jedoch eine Menge Menschen angefunden, die ungerührt angelten und ihr Bier tranken.
Die Familie am Ufer war bereits zu härteren Drogen übergegangen.
"Zigarette!", befahl der Vater.
"Muss ich erst drehen", entgegnete der Zehnjährige und sprang dienstbeflissen auf.
Hach, Güstrow, diese Stadt kann einem richtig ans Herz wachsen. Wie ein Tumor.

"Die Tour um den Inselsee ist so kurz, wollen wir nicht noch einen anderen machen?", schlug unser nichtrauchender Vater vor, während er die Kartenapp studierte. "Da hinten ist der, äh... Sumpfsee."
Klingt einladend, und das mit der kurzen Strecke ist völlig richtig, ich bin dabei! Wir kreuzten uns zwischen einer Tankstelle und dem schneeweißen Güstrower Ligusterweg hindurch - und fanden uns auf einer kahlen braunen Einöde wieder. Der Sumpfsee könnte auch Ackersee heißen. Ach, da hinten ist er ja endlich.

Als wir in den neuen Grüngürtel eintauchten, wurde der Sumpfsee seinem Namen doch noch gerecht: Das Wasser breitete sich bis über den Weg aus.

Der Sumpfsee wird vorwiegend von Schnecken bewohnt. Während die Schneckenhäuser an Land aktuell leerstehen (eine Schande bei der Situation auf dem Wohnungsmarkt), sind die schwarzen Seeschnecken quicklebendig.

Auf den Sumpf folgt der Sand: In brütender Hitze schleppten wir uns durch die Dünen am Waldesrand. Diesen Weg fanden wir nicht besonders schaf.

Wer näher am See bleiben will, muss an den Windrädern links abbiegen. Dieser Sandweg sieht aber nicht viel besser aus. Nein danke, wir nehmen die leichtere Variante.

Die Bauern in Bülow sind aktuell möglicherweise besser ausgerüstet als die Bundeswehr.

Wir bogen vom Bundesstraßenradweg ab nach Ganschow. Das Dorf ist bekannt für seine Pferderennen und landwirtschaftlichen Messen. Aber wir müssen die Gestüte wohl irgendwie umfahren haben, denn alles, was wir sahen, waren Ziegen in allen Farbschattierungen. Außer Gelb, die Farbe übernahmen stattdessen die Fachwerkhäuschen.

Mit unserer Mutter unterwegs zu sein, heißt, unterwegs mindestens eine Kirche mit Friedhof zu besichtigen. Ist ja auch oft das einzige, was die Dörfer zum Besichtigen haben.
Ein schattiges, leeres Sträßchen brachte uns nach Lohmen. Dort empfing uns die Dorfkirche mit offenen Türen (also quasi, eigentlich mussten wir sie selbst öffnen). Sie besteht wie die meisten Mecklenburger Dorfkirchen aus Feldsteinen aus dem 13. Jahrhundert. Und wie viele Mecklenburger Dorfkirchen hat sie später einen Fachwerkturm bekommen, als die Menschen herausfanden, dass runde Steine superviel Mörtel verbrauchen und eventuell gar nicht mal das allerbeste Baumaterial darstellen.

Da führt eine Treppe hoch - ob man da auf den Turm kommt? Nee, erstmal nur zur Empore. Wer noch höher will, muss die gut getarnte Falltür (im linken Bild oben rechts) aufkriegen und da irgendwie hochkommen. Ui, das ist ja sogar noch abenteuerlicher als der Göttinger Jacobikirchturm, nee danke.
Dann fiel uns etwas Seltsames auf. Wo eigentlich die Orgel stehen sollte, befindet sich nun eine Teeküche. Natürlich ist Tee etwas Wunderbares, aber ob das Brodeln und Klicken eine Wasserkochers wirklich Orgelmusik ersetzen kann? Natürlich nicht. Die Lütkemüller-Orgel wurde nach unten verschoben, als man sie zum neuen Jahrtausend renoviert hat. (Mit neuem Jahrtausend meine ich natürlich das Jahr 2000. Im Jahr 1000 sollte es noch 890 Jahre dauern, bis die Orgel überhaupt existierte.) Wahrscheinlich kommen nicht mehr soo viele Besucher in die Kirche, sodass unten genug Platz ist und niemand mehr auf der Empore sitzt - warum sollte man also unnötigen Abstand zwischen die Menschen und die Musik bringen?

Zurück an der Bundesstraße erwarteten uns die größten Hügel der Strecke, aber der Asphalt machte sie trotzdem viel einfacher als die Sandhügel vorhin. Ab und zu funkelt hinter den Kuhweiden der blaue Inselsee.

Kurz vor dem Ziel erwartet uns der Uitkiek. Das ist der einige Aussichtsturm am Inselsee. Genau genommen steht er nicht mal wirklich am Inselsee, sondern ein Stückchen entfernt im Wald. Das ist einerseits toll, denn oben auf dem Berg und nach vier Metalltreppen, reicht der Blick ziemlich weit, deutlich über den See hinaus zur Güstrower Skyline. (In die andere Richtung dagegen endet der Blick nach wenigen Metern an einer grünen Nadelwand.)
Doch wer sich diesen Blick sehen will, muss dafür bezahlen. Nicht mit Geld, der Uitkiek ist gratis. Stattdessen war anscheinend Lord Voldemort da, hat hier einen Horkrux verbuddelt und eine (wie Dumbledore sagen würde, primitive) Bezahlschranke installiert. Der Preis wird in Blut bezahlt. Zuständig sind hierfür die Mücken. Sie ließen mich zunächst gutgläubig in ihr Refugium radeln. Doch sobald ich länger als 0,3 Sekunden am selben Ort stehenblieb, kam der Schwarm von allen Seiten und fiel gierig über mich her wie ein Finanzamt auf Ecstasy. Ich rannte um mein, naja, nicht mein Leben, aber um mein wertvolles Gruppe-Null-Blut.

Damit wären wir im spaßigen Stadtviertel Güstrow-Schabernack angekommen. Statt an der Straße radeln wir hier an einer Pferdekoppel und dann am Seeufer. Hier stoßen wir auch wieder auf den Radfernweg Berlin-Kopenhagen, der in Richtung Krakow abzweigt.
Der wohl berühmteste Güstrower ist der Bildhauer Ernst Barlach. Er hämmerte und goss ausdrucksstarke Skulpturen im Partizip 1: Lesender Klosterschüler, Lachende Alte und natürlich, am bekanntesten, Der Schwebende. Letzterer hängt an der Decke des Güstrower Doms ab, die meisten Werke jedoch verbergen sich in einer modernen Galerie aus Efeu und Beton, direkt am Seeufer im Stadtteil Schabernack. Während meiner allerersten Klassenfahrt marschierten wir alle brav ungefähr 129 Kilometer vom Reisebus bis hierher, um uns Ernst Barlachs große und kleine Gestalten erklären zu lassen. Die Führung war sogar einigermaßen kindgerecht, obwohl die meisten Figuren etwas Düsteres, oder naja, zumindest Melancholisches haben. Auf jeden Fall passen sie sehr gut zum Vornamen des Künstlers und sehr schlecht zum Namen des Stadtteils.

Dahinter war es Zeit für das letzte Bad des Tages. Die größte Badestelle am See ist ausgestattet mit einem Steg und einer Schwimminsel. Nanu, ist da unterm Steg etwa ein Hohlraum? Wir tauchten hinein und stellten fest: In diesem Versteck kann man sogar atmen. Ideal zum Versteckenspielen, als Fluchtort vor den Eltern, die loswollen, oder für tragische Badeunfälle.
Am Imbiss ergatterten wir noch die letzte Currywurst des Tages, die uns Treibstoff für die letzten Meter bis zum Parkplatz lieferte.

16 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Sacrow nach Spandau

Die Waldseemauer

Länge: 27 km
Grenzquerungen: 9
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: ausnahmsweise etwas mehr West als Ost (wobei der politische Westen hier im geographischen Osten liegt)
Erkenntnis: Eine Schülerausrede hätte rein theoretisch eventuell vielleicht den Dritten Weltkrieg auslösen können, und das wäre auch kein dümmerer Grund als manch anderes.

Weil Spandau komplett zu Westberlin gehörte, schlägt die Mauer an dieser Stelle einen großen Waldbogen rund um das westliche Westberlin. Erst dann kehrt sie zur Havel zurück. Erst einmal bezwinge ich den Luisenberg. Er ist 74 Meter hoch und gehört damit nicht mal in Berlin zu den höchsten Gipfeln. Allerdings ist er (glaube ich) das höchste, was ich an der Berliner Mauer bezwingen musste. Kein Vergleich zum Hoel und zum Brocken! Jedenfalls nicht, was die Höhe angeht. Was die Schönheit des Waldes angeht, schon eher.

In diesen Wäldern verstecken sich noch mehr Seen, quasi eine zweite Seenreihe, die nicht von der Havel verbunden wird, sondern bloß von irgendwelchen Bächlein. Entsprechend geht es hier deutlich ruhiger zu. Den Sacrower See verfehlt die Mauer knapp, aber über den Groß Glienicker See geht sie einmal quer rüber. Ach, schön! Darf ich dann auch ans Ufer?

Äh, ich würde mal sagen, das ist ein klares Nein.
Die Karte sagt, der Radweg ist gesperrt. Da frage ich mich, vor wie vielen Jahr(zehnt)en der bitte geöffnet gewesen soll. Eine derart dicke Buschwand wächst ja nicht gerade über Nacht. Und auch später, als es einen Pfad am Ufer gibt, ist der nur für Fußgänger erlaubt, und die Abzweigung habe ich obendrein übersehen.

In Groß Glienicke herrschten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die Ritter auf dem Rittergut - am bekanntesten ist die Familie Ribbeck (ihr bekanntester Vertreter aus einem gewissen Gedicht kam aber aus dem Ort Ribbeck, das ist woanders). Ihr Gutshof brannte nach Kriegsende ab, nur ein einsames Tor und ein paar Wirtschaftsgebäude blieben übrig.

Im Grenzgebiet verwilderte ihr Garten, und heute ist nicht mehr zu erkennen, dass das mal ein aufwendiger gepflegter Park war. Schön anzusehen ist es trotzdem, nur halt auf andere Art. Und an der Nordspitze darf ich sogar nochmal ans Seeufer.
Der Pfarrer von Groß Glienicke kümmerte sich um seine Schäfchen auf beiden Ufern. Eines Tages war der Steg über den Grenzgraben weg. Am nächsten Tag hatten die Menschen Bretter drübergelegt, dann waren die auch weg. Dann lagen da Trittsteine, auch die entfernten die Grenzsoldaten. Das Katz-und-Maus-Spiel zog sich durch die ganzen 50er bis zum Mauerbau.
Sogar mitten im See stand auf einmal Stacheldraht. Am Nordufer kommt auch heute noch ein Zaun aus dem Wasser. Der Streckmetallzaun, der an der Innerdeutschen Grenze meistens die endgültige Version darstellte, war in Groß Glienicke bloß eine Zwischenstufe. An dieser Stelle lässt sich das sandige Ufer aber nur schwer bebauen.

Deswegen machten die Mauerbauer eine kleine Abkürzung, als der Zaun (hinten rechts) 1970 durch eine Betonmauer (links) ersetzt wurde. Ihrer Faulheit ist es zu verdanken, dass ich zwei verschiedene Mauer-Generationen nebeneinander besichtigen kann (die einzige Stelle in Berlin, wo das geht, glaube ich). Damit es die Landschaft aber nicht zu sehr verunstaltet, sind nur zwei Segmente der Mauer komplett, und der Rest wird durch kleine Betonstücke angedeutet. Die Wurst obendrauf (hinten links) - der Fachbegriff lautet Abweisrolle - verhinderte, dass sich irgendwer mit Händen, Füßen oder Kletterhaken festhalten konnte.

Ich passierte eine Fahrradampel, die einen etwas... verschlossenen Eindruck machte, und fuhr dann immer neben der Bundesstraße lang.
Die Aliierten hatten vereinbart, dass jede Besatzungsmacht einen Berliner Flughafen bekommen soll. Die Briten hatten ihren hier in Gatow und tauschten sogar Gebiete ein, damit sie auch ohne sowjetische Unterbrechung da hinkommen konnten. An dieser Straße erschoss ein DDR-Volkspolizist einen sowjetischen Soldaten, nicht gerade die typische Täter-Opfer-Konstellation. Es wurde an dem Tag nämlich nach einem abtrünnigen Sowjet gefahndet, aber das war ein anderer.
Außerdem sollen sich hier Rieselfelder befinden. Och, das klingt ja idyllisch, was das wohl sein mag? Weinberge, auf denen Riesling angebaut wird?
Äh, nicht ganz. Auf den Rieselfeldern entsorgten die Berliner Ende des 19. Jahrhunderts über ein System aus Pumpen und Rohren ihre Abwässer. Damals totaler Hightech, bis jemand die sogenannte Kläranlage erfand. Für Notfälle werden aber immer noch ein paar Becken freigehalten (etwa, falls die Regierung zu viel Mist machen sollte).

An diese Bundesstrecke grenzt auch, welche Überraschung, schon wieder ein Friedhof. Der verfügt über den wahrscheinlich gigantischsten KfZ-Sperrgraben des gesamten Eisernen Vorhangs.

Ein bisschen bergig wurde es wieder, als ich den Hahneberg umrundet habe. Der besteht im Prinzip aus Bauschutt, ist aber trotzdem bei Schmetterlingen wie dem Schwalbenschwanz und bei rodelnden Kindern beliebt. Der Bauschutt wird immer grüner, was dem Steinschmätzer gar nicht gefällt, denn dieser Vogel brütet lieber in kuscheligen Steinhaufen. Aber keine Sorge, die Menschen haben ihm ein paar Extrasteine dafür hingelegt. Sogar die Russische Kamille wächst dort - auf Westberliner Gebiet! Vermutlich hat die Stalin heimlich bei der Potsdamer Konferenz ausgesät, um zu stänkern.
Gleich nebenan bauten die Spandauer 1882 ein Fort. Sie hatten gerade erst für Bismarck gegen Frankreich gekämpft und dabei festgestellt, dass ihre Zitadelle im Zentrum gar nicht mehr zeitgemäß ist gegen all die dicken Kanonen und den Sprengstoff, der inzwischen erfunden wurde. Aber bevor das Fort Hahneberg überhaupt fertig war, upsi, war die Militärtechnik schon wieder ein Stück weiter. Die Spandauer hinkten der Zeit hinterher, und das Fort Hahneberg blieb unbewaffnet.

Am Rewe von Staaken treffe ich auf die Bundesstraße nach Lauenburg, die einzige Verbindung der beiden Deutschlands, die Radfahrer nutzen konnten (mehr dazu hier).
1972 schlossen beide Deutschlands ein Transitabkommen. Damit wurde vieles einfacher: Wenn Sie an dieser Stelle als Westbürger von Westberlin nach Hamburg fahren wollten, durften Sie fortan nur noch in begründeten Einzelfällen durchsucht werden (zum Beispiel, wenn das Heck besonders tief lag - vermutlich ein Flüchtling im Kofferraum). Und Sie mussten keine Gebühr abdrücken, das erledigte die BRD mit einer pauschalen Gebühr an die DDR jedes Jahr für Sie. Dafür mussten Sie aber auch in einem westdeutschen Merkblatt (die Kurzfassung hängt noch heute aus) durchlesen, was alles verboten war: Die festgelegte Transitstrecke verlassen, Anhalter mitnehmen, andere Raststätten als erlaubt benutzen und natürlich irgendwelche Zeitschriften oder sonstwas liegenlassen, in denen eventuell irgendwas Kritisches über den Staat steht, den sie gerade durchqueren... ach ja, und ganz normale Verkehrsregeln gibt es ja auch noch. Falls Sie gegen irgendwas davon verstießen, passierte erstmal... nichts. Die Stasi guckte am Rand der Straße zu und gab die Infos an den Grenzübergang in Lauenburg weiter. Sobald Sie hunderte Kilometer später die DDR wieder verlassen wollten, kam die böse Überraschung.

Dieses Kreuz erinnert an Dieter Wohlfahrt. Er war zwar in Berlin aufgewachsen, aber österreichischer Staatsbürger. Dadurch hatte er den Vorteil, dass er deutlich einfacher nach Ostberlin einreisen konnte. Das wollte er nutzen, um möglichst vielen Menschen zu helfen. Er ging zu einer Fluchthilfegruppe, die Menschen durch Abwasserkanäle schleuste, und er öffnete für sie immer die Gullydeckel auf der Ostseite. 1961 probierte er es auch mal damit, den Grenzzaun durchzuschneiden, um die Mutter eines Kommilitonen rauszuschleusen. Doch an dem Tag hatte sie jemand verraten, und Wohlfahrt wurde hingerichtet. Westdeutsche wurden bedroht, als sie ihn versorgen wollten, und die Grenzsoldaten holten ihn erst ab, als er definitiv tot war.

Damit wäre ich in Staaken angekommen. Schon 1920 schlossen sich die Staakener begeistert Groß-Berlin an. Sie mussten vorher nur noch die skeptischen Spandauer dazwischen überzeugen, und schon wurde Berlin die drittgrößte Stadt der Welt nach London und New York.
Als ich an diesem grünen Graben herauskam, wunderte mich der Zusammenschluss nicht: Die Häuser da drüben sehen schon echt urban aus. Die Gartenstadt sollte eine grüne Mischung aus Stadt und Land werden und war Vorbild für den Siedlungsbau der Weimarer Republik. 1938 startete in Staaken der erste Nonstop-Flug von Berlin nach New York, den aus Versehen alle Medien übersahen (das würde heute wohl nicht mehr passieren). Der erfolgreiche Rückflug wurde umso mehr bejubelt.
Die Staakener Kirchgemeinde war in beiden Unrechtsregimen rebellisch eingestellt: Zuerst taufte hier ein Pfarrer der Bekennenden Kirche Juden, um ihr Leben zu retten, und in der DDR wurde die Kirche zum Zentrum des Widerstands im Havelland. Interessanterweise riss die DDR sie trotzdem nicht ab, sondern verlieh ihr im Gegenteil sogar Denkmalschutz.
Der Westteil von Staaken war das Gebiet, das die Briten den Sowjets im Gegenzug für die Zufahrt zu ihrem Flughafen überließen. Der alliierte Kontrollrat fand den Tausch nicht okay, die Sowjets besetzten das Gebiet trotzdem über Nacht. Am nächsten Tag rannten viele Staakener überstürzt in Richtung Westen (also politisch, eigentlich in Richtung Osten).
So viel Geschichte sieht man den Wohnklötzen echt nicht an, oder?

Abgesehen vom Gasthaus Grenz-Eck gibt's in Staaken nicht viel zu sehen, es geht einfach am Stadtrand entlang über viele, viele Brücken und viele, viele Gleise unter den Brücken. Eine davon benutzten die Westberliner illegal, obwohl sie kurz vorm Einstürzen war und dringend saniert werden musste.  Westberlin brauchte die Brücke als Umleitung, weil sie ihre eigene Brücke noch dringender und länger sanieren mussten. Deswegen liehen sie sich die Brücke von der DDR aus (Kann man Territorium völkerrechtlich ausleihen? Egal.) und hinterließen sie der DDR gratis hübsch saniert.
Der Lokführer Harry Deterling und sein Schwager, der Heizer, hatten 1961 beide so gar keine Lust mehr auf ihre sogenannte Republik. Als sie hörten, dass ihre Eisenbahnstrecke bald woandershin umgeleitet wird, luden sie 14 Familienmitglieder auf und ballerten mit vollem Karacho über die Grenze - eine etwas stumpfere Eisenbahnflucht als die im tschechischen Aš, aber ebenso erfolgreich. Insgesamt saßen da 32 Passagiere drin, auch Soldaten und Polizisten. Nur sieben kehrten freiwillig zurück. Gerade mal zwei Jahre später wurde die Flucht schon verfilmt (Durchbruch Lok 234 gibt's auch auf Youtube), vermutlich nicht am Originalschauplatz. Eine andere Flucht erfolgte ähnlich branchial per Planierraupe.
Die Brücke wurde übrigens extra für einen Transrapid verlängert, der niemals fuhr.

Uiuiui... an der nächsten Straße hat irgendwer einen regelrechten Wald an Informationstafeln aufgestellt, endlos fächern sich die Infos, Bilder und Zitate der Zeitzeugen neben dem Radweg auf. Aber hm, eigentlich bin ich total gut in der Zeit. Wozu beeilen? Ich lese mir das jetzt alles ganz in Ruhe durch.
Hier draußen in Falkensee wurden schon in den 50ern Straßen und Buslinien dichtgemacht und das Überqueren knifflig, denn schließlich war das hier die Außengrenze und nicht die innerstädtische Sektorengrenze. Dennoch hingen viele an ihrem Haus und fuhren immer nur kurz in den Westen, um Waren einzukaufen und besser zu verdienen.
Als dann der 13. August eintrat, waren viele gerade mit der S-Bahn unterwegs, die auf einmal nicht weiterfuhr. Zwar bekamen sie ihr Fahrgeld zurück, aber wie sollten sie nach Hause kommen? Beim Umweg außenrum mussten sie so oft umsteigen, dass sie erst acht Stunden später zu Hause waren. Eine Tante schickte ihre Nichte an der Grenze zu ihren Eltern zurück, die Zehnjährige tapste völlig ungerührt durch die Sperranlagen.
Falkensee gehörte nun komplett zur Sperrzone. Jeden Freitagnachmittag verteilte ein Soldat in der Gaststätte die Besuchsgenehmigungen, die man vier Wochen vorher beantragen muss.
Eine West-Familie durfte ihre Großmutter in Falkensee nicht besuchen. Sie konnten ihr zwar durchs Fenster winken, zurückwinken war der Oma aber streng verboten. Stattdessen hängte sie als Wink-Ersatz ein Taschentuch raus.

In einer Lücke im Wald verbirgt sich der Eiskeller. Der heißt so, weil a) im Gutshof Eis im Keller gelagert wurde und b) hier die höchsten und niedrigsten Temperaturen Berlins herrschen. Der Eiskeller war eine Westberliner Exklave, aber immerhin mit einer vier Meter breiten Zufahrt. Im Eiskeller gab es wiederum ein Ministück DDR, also eine Exklave in der Exklave, und andere Stücke DDR ragten von der Seite rein. In diesem Chaos lebten drei Familien. Eines ihrer Kinder wurde 1952 weltberühmt. Erwin erzählte, die Grenzsoldaten hätten ihn auf dem Weg zur Schule gestoppt. Die Briten reagierten sofort, schickten 30 Soldaten in die Exklave und begleiteten den Zwölfjährigen jeden Tag mit einem Panzerspähwagen auf dem Schulweg (zu sehen im Foto oben auf der vordersten Infotafel, das mittlere Bild). Erst Jahre später gab er zu: Er hatte die Schule geschwänzt und eine Ausrede gebraucht.
Auf der sowjetischen Seite wurden die Gutsbesitzer von den Sowjets enteignet, andere Bauern hauten ab - darum gab es viele neue Bauern, die noch nicht so gut eingearbeitet waren. Zum Beispiel waren sie mit den Kartoffelkäfern überfordert. Aber die Lösung ist ganz einfach: Erzähl den Schulkindern, dass die Amis die Käfer aus Flugzeugen abwerfen, und schick die empörten Kleinen dann in der Schulzeit zum Sammeln aufs Feld.

Das wars auch schon mit der Stadt, jetzt geht's wieder richtig ins Grüne. Bunte Skulpturen säumen den Weg. Eine erinnert an drei junge Männer, die einen eher skurrilen Fluchtplan ausgeheckt haben: Sie nahmen weiße Klamotten und eine weiße Leiter, um vor der weißen Mauer nicht aufzufallen. Das allein reichte aber nicht, die drei müssen zusätzlich Glück gehabt haben: Entweder haben die Grenzposten gepennt oder den Schießbefehl verweigert.

Die Steinerne Brücke ist im Prinzip ein schräger Betonklotz (hinten in der Mitte) und erinnert an diejenigen, die es nicht geschafft haben.
Willi Block verfing sich dermaßen im Stacheldraht, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Nicht mal, als ihn die Soldaten dazu aufforderten. Da er sich scheinbar nicht ergeben wollte, schossen sie. Dietmar Schwitzer floh aus dem eher ungewöhnlichen Grund, dass er als Hobby gerne funkte - zu gut, denn die Stasi wollte ihn unbedingt anwerben, aber er wollte da auf keinen Fall dienen. Ein Grenzer erschoss unter nicht ganz klaren Umständen seinen Kollegen Ulrich Steinhauer, der selbst auch kein begeisterter Grenzsoldat war, um fliehen zu können. Der Westberliner Adolf Philipp, der als Fluchthelfer regelmäßig das Niemandsland erkundete, versteckte sich in einem Bunker, brachte aber durch seine Fußspuren zwei Soldaten auf seine Fährte. Offenbar sah sich der Grenzsoldat bedroht und schoss in Notwehr, tatsächlich hatte Philipp nur eine Gaspistole dabei. Zwei Motorradfahrer verpassten ins Gespräch vertieft ihre Ausfahrt und wendeten erst, als sie sahen, dass sie aus Versehen die Grenzanlagen erreicht hatte. Der Torwächter schoss und traf nicht wie geplant den Reifen, sondern einen der Brüder.

Aus dem Westberliner Zollweg ist ein fabelhafter Radweg geworden, der sich zielstrebig durch den Spandauer Forst zieht. Zum Teil war das Gelände so sumpfig, dass es nur für einen Stacheldrahtzaun reichte.
Vor allem am Laßzinsee leben viele seltene Arten. Als ich auf die Aussichtsplattform stieg, bekam ich leider weder einen Bekassinen noch einen Flussregenpfeifer zu Gesicht. Aber der See allein war den Aufstieg schon wert - er funkelt fast so blau wie ein Bergsee in den Alpen!

Diese Etappe endet, wie sie begann: Mit einem kleinen Hügel im Wald. Dann bin ich auch schon zurück an der Havel am äußersten Rand von Spandau, und es ist gerade mal früher Nachmittag.
Da kühle ich mich doch erstmal entspannt im Wasser ab und hole mir eine Riesencurrywurst. Vielleicht lenkt mich das ein bisschen ab von den grauenhaften Sachen, die ich in den letzten anderthalb Tagen gelernt habe.
Jetzt kommt noch ein Mauerstück an der Havel, das ich schon kenne und dessen grauenvolle Sachen ich mir schon während der Havelradtour durchgelesen habe. Tja, und dann werde ich wohl auch schon, überraschend früh, zurück nach Hause fahren. (Nein, werde ich nicht. Ich werde zwei Stunden in einem Oranienburger McDonalds ohne Stühle sitzen und versuchen, das Deutschlandticket für den neuen Monat irgendwie in die App zu laden.)

15 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Potsdam nach Sacrow

Die Jungfernmauer

Länge: 18 km (11 km per Havelradweg am anderen Ufer nach Wannsee)
Grenzquerungen: 2
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: fast nur Ost
Erkenntnis: Das Berliner Böse bleibt ein ungelöstes Rätsel.

Diese Strecke um den Jungfernsee ist eine Variante des Havelradwegs, für den Fall, dass die Fähre nach Wannsee nicht fährt (oder dass man die Badehose und sein kleines Schwesterlein nicht dabeihat).
Beim Berliner Mauerradweg ist es genau umgekehrt: Der Weg durch Wannsee ist die Hauptroute, und die Strecke um den Jungfernsee ist die Hauptroute.

Los geht es in Klein Glienicke, einer einsamen Ansammlung an Häusern rund um ein Jagdschloss. Die Adligen haben hier dermaßen viele Schlösser gehabt, dass schon dem Soldatenkönig Friedrich I. auffiel, dass man es eventuell besser nutzen könnte: Er machte es zum Lazarett.
Jahre später war Klein Glienicke eine einsame sozialistische Insel, mit der DDR nur verbunden über ein eine Bauampel und ein dünnes Brücklein über den Teltowkanal. Was der Soldatenkönig wohl dazu gesagt hätte?

Auf der anderen Seite von Klein Glienicke schwingt sich eine deutlich größere und prächtigere Brücke über die Havel. Die entstand 1907, weil die hölzerne Zugbrücke und die Backsteinbrücke (von Schinkel mal wieder) den ganzen Verkehr nicht mehr tragen konnten, vor allem seit der Teltowkanal gegraben wurde. Die Brücke wurde schon 1953 für Zivilpersonen gesperrt, damit die beiden Deutschlands hier in Ruhe alle Geheimagenten austauschen konnten, die erwischt wurden. Beim ersten Mal noch streng geheim einer gegen einen, beim zweiten Mal 23 Westagenten gegen 4 Ostagenten und beim dritten Mal live im Fernsehen (damit sich Honnecker als Vermittler präsentieren konnte) noch mehr Agenten plus ein russischer Dissident direkt aus dem sibirischen Gulag, dem live die Hose runterrutschte.
Auch drei junge Männer flohen hier in den Westen, ausgerechnet über die am besten bewachte Brücke der Welt. Sie ballerten mit einem LKW durch die Schranken. Ihr simpler Trick: Einfach einen Gefahrgut-Aufkleber hinten draufkleben, dann trauen die sich nicht zu schießen.
Im Film Der Hunderteinjährige, der die Rechnung nicht bezahlte und verschwand flieht Allan Karlsson aus dem zerschossenen Fluchtwagen, indem er einfach ins Wasser springt. In Wirklichkeit wäre Allan unter Wasser vom Stalinrasen aufgespießt worden, noch bevor ihn die ersten Kugel getroffen hätten.

Ausgerechnet die DDR nannte das Bauwerk Brücke der Einheit, nur zwei Jahre, bevor sie den Übergang sperrte. Das fand die BRD dermaßen absurd, dass sie demonstrativ weiter Glienicker Brücke sagte, und der Name hat sich sogar gehalten, seit die Einheit erreicht wurde. Naja, Brücken der Einheit gibt's ja auch schon diverse andere. Die Einheit kam gerade noch rechtzeitig, damit die Deutsche Stiftung Denkmalschutz Spenden sammeln und die Kolonnaden am Brückenrand retten konnte. Einen wirklichen Zweck erfüllen die schlanken Säulen aus polnischem Sandstein nicht, sie waren einfach schicke Deko, damit die ausgetauschten Agenten auch schön was zu gucken hatten.
Gleich neben den Kolonnaden steht die Villa Schöningen. Die hat, nein, nicht Schinkel, aber einer seiner Schüler, für einen Hofmarschall gebaut. Sogar Friedrich Wilhelm IV., Hobby-Architekt und nebenberuflich König, verpasste ihr ein königliches Türmchen. Später waren dort einer der ersten Direktoren der Deutschen Bank, verwundete russische Soldaten und Kinder anzutreffen. Die Villa wurde zum Kinderwochenheim, wo sozialistische Eltern ihren Nachwuchs werktags absetzen konnten, um mehr zu arbeiten. Die Villa wäre nach der Wende fast abgerissen worden. Gerettet hat sie kein anderer als der Axel-Springer-Vorsitzende Mathias Döpfner. Ja, genau der Döpfner, der gerade erst mit seinen Chatverläufen über Ossis in den Schlagzeilen war. Jetzt enthält die Villa ein privates Freiheitsmuseum. Döpfner wollte es als Zeichen der deutschen Einheit retten, von der er inzwischen offenbar nicht mehr so viel hält.

Der Reisekaiser Wilhelm II. war kein Hobby-Architekt, er bestellte einfach nur Architektur. Als er gerade eine skandinavische Phase hatte und aus Norwegen zurückkam, wünschte er sich eine Matrosenstation im norwegischen Stil, um von da aus zu segeln. Wird gemacht, Majestät! Wie sollen wir das Haus nennen? Wie wäre es mit Kongsnæs, das bedeutet Des Königs Nase Landzunge?

Potsdam besteht hauptsächlich aus Parks. Allein auf diesem kurzen Abschnitt habe ich zwei Parks durchquert, und dabei war ich gar nicht richtig in Potsdam. Der erste heißt Neuer Garten und stammt von 1787, ist also nicht mehr im engeren Sinne neu. Auch er wurde vom Reisekaiser bestellt. Eigentlich sieht er nicht weiter ungewöhnlich aus, eben so, als wären hier in Jahrhunderten Bäume und Büsche in ordentlicher Form gewachsen. Aber genau das sollten die Gärtner vortäuschen, und zwar möglichst etwas schneller als in ein paar Jahrhunderten, damit der Kaiser es noch erleben kann.
Ich betrat den Garten über die Schwanenbrücke. Die ließ sich ursprünglich hochklappen, damit der Kaiser auch bequem über den Hasengraben zum nächsten See se(e)geln konnte. Die Nazis sprengten die Brücke, die Sowjets bauten sie provisorisch wieder auf, damit Stalin zu seiner Konferenz kommen konnte. Churchill und Truman durften über Stalins Brücke nicht rüber, sie mussten den Umweg über die Stadt fahren. Später fuhren hier dann die Grenzsoldaten rum.

In einem Potsdamer Park muss alle 100 Meter ein historisches Gebäude stehen. Mindestens. Eine Eremitage, eine Meierei, eine Grotte, in der sich der Kaiser für private Teestunden verstecken konnte, egal, Hauptsache irgendwas...
Aber das wichtigste Gebäude ist ein anderes.

Schloss Cecilienhof hat 55 Schornsteine, die alle unterschiedlich aussehen. Der letzte Schornstein wurde am 9. November 1917 fertiggebaut, und das Schloss an den Kronprinzen Wilhelm übergeben. Weil Wilhelm als Name unter Adligen aber nicht direkt außergewöhnlich war, benannte man das Bauwerk lieber nach seiner Frau Cecilie. Das Paar hatte keine Ahnung, dass im Schloss in gerade einmal 30 Jahren das Schicksal der Welt entschieden würde, aber sie damit absolut nichts zu tun haben würden, weil Ihnen die Revolution in genau einem Jahr jede Macht nehmen würde. Der Prinz durfte trotz Revolution als Privatperson wohnen bleiben, und tat das bis 1945. Denn dann kamen drei Nichtadlige vorbei, die mächtiger waren, als der Kronprinz es je gewesen war. In diesen Hallen besprachen Churchill (naja, und später Attlee, weil Churchill zwischendurch abgewählt wurde), Truman und Stalin, was sie nun mit dem Land machen sollten, das sie besiegt hatten. Dabei ließen sie sich von Circus Lila inspirieren: Teilen macht Spaß. (Das Lied Teilen kann heilen dagegen erwies sich in diesem Fall als Irrtum.) Dass Deutschland geteilt werden sollte, hatten sie zwar schon auf Jalta besprochen, aber noch nicht, wie genau die Zonen aussehen sollen und was mit Berlin passiert.
Stalin pflanzte im Innenhof extra einen roten Stern aus Blumen, der verdächtig nach der sowjetischen Flagge aussah, um die anderen zu ärgern. Präsident Truman prahlte, er habe eine ganz neue gefährliche Art von Waffe (räuseratombomberäusper) und gab von hier aus telefonisch den Befehl, Hiroshima und Nagasaki zu zerstören.

An dieser Stelle war die Mauer eine viel größere Geldverschwendung als ohnehin schon. Eigentlich folgte die Grenze ziemlich zielstrebig dem Lauf der Havel. Aber die DDR hatte Pech: Ausgerechnet am kommunistischen Ufer hatte die Havel einen richtig, richtig langen Ausläufer. Der heißt zunächst Jungfernsee, später Lehnitzsee und ganz am Ende Krampnitzsee.
Eine Mauer kann man nicht übers Wasser bauen, oder? Naja, schon, wenn man den Schiffsverkehr mit Netzen und Schwimm-Pontons abriegelt. Aber das ging nur an der schmalsten Stelle, und selbst bis dahin war es ein ganz schöner Umweg. Der ehemalige Grenzturm markiert die Stelle, an der diese Wassermauer verlief. Die Pontons sind längst weg, und selbst wenn nicht, könnte ich da kaum mit dem Rad rüber. Also musste ich den kompletten Umweg um den Jungernsee machen (nicht, dass ich mich beschweren möchte, der Umweg war toll).

Wichtig war übrigens, dass sich die Mauernetze auch einholen ließen. Denn wenn ein Westberliner Schiff kam und seinen Müll abliefern wollte, dann musste man durchlassen - das brachte wertvolles Westgeld! Außerdem holten sich die Westberliner auf diesem Weg Öl und andere Brennstoffe aus der BRD. Deswegen war das der wichtigste Grenzübergang für Lastschiffe.
Der Rest des Neuen Parks war auch im Kalten Krieg geöffnet. Wenige Meter entschieden über das Schicksal der alten Bauwerke: Während das Restaurant in der Meierei ein beliebtes Ausflugsziel wurde, verfiel die Grotte zwischen den Grenzanlagen und wird bis heute mühevoll rekonstruiert.
Ein Wasserschutzpolizist der DDR stieg während der Mittagspause in ein Kontrollboot und täuschte eine Kontrollfahrt vor, die jedoch planmäßig zu eine Fahrt ohne Rückkehr in den Westen wurde. Nicht die schlechteste Strategie, auf der Ostsee hat das ja auch funktioniert.

Hinter dem Park folgt das nächste Villenviertel. Vor dem Krieg lebten hier gleich drei Bankiers. Direkt nach der Potsdamer Konferenz setzte Stalin die Bewohner vor die Tür und installierte die Verbotene Stadt a.k.a. Kleine Sowjetunion a.k.a. Militärstädtchen Nr. 7. (Armeekasernen gab es hier allerdings schon vorher.) Hier hatte der KGB seine Deutschlandzentrale, und zwar ausgerechnet im früheren Internat der Kaiserin. Das einzige, was davon übrig ist, ist das Gefängnis. Angeblich. Ich habe es vor Ort aber nicht entdeckt. In den ersten Jahren mussten die Sowjets schließlich noch alles selber machen, bevor sie der DDR ihre Art von Unrecht beigebracht hatten. Ohne Anwalt inhaftierten sie schwerste Verbrecher. Zum Beispiel Teenager, die kein russisch lernen wollten. Oder amerikanische Piloten, die bei einem Spionageflug abgeschossen wurden.

An der Straße geht es weiter in Richtung Norden. Auf der Brücke des Friedens habe ich den Sacrow-Paretzer Kanal überquert. Der verrät mir schon mein nächstes Ziel: Sacrow. Dazu muss ich erstmal um den kompletten See. Aber es geht ja ziemlich schnell voran.

Und am anderen Ufer ist es sogar schön ruhig: Ich darf in den Wald abbiegen und den Verkehr hinter mir lassen. Ist das herrlich hier! Bei so vielen strahlenden Bäumen ist es mir auch völlig wurst, dass ich jetzt über Erde mit ein paar Wurzeln fahre.
In der Bronzezeit war es genau umgekehrt, da siedelten die Menschen nur auf dieser Seite. Später kam ein slawischer Stamm und nahm die Siedlung wieder in Betrieb. Römer siedelten hier keine, trotzdem heißt die Ecke Römerschanze. Und viel später kamen dann die Kommunisten mit ihrer komischen Ponton-Netz-Mauer an und rodeten die Bäume am Ufer. Der Mauerstreifen ist heute noch zu erkennen, denn die kleinen Nadelbäumchen kommen noch nicht so richtig aus dem Tee. DIE BÄUME SIND DANKBAR FÜR JEDEN TROPFEN HAVELWASSER, ächzt ein Schild. Okay, und was genau soll ich da jetzt machen? Sorry, Bäume, ich brauche das Wasser in meinen Trinkflaschen selbst. Wenn ich gießen soll, wie wäre es, wenn ihr eine Gießkanne hinstellt?

Irgendwann wurden die Wege wieder etwas ordentlicher, und der Wald ging in den Sacrower Park über - gut zu erkennen am Grünen Schild, das sämtliche Regeln erklärt. Ein Radfahrverbot gehört zum Glück nicht dazu! Ist ja auch genug Platz da drin.
Abgesehen von einem Schloss steht in diesem Park in erster Linie eine Kirche. Tatsächlich ist die Sacrower Heilandskirche so ziemlich die allererste Sehenswürdigkeit von Potsdam, von der ich je gehört habe. Ein Bekannter schwärmte davon, wie absolut sehenswert Potsdam sei und wie klasse er das fände, dass da einfach mal so eine wunderschöne Kirche mitten in der Natur stünde, einfach zur Verschönerung. Ganz Unrecht hat er nicht, die Kirche steht schon recht isoliert am Ufer. Und sie ist definitiv ein schicker Blickfang mit ihren Säulen und Fliesen! Persius (der Typ, von dem auch die Döpfner-Villa gegenüber stammt) hat sie im italienischen Stil gebaut, und tatsächlich, ich fühlte mich fast wie in der Toskana (auch, was die Temperaturen angeht).
Andererseits steht sie natürlich trotzdem in einem künstlichen Park statt purer Natur, und so weit weg ist das Dorf Sacrow nun auch wieder nicht. Deswegen fanden in der Kirche ganz normal Gottesdienste statt. Was den Grenzsoldaten ein Dorn im Auge war. Kirchen fanden sie eh überflüssig, und hier könnten die Bürger auch noch auf dumme Gedanken kommen und nach dem Gottesdienst zwischen die Seerosen (damals noch ohne Stalinrasen) hüpfen, um nach Westberlin zu schwimmen. Kurz nach Heiligabend 1961 demolierten die Grenztruppen die komplette Einrichtung, damit endlich Schluss mit dem Quatsch war. Erst 28 Jahre später hielt genau derselbe Pfarrer, der damals die letzte Christvesper gehalten hatte, wieder einen Gottesdienst in der Heilandskirche. Der Raum war proppenvoll.
Weder das Kirchenschiff noch der Turm waren geöffnet. Aber außenrum zwischen den Säulen hindurchschlendern und auf die Glienicker Brücke gucken, das ist definitiv auch einen Spaziergang wert.

Von Sacrow aus führt eine Waldstraße bis zur Wannsee-Fähre in Kladow. Mauer und Mauerradweg knicken aber vorher links ab. An der Stelle lagen sich an der Havel der britische und amerikanische Stadtsektor gegenüber, ich folge ab jetzt der Grenze zwischen britischem Sektor und sowjetischer Besatzungszone/DDR.

Rund um den Jungfernsee grenzten Teile der ostdeutschen Stadt Potsdam besonders eng an die Mauer, und das hatte dramatische Folgen. Hier musste man überhaupt nicht flüchten, um ermordet zu werden. Es gab eine Aktivität, die fast genauso lebensgefährlich war: Busfahren.
Horst Mende hatte in der Nähe der Glienicker Brücke Party gemacht. Danach ging er auf die Brücke zu und fragte den Zöllner, wo der Bus abfährt. Er bekam eine Antwort und entfernte sich wieder von der Grenze. Aber die Volkspolizei war misstrauisch geworden und fragte nach seinen Personalien. Horst gab ihnen seinen Ausweis, begriff aber nach der durchzechten Nacht nicht, dass sie ihn gleich festnehmen wollten. Der Bus kam. Horst fragte, ob sie sonst noch was wollten. Keine Antwort, also lief er los. Die Kugeln trafen ihn in den Rücken und machten ihn mit 23 Jahren zum Invaliden.
Lothar Hennig stieg in Sacrow aus dem Bus. Weil gerade Flüchtlingsalarm war, riet ihm der Busfahrer, aufzupassen. Daraus zog Lothar leider einen völlig falschen Schluss: Er rannte die 400 Meter nach Hause im Dauerlauf und hielt nicht mal an, als ihm etwas zugerufen wurde und ein Warnschuss ertönte. Die nächsten Schüsse trafen ihn in den Rücken.

Allmählich macht mich der Berliner Mauerweg immer ratloser. Wer seinen Glauben an die Menschheit behalten will, dem muss ich von dieser Tour dringend abraten. An der Innerdeutschen Grenze war noch meistens von den Opfern der Minen und Selbstschussanlagen die Rede. Das lässt sich  mit einem einfachen menschlichen Mechanismus erklären (der mit autonomen KI-Kampfdrohnen aktuell perfektioniert wird): Je mehr Abstand du zwischen Täter und Opfer bringst, desto leichter fällt das Töten.
Aber in Berlin? Da betrug dieser Abstand mitunter gerade mal mal 15 Meter! Hier gab es schießwütige Soldaten, deren Verbrechen weit über das Prinzip Befehl ist Befehl hinausschossen. Sie schossen entgegen der eindeutigen Regeln auf Minderjährige, auf Menschen, die sich ergaben, oder in Situationen, wo keinerlei Fluchtgefahr mehr bestand. Sie bekamen zwar selten Ärger deswegen, aber dennoch: WARUM? Das war nicht nötig, nicht mal, um die Abwanderung aus dem Land zu verhindern (was manche Politiker bis heute als Rechtfertigungsgrund ansehen, weil dem armen Politbüro ja nichts übrig blieb. Also, außer, seinen Job zu machen und vernünftig zu regieren, damit die Menschen nicht mehr so unzufrieden sind.)
Ein Haufen Menschen wird jetzt sagen: Das ist halt so ein uralter Instinkt, der an die Oberfläche bricht, sobald er die Gelegenheit hat. In unserem Inneren steckt ein böses Monster. Ein verbreiteter Irrglaube, an dem niemand ernsthaft festhalten kann, der Rutger Bregmans Im Grunde gut gelesen hat.
Waren manche Soldaten einfach nach ihren Schulungen, und nach dem gesamten Bildungssystem der DDR, dermaßen ideologisch aufgepeitscht gegen den Klassenfeind, dass sie hemmungslos herumballerten? Kann sein.
Bregman glaubt allerdings, dass Kameradschaft viel wichtiger ist als Ideologie. Dabei bezieht er sich auf die Verbrechen der Nazi-Soldaten. Auf die Mauerschützen passt diese These aber so überhaupt nicht, denn das System der Grenztruppen verfolgte ja gerade das Ziel, dass keine Kameradschaft entsteht. Immer wieder wurden zwei wildfremde Soldaten auf einen Posten zusammengewürfelt, damit sie sich gegenseitig misstrauisch beobachten, statt sich gemeinsam zur Flucht zu verbünden.
Ein anderer Grund könnte sein: Völlig egal, ob ein Schuss nun den Regeln entsprochen hätte - bei einer erfolgreichen Flucht bekam man meistens auf den Deckel. Also im Grunde Angst. Das erklärt vielleicht die Schüsse auf Minderjährige und weit entfernte Flüchtlinge, die die Hände hoben, aber nicht auf völlig eingekreiste Menschen oder solche in 15 Meter Entfernung, die definitiv keine Chance mehr hatten.
Da bleibt dann doch nur die Ideologie als Erklärung.
Reicht das aus?
Keine Ahnung.