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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

24 Mai 2023

Weser: Von Neuwerk nach Scharhörn

 Weser-Tag 12: Die Spatzinsel

gewandert im: Mai 2023
Start: Neuwerk, Hus achtern Diek, Campingplatz
Ziel: Scharhörn, Vogelwärterhütte, und wieder zurück
Länge: zweimal ca. 8,6 km
Prielquerungen: etwa 2 mittelgroße und 2 Fahrwasser
Ufer: rechts der Weser, links der Elbe
Bundesländer: Hamburg
Landschaft: Watt und ein eigentümliches Strand-Watt-Mittelding
Wegbeschaffenheit: überraschend fest
Steigungen: eine Metalltreppe und eine ca. 30 Zentimeter hohe Prielkante
Wetter: ein bisschen bewölkter, doch immer noch ein Traum
Wind: seltener Ostwind für trockene Beine
Highlight: Muschelkonzert & Vogelführung
Größte Hürde: Schlickstelle in der zweiten Hälfte, abseits des ausgewiesenen Weges
Zitat des Tages: "Ich beneide meine Chefin nicht um ihre Position. Wenn ich vor Ort erzähle, wo ich arbeite, dann werde ich jetzt nicht persönlich angegriffen, aber es heißt dann schon so: Und, wie viele Tiere sind es dieses Jahr? Sind aber schon ganz schön viele, oder?" - J., Vogelwart von Scharhörn - 

1. Sie möchten zur Insel Scharhörn? Führungen dorthin werden bloß alle paar Monate mal angeboten, also machen Sie das lieber individuell. Wählen Sie einen Tag und berechnen Sie die richtigen Ge(h)zeiten: Wikipedia empfiehlt, vier Stunden vor Cuxhavener Niedrigwasser aufzubrechen und bei Scharhörner Niedrigwasser den Rückweg anzutreten. Das macht in der Theorie etwa fünf Stunden inklusive eine Stunde Aufenthalt. Mal sehen, wie das dann in der Praxis aussieht.
Stellen Sie fest, dass Sie laut Ihrer Berechnung am ausgewählten Tag um 5:40 Uhr starten müssen.
Rufen Sie den Vogelwart an und fragen Sie, ob er an dem Tag Zeit hat. Ansonsten dürfen Sie die Insel nicht betreten. Er ist zunächst überrascht, dass sie ernsthaft so früh aufstehen wollen. Dann empfiehlt er Ihnen, vorher im Nationalparkhaus auf Neuwerk nochmal abzuchecken, wie die Bedingungen gerade sind, und sich den Weg erklären zu lassen. Tun Sie das. Der Typ vom Nationalparkhaus wird von Ihrer sorgfältigen Vorbereitung eingeschüchtert sein und nur bestätigend nicken können. Verlassen Sie das Nationalparkhaus überaus selbstzufrieden.

2. Stehen Sie rechtzeitig auf und wandern Sie in Richtung Wattrampe. Dort sollen Sie eigentlich starten. Andererseits: Da drüben ist doch schon der Weg, und die paar Meter direkt vor der Insel kann man ja wohl auch querwattein gehen, oder?
Blicken Sie nachdenklich vom Deich aufs Watt und treten Sie dann kurzentschlossen in den Schlamm. Ja, die Abkürzung ist kein Problem.
Die Buschpricken hingegen sind eher unentschlossen als kurzentschlossen. Nirgendwo sieht man so gut wie hier, dass Wattwege jedes Jahr neu verlegt werden. Reihen aus Stümpfen abgebrochener Pricken reihen sich stumpf nebeneinander - manche nur einen Meter voneinander entfernt. Da drüben, nee, doch lieber hier, ach nee, doch da... 

2. Der Grund, warum Sie sich so viel abkürzen konnten, ist folgender: Bevor dieser Weg wirklich ins Meer hinausführt, umrundet er die halbe Insel Neuwerk. Uff.
Nach den ersten Pfützen erwartet Ihre nackten Waden viel zu früh am Morgen die tiefste Stelle des ganzen Wochenendes. Waten Sie durch das Fahrwasser am sogenannten Bauernhafen, der heute als Yachthafen dient. Und anschließend durch einen Ausläufer vom Fährhafen. Die Strömung ist zwar kaum spürbar, aber sogar bei Ostwind reicht Ihnen das Wasser bis über die Knie. Brr! Ihre Füße haben sich längst ans Wasser gewöhnt, doch von ihren Waden pellt sich nun eine imaginäre Eisschicht.
Die Belohnung lässt nicht auf sich warten: Ein unglaublicher Sonnenaufgang über Neuwerk. Und für einen Moment färbt sich der graue Schlamm feuerrot.

3. Dann endlich entfernt sich der Wattweg von der Insel, und die richtige Wanderung beginnt. Ist das da hinten Scharhörn? Hui, noch ganz schön weit weg. Die Vogelwärterhütte ist kaum mehr als ein weißer Punkt.

In einem Quadratmeter Watt können hunderte Muscheln leben. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie doch einfach mal in Ihren eigenen Fußabdruck.

Gestern haben Sie gelernt: Die Sandklaffmuschel lebt 20 Zentimeter unter der Erde, ziemlich tief für eine Muschel. Und weil ihr Grabfuß nicht mitwächst, kann Sie ihren Standort nie mehr wechseln, sobald sie erwachsen ist. Wie schafft sie da überhaupt Nahrung heran? Ihr liefert schließlich kein Trecker was vom Edeka auf dem Festland. Deswegen streckt die Sandklaffmuschel einen Sipho an die Oberfläche und saugt lecker Plankton und Kieselalgen ein. Dieses Teil wird bis zu 50 Zentimeter lang!
Aber huch, da nähern sich Vibrationen! Ob das wohl Touristen sind? Rasch zieht die Elefantenmuschel ihren Sipho ein. Dabei stößt sie alles Wasser aus, und eine kleine Fontäne spritzt aus dem Loch.
(Mein Gehirn gestern dazu: "Wie cool, eine Springbrunnenmuschel!"
Die Wattführerin: "...und deshalb nennt man sie auch Pissmuschel.")
Die gestrige Strecke war viel zu voll, als dass man solche ein Fontäne hätte sehen können - unter dem Getrampel waren vermutlich sämtliche Siphos längst so weit zurückgezogen, wie es nur ging.
Doch heute können Sie das Phänomen erleben - und zwar in Massen! Bei jedem Schritt spritzen aus winzigen Löchern feine Wasserstrahlen zehn Zentimeter hinauf in die Morgenluft. Und damit nicht genug: In den größeren Löchern spritzt es auch, dort aber nur ein bis zwei Zentimeter hoch. Bub. Bub. Bub. Es sieht aus, als würde eine Luftblase aufsteigen. Ob da eine andere Muschelart lebt, die etwas ähnliches macht? Die kleinere Herzmuschel vielleicht?
Bub. Bub. Bub. Es klingt wie sanft fallender Regen. Die Muscheln veranstalten ein Konzert am Morgen, mit nur zwei einsamen Wanderern als Publikum.
Wie kommt man nur auf die Idee, etwas derart Wunderschönes mit dem Wort Pissmuschel zu versehen?


Ein paar Meter entfernt sieht man den Grund, warum dieselben Muscheln an der Oberfläche so oft in Form geknackter Schalen zu sehen sind: Die Seevögel picken in ihrem schlammigen Frühstücksbuffet herum.

4. Die Priele heute sind weniger tief. Einer davon hat eine kleine Prielkante, so eine Art Klippe aus Matsch. Aber wirklich nur ganz klein, mit einem normalen Schritt sind Sie auch schon unten angekommen. Angeblich hat das Cuxwatt noch viel größere Prielkanten. Gestern im Nationalparkhaus hing die Schwarzweißfotografie einer wahnsinnig hohen Kante - aber wer weiß, vielleicht hat der Fotograf ja auch irgendwie mit der Perspektive getrickst.
Sie laufen mittlerweile durch die Schutzzone 1 des Nationalparks. Hier dürfen Sie den markierten Weg nicht verlassen. Und natürliche darf man hier auch nichts ins Watt einbetonieren: Rettungsbaken gibt es also keine, und auch die Orientierungsbaken für die Schiffe wurden längst abgerissen. (An einer Stelle kündet ein Steinhaufen davon.)

Wandern Sie und wandern Sie und wandern sie. Die Uhr tickt, doch die Inseln am Horizont rücken nur zögerlich näher. Nun ist schon mehr als die Hälfte der Hinweg-Zeit vergangen. Haben Sie schon die halbe Strecke geschafft? Hmm, nee, naja, wird schon.
Neben Scharhörn erstreckt sich ein zweiter gelber Streifen am Horizont, die Insel Nigehörn ("Neues Eck"). Die Insel ist komplett künstlich aufgeschüttet und enthält einen kleinen Wald, in dem verschiedene Vogelarten ihre Nester verstecken. Sie nehmen es in Kauf, ein paar Meter zu laufen, bis sie losfliegen können - dafür frisst ihnen keine Möwe die Eier weg.
Schon 1979 plante Hamburg, hier eine Insel aufzuschütten - damals aber aus komplett anderen Gründen. Ein Tiefwasserhafen in der Elbmündung sollte auf beiden Inseln entstehen, sogar mit Bahnanbindung, Stahlwerken, Chemieindustrie und Atomkraftwerk! Erst 1989 wurde die Aufschüttung dann zu einem ganz anderen Zweck umgesetzt als geplant, nämlich zum Naturschutz. Beide Pläne hatten immerhin ein gemeinsames Ziel: Sie wollten die Insel Scharhörn schützen und quasi vor dem Meer abschirmen. Die beiden Inseln sind eng verbunden, seit den 90ern kann man sogar bei Hochwasser rüberlaufen. Darf man aber nicht: Außer dem Vogelwart ist es niemandem gestattet, Nigehörn zu betreten.
Mittlerweile spült das Meer hinter Nigehörn eine neue Sandbank an, die sich in Zukunft zu einer dritten Insel entwickeln könnte.

5. Folgen Sie der Traktorspur auf die Zielgerade. Bald müssten die Reifenabdrücke in einer Schlammpfütze enden.
Noch vor einem Monat haben Sie nämlich auf Instagram erschrocken gelesen, wie der Vogelwart sein Zeug per Traktor auf die Insel bringen wollte. Doch alle Neuwerker Traktoren blieben stecken und mussten rausgezogen werden - oje, werden Sie dann überhaupt zur Insel wandern können? Erst mit einem Monat Verspätung schaffte es der Vogelwart mithilfe eines Schlauchboots, alles mitzunehmen und endlich seinen Job anzutreten. Wattwagen können die Insel ohnehin schon seit Jahren nicht mehr ansteuern. Das liegt daran, dass sich immer mehr Schlick ansammelt. Vor kurzem hat Hamburg die Elbe ausgebaggert und wollte frischen Schlick in den Nationalpark kippen, das war ein großes Streitthema in der Politik. Am Ende landete das Zeug stattdessen in der Nähe von Helgoland.
Nach all den schlickigen Nachrichten haben Sie bestimmt nicht erwartet, dass der Weg weniger schlickig ist als gestern, stimmt's? Ist er aber. Und die Traktorspur nimmt einfach kein Ende, denn inzwischen kommen auch die Trecker wieder durch.
Und da vorn ist auch endlich die Insel, wird auch Zeit. Aber... was ist das? Die Buschpricken knicken ab und... führen von der Insel weg? Hö, das sah auf der Karte aber ganz anders aus! Eigentlich sollten Sie doch zwischen Scharhörn und Nigehörn hindurchwandern, über einen grünbewachsenen Priel, oder? Tja, auf der alten Strecke hat sich inzwischen eine Salzwiese entwickelt, die geschützt werden soll. Seit 2023 Jahr führt der Wattweg also noch einmal um Scharhörn herum und von hinten auf die Insel drauf. Umpf, das sieht noch ganz schön weit aus. Laut Zeitplan sollten Sie eigentlich in wenigen Minuten da sein.

6. Folgen Sie trotzdem brav dem neuen Weg, und lassen Sie sich überraschen: Auf einmal wird das Grau zu Gelb, und Sie laufen über einen Strand. Oder zumindest irgendwas in der Art. Gehört das schon zur Insel oder noch zum Watt? Das kommt drauf an: Je nach Wind und Wetter überspült die Flut diese riesige Fläche oder auch nicht. Ein Höhenunterschied ist nun einmal fast nicht vorhanden.
Am Wegesrand wachsen die ersten Queller. Diese dunkelgrünen Stummelpflanzen sind Pioniere, die ersten, die frisch aufgespülte Sandbänke besiedeln. Genau für so was lohnt es sich, nach Scharhörn zu wandern: Eine Insel wie Neuwerk, eingekreist von Deichen, kennt diesen langsamen Übergang vom Meer zum Land nicht.

Am Rande der Sandfläche wird das Gelb direkt zu Blau: Sie sind jetzt ganz nah an die Elbe herangekommen. Schon gestern konnten Sie die ganze Zeit Containerschiffe in der Ferne sehen, die durch den Matsch zu gleiten schienen. Aber nirgendwo war der Welthandel so nah wie an dieser Stelle. (Auf dem Foto sehen die Schiffe freilich trotzdem mikroskopisch klein aus.)

7. Wie lange beobachtet der Vogelwart Sie wohl schon durch sein Fernglas? Da, er kommt Ihnen entgegen... und jetzt steht er herum und wartet auf sie... und er wartet immer noch. Mann, sind Sie langsam.
Schließlich erreichen Sie den neuen Eingang nach Scharhörn, an dem sich der Sand zu einer richtigen Düne auftürmt. Wie spät ist es? Ach, Sie haben doch nur eine Viertelstunde Verspätung, das sollte noch für eine ordentliche Führung reichen. Begrüßen Sie den Wart mit einem einfachen "Moin". Er bringt sie die letzten Meter über die Dünen, wo Möwenmassen über ihren Köpfen kreisen.
"Keine Sorge, die machen nichts."

Als erstes zeigt er Ihnen ein Möwennest direkt am Wegesrand. Für Möwen ist den ganzen Frühling über Ostern, denn ihre Eier sind bunt gefleckt.
Als zweites zeigt er Ihnen die Eierschalen einer unvorsichtigen Eiderente, die ausgerechnet inmitten der Möwen brüten wollte. "Keine Sorge, die machen nichts." gilt nämlich nur, solange Sie kein Eiderentenei sind.

Immer von Frühling bis Herbst lebt der Vogelwart in einer Containerwohnung. (Der kleinere Container rechts enthält eine meteorologische Messstation, die meistens vollautomatisch läuft.) Der diesjährige Vogelwart ist ein sympathischer Biologiestudent und schreibt dort seine Bachelorarbeit. Er bekommt Strom durch Solarzellen, Internet durch Satelliten, Wasser durch einen Vorrat an Kanistern und Abwasser durch ein Plumpsklo. Seine Vorräte liegen in der Holzhütte, einen Kühlschrank gibt es nicht. Es sei denn, man zählt einen kaputten Kühlschrank mit, den das Meer einmal angespült hat.
Klingt einsam? Er meint, die Medien würden den Job viel zu Robinson-Crusoe-mäßig darstellen. Etwa einmal die Woche kommen schließlich Besucher auf die Insel, außerdem wandert er regelmäßig rüber von Scharhörn (Einwohnerzahl: 1) nach Neuwerk (Einwohnerzahl: 16), um unter Leute zu kommen. Im Ernstfall könnte er seine wöchentlichen Aufgaben sogar so schieben, dass er mehrere Tage pro Woche gar nicht auf der Insel sein müsste.
Steigen Sie die Metalltreppe hinauf, lassen Sie sich ein Fernglas reichen und löchern Sie Ihn mit Fragen. Seine Wohnung zeigt er Ihnen nicht, aber von der Plattform können sie die Insel in alle Richtungen überblicken.

Und was gehört zu seinem Job? Hauptsächlich Vögel überwachen und Müll zählen Müllmonitoring. Aktuell eine manchmal traurige Tätigkeit, denn die Zahlen sinken (bei den Vögeln, nicht beim Müll). Die Vogelgrippe ist nach wie vor ein Problem, auch wenn seine Vorgängerin von 2022 es noch viel schwerer hatte und ständig gefiederte Tote fand (und roch).
Zwischen all den großen Möwen, Gänsen und Enten ist es gar nicht so leicht, auch die kleinen Singvögel zu beobachten. Darum hat er es sich ein bisschen leichter gemacht und rund um den Container Stöcke aufgestellt, die den Singvögeln bequeme Sitzgelegenheiten bieten sollen. Funktioniert es? Dieser Stock ist leer, der nächste auch, der auch, aber da, da sitzt ein brauner!
Die größte Pflanze auf Scharhörn ist die Kartoffelrose, ein Busch mit rosaroten Blüten. Sie verdrängt aktuell andere Rosenbüsche mit weißen Blüten, aber was das für die Vogelwelt bedeutet, ist noch nicht richtig erforscht. Schleswig-Holstein will auf seinen Inseln die Kartoffelrosen direkt mit Baggern rausreißen, Hamburg hält sich da erstmal zurück.

Die Insel Scharhörn ("scharfes Eck") war jahrhundertelang bloß eine Sandbank mit Seebake und Schiffsfriedhof. Immer wieder hielten sich Schiffe auf der Elbe zu weit links (vom Festland aus gesehen) und verwandelten sich schnurstracks in Wracks. Irgendwann gab es extra ein Versteck mit Essen und Alkohol für gestrandete Seemänner. Der Alk wurde jedoch ständig von Einheimischen weggesoffen, die rübergewandert waren, um die Wracks auszuplündern.
Im Jahre 1902 entdeckte der Lehrer Heinrich Gechter, dass Brandseeschwalben auf der Sandbank brüten und dass sich erste Pflanzen angesiedelt hatten. Ihre Samen reisten unter anderem unter den Flügeln von Seeadlern auf die Insel - lassen Sie sich vom Vogelwart ganz anschaulich Federn zeigen, an denen die Samen kleben. Gechter setzte sich dafür ein, die Insel weiter zu bepflanzen, um die Nester vor den Stürmen zu schützen. Und sein Vorhaben klappte - abgesehen von einer Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg, als Soldaten auf der Insel stationiert waren und Bunker gebaut wurden. (Immerhin konnte 1941 durchgesetzt werden, dass die Soldaten nicht wahllos irgendwelche Eier auffuttern dürfen.) Gechter wurde später der zweite Vorsitzende des Vogelvereins Jordsand, welcher sich bis heute um die Insel kümmert.
Scharhörn ist eine Wanderdüne, auf der einen Seite wird Land angespült, auf der anderen verschwindet es. So war es zumindest mal. Deswegen standen hier neun verschiedene Vogelwart-Hütten, jedes Mal ein Stückchen weiter östlich. Von manchen ragen die Pfähle und Ruinen noch immer aus dem Sand. Die aktuelle Containerunterkunft stammt aus dem Jahr 2018.
Mit dem Bau von Nigehörn wurde die Wanderdüne gestoppt. Im Prinzip. Ein bisschen Land verschwindet allerdings noch immer, nur kommt keines mehr dazu. Dafür entsteht, wie schon erwähnt, ein Stück entfernt eine ganz neue Insel. Also mal sehen, was aus diesem Gebiet wird.

8. Wenn Sie viel Glück haben, begleitet der Vogelwart Sie auf dem Rückweg nach Scharhörn. Der Grund dafür ist kurios: Offenbar haben sich seine Kollegen im Nationalparkhaus bei ihrer Lebensmittelbestellung verpeilt, und deswegen muss er ihnen jetzt von der kleinen Insel sein Essen zurück auf die größere Insel bringen. Dazu benutzt er einen ganz speziellen Wagen, der extra fürs Watt entworfen wurde. Seine breiten Räder können im Wasser schwimmen, auf festem Boden rollen und im Schlick gleiten. Trotzdem ist es auch ihm schon passiert, dass er sich mit den Gezeiten verschätzt hat und Trinkwasser aus dem Kanister ablassen musste, um das Ding noch rechtzeitig ans Ziel ziehen zu können.
Wenn Sie solch fachkundige Begleitung haben, können Sie die Pricken ignorieren und ihm schnurgeradeaus in Richtung Neuwerk hinterhermarschieren. Der Boden ist auch auf diesem Weg ziemlich gut.
Und noch besser: Wenn er in der Ferne graue Hubbel als Robben identifiziert, macht er Sie darauf aufmerksam und reicht Ihnen noch einmal sein Fernglas, damit dieser Tag perfekt mit ein paar Kegelrobben abgerundet wird.

9. Die letzte Abkürzung hätten Sie sie auch auf dem Hinweg nehmen können, wären Sie nicht so vorsichtig gewesen: Es geht mitten durch das Fahrwasser am Schiffsanlager, also genau da durch, wo Sie wenige Stunden später per Schiff heimkehren werden. Sogar eine Kartenapp zeigt diese Abkürzung als Weg, nur die Buschpricken und die Landkarte im Nationalparkhaus kennen sie nicht.
Auf dem Rückweg, mit sicherer Begleitung und noch niedrigerem Wasserstand, können Sie jedenfalls bedenkenlos durch das bisschen Wasser stapfen. Durch diese olle Pfütze soll nachher die Fähre durch?
Achtung: Der Durchgang hinter dem Anleger ist mit einem Drängelgitter versperrt. Zu Fuß passen Sie da durch, aber wenn Sie einen Ziehwagen dabeihaben, müssen Sie den irgendwie über die Steinmauer hieven.
Durch den schnurgeraden Rückweg sind Sie, trotz Ihrer Verspätung auf dem Hinweg, eine halbe Stunde früher als geplant zurück. Verabschieden Sie sich, und stapfen Sie zielstrebig zu Ihrem nächsten Ziel: Zeit für die zweite Fußdusche!

22 Mai 2023

Weser: Von Sahlenburg nach Neuwerk

 Weser-Tag 11: Die Karawane am Grunde des Meeres

gewandert im: Mai 2023
Start: Sahlenburg, Campingplatz/Rettungsstation am Strand
Ziel: Neuwerk, Hus achtern Diek, Campingplatz
Länge: 10 km (Wattweg nach Neuwerk) + ca. 6 km (Inselerkundung)
Prielquerungen: etwa 4 große und diverse kleine
Ufer: rechts der Weser, links der Elbe
Bundesländer: Niedersachsen, Hamburg
Landschaft: Watt soll ich dazu sagen
Wegbeschaffenheit: mal fest, mal schlickig
Steigungen: nur auf dem Deich und Leuchtturm
Wetter: Sonne satt ohne Affenhitze, ein Traum
Wind: seltener Ostwind für trockene Beine
Highlight: Das Watt insgesamt
Größte Hürde: Schlickstelle in der zweiten Hälfte (abseits des markierten Weges)
Zitat des Tages: "Denn die Flut kommt ja trotzdem." - J., Wattführerin in Sahlenburg -

1. Sie wollen Ihrer Weser- oder Elbreise einen absolut krönenden Anfang oder Abschluss geben? Oder einfach so ein abgefahrenes Wochenende erleben? Dann kann ich Ihnen die zwei magischen Inseln im Cuxwatt wärmstens ans Herz legen.
Wenn Sie nicht so gut zu Fuß sind, zuckeln Sie für etwa 25 Euro im Pferdewagen, dessen sich Pferde durch die Meere wagen. Wenn Sie Wert auf Stil legen, reiten Sie auf Ihrem eigenen Pferd hindurch.
Suchen Sie jedoch eine neue Herausforderung für Ihre Beine, wählen Sie den Fußweg. Wollen Sie sparen, dann recherchieren Sie online sorgfältig die aktuellen Gezeiten, starten Sie etwa 2,5 Stunden vor Ebbe Niedrigwasser und laufen Sie allein los - an schönen Tagen folgen Sie einfach der Menge. Wenn Sie jedoch kein Sicherheitsrisiko eingehen oder mehr über den Boden unter Ihren Füßen lernen möchten, dann buchen Sie eine Führung (22 Euro).

2. Stehen Sie brav und verschlafen Punkt 6:30 am Treffpunkt Rettungsstation in Cuxhaven-Sahlenburg. Los geht es aber erst um sieben. Lassen Sie Ihren Namen abhaken und erfahren Sie, welche Wattführerin Ihnen zugewiesen wurde. Sitzen Sie sodann den Großteil der halben Stunde sinnfrei schlaftrunken herum - wie erwartet handelt es sich um einen Idiotenpuffer für Verspätete. Zumindest sind Sie mit Ihrer Müdigkeit nicht allein: Beobachten Sie belustigt, wie sich der verschlafene Rettungshund streckt und mit trüben Augen in den Morgen blinzelt, da er offenbar noch nicht so richtig bereit ist, sie zu begleiten.
Kurz vor 7:00 öffnet auch endlich das Strandklo. Sollten Sie über Schamgefühl verfügen, treten Sie hier unbedingt den letzten Klogang an.
Nach kurzer Einweisung starten Sie endlich quer über den Meeresboden. Folgen Sie der Wattführerin quer über den weißen Sandstrand.

Dort, wo das Weiß des Sandes allmählich gelb wird, wurden Bündel von Ästen in den Sand gesteckt. Diese ästetischen Wegweiser nennen sich Buschpricken und weisen Wege durchs Watt. (Ähnliche Dinger gibt's auch für Schifffahrtswege). Folgen Sie Ihnen - aber nicht zu pingelig, ein paar Meter Abstand halten oder eine Kurve schräg abkürzen ist bei gutem Wetter kein Problem.

Latschen Sie permanent durch irgendwelche Pfützen und Wasserläufe. Insofern Sie Ihren Füßen keine dekorativen Narben durch messerscharfe Muscheln zufügen möchten, tragen Sie unter Ihrer kurzen Hose stabile Schuhe. Sofern Sie Ihre Füße nicht zu Tode scheuern lassen möchten, tragen Sie darunter Socken. Lassen Sie Schuhe und Socken nun von den ersten Pfützen vollkommen durchnässen. Keine Sorge, das fühlt sich nur für zwei Minuten unangenehm an und anschließend aus irgendeinem Grund völlig normal.
Zumindest, bis Sie wieder an Land sind.

3. Noch nasser werden Sie in den Prielen. Das sind so was wie Unterwasserflüsse, und der erste ist gleich der brutalste: Das Sahlenburger Loch.
Der Priel wurde mit Spundwänden aus Holz und einer Riesenladung Steine befestigt. Das Wasser rauscht nun durch eine Art kleinen Wasserfall am Meeresgrund, quasi ein Unterwasserfall. Sollte er noch zu voll sein, warten Sie lieber noch etwas ab. Und sogar, wenn er leer genug ist, reicht Ihnen das Wasser oft immer noch bis zur Hüfte. Es sei denn, Sie haben das seltene Glück und es weht Ostwind. Der drückt das Wasser aus dem Priel raus, und auf einmal reicht Ihnen das Meer selbst am tiefsten Punkt der Strecke nur bis über den Knöchel.

Aber Vorsicht, die Strömung haut trotzdem ordentlich rein! Alter Verwalter, wie doll muss die dann erst sein, wenn das Wasser hüfthoch steht?
Marschieren Sie im Gänsemarsch zwischen den Holzstangen hindurch... hallo! Zwischen den Holzstangen! Ehe Sie sich's versehen, hat Sie die Strömung ein paar Zentimeter vom rechten Weg weggedrückt. Selbst Ihre Wattführerin ist nicht davor gefeit.

Versuchen Sie auf keinen Fall mit einem privaten Kutschwagen, dessen Pferde Panik kriegen, mittendrin zu wenden. Sonst stürzt Ihr ganzes Fuhrwerk den Unterwasserfall hinab, mitten ein gewaltiges Feld aus Rasiermessern. Ehrlich, genau das ist hier schon geschehen. Sie fragen sich, wo im Meer die Rasiermesser herkommen sollen? Dann greifen Sie doch mal in die Austernbank da drüben!
Die Auster ist hier eigentlich gar nicht einheimisch, aber am Sahlenburger Loch fühlt sie sich offenbar pudelwohl und hat sich breitgemacht. Und zwar so richtig. Vor lauter Austern ist kaum noch etwas vom Boden zu sehen.

4. Wandern Sie am Deutschen Eck weiter geradeaus bzw. links. Von rechts kommt eine zweite Reihe Buschpricken dazu. Das ist der Wattwanderweg von Cuxhaven-Duhnen zur Insel. Falls Sie zwei Kilometer länger laufen, aber das tiefe Sahlenburger Loch umgehen möchten, dann hätten Sie auch diesen Weg nehmen können.
Diese Kreuzung heißt aus irgendeinem Grund Deutsches Eck. Warum, konnte auch die Wattführerin nicht so richtig erklären.
Sollten Sie bereits hier von der Flut eingeschlossen werden, besteigen Sie die Leiter zur Rettungsbake Nr. 5. Keine Panik, die Seerettung kann Sie aus der Ferne gut erkennen und kommt oft schon nach 20 Minuten per Boot oder Amphibienfahrzeug angedüst. Touristen aus den hohen Metallkäfigen zu ernten, ist für die im Sommer komplett alltägliche Routine. Wenn Sie nicht vorsätzlich gehandelt haben (zum Beispiel, weil ein Wattführer Ihnen entgegengekommen ist und gesagt hat, Sie müssen dringend umkehren), müssen Sie den Einsatz auch nicht bezahlen.
Falls Sie aus der Ferne nicht gesehen werden und Ihr Handy keinen Empfang hat, liegen auch ein Funkgerät, eine Leuchtrakete und etwas Proviant bereit. Fazit: In den Dingern gefangen zu sein, ist vermutlich nicht so schlimm, wie es aussieht. Es scheint, als sei das vordere Cuxwatt bewusst als abgesteckte Idiotenwiese angelegt, gepflastert mit Wegmarkierungen und Rettungsbaken - in der Hoffnung, dass leichtsinnige Wanderer sich dann zumindest aus anderen Wattbereichen raushalten. (Was natürlich kein Grund sein sollte, sich bewusst leichtsinnig zu verhalten, denn überall steht so eine Bake nun auch wieder nicht.) Das Konzept funktioniert: Seit Jahrzehnten kam hier niemand ums Leben.

5. Es ist nur ein kurzes Stück bis zur nächsten Rettungsbake - und bis zum nächsten Priel. Das Duhner Loch ist der zweittiefste Priel der Strecke und sieht im Vergleich zum Sahlenburger völlig harmlos aus, ist sogar noch flacher und eine Strömung ist bei Ostwind nicht zu spüren.
Falls Sie jedoch auf der Insel losgehen und zu spät starten, ist das Duhner Loch schon zu voll. Gleichzeitig ist aber die Insel schon von der Flut eingeschlossen und Ihr Rückweg blockiert. Darum ist das die typische Stelle, an der Nachzügler in die Falle tappen. Rettungsbake Nr. 6 wirft dementsprechend eine deutlich höhere Ernte ab als Nr. 5.
Im Jahre 2018 machte der zweigrößte Priel den Neuwerkern gewaltige Sorgen. Die Trecker und Wattwagen wirbelten jedes Mal Matsch vom Prielboden auf. Das nächste Hochwasser transportierte diese losen Stücke ab. Ergebnis: Es wurde immer tiefer. Bis eines Tages der trennende Matsch zwischen zwei Prielen zerbrach. Bummmatsch! Nee, keine Ahnung, was für ein Geräusch so ein Ereignis macht.
Auf jeden Fall hatte sich ein Priel in Richtung Elbe mit einem Richtung Weser verbunden. Der neue Doppelpriel verband zwei der größten Flüsse Deutschlands und war dermaßen tief und rasant, dass keine Wattwagen mehr durchkamen, um die Insel mit Touristen zu beliefern. Und schlimmer noch: Die Traktoren konnten die Insel auch nicht mehr mit Lebensmitteln beliefern. Sogar Wanderer mussten oft bei ungünstigem Wetter umkehren.
Sollten Sie bei Ihrer Wanderung auf ein solches Problem stoßen, probieren Sie bloß nicht, den Doppelpriel mit einer Art Damm wieder zu trennen. Das haben die Insulaner schon im Winter 2019 probiert. Bei scharfem Wind und Kälte rackerten sie sich ab, und wofür? Das Bauwerk überlebte ganze vier Wochen.
Inzwischen wurde der Weg um ein ordentliches Stück versetzt, die Wattwagen überqueren den Priel nun völlig woanders. Das Ganze wurde euphorisch als brandneuer, sicherer Weg beworben, doch laut der Wattführerin ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch hier zu tief wird.

6. Schlendern Sie noch durch zwei weitere Priele, die aber keine speziellen Namen haben und Sie nach den ersten beiden auch überhaupt nicht mehr einschüchtern können. Zwei weitere Rettungsbaken liegen auch noch auf dem Weg.
Mittlerweile befinden Sie sich nicht mehr in Niedersachsen, sondern in Hamburg! Und dementsprechend im Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer statt im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Was rein äußerlich aber keinen Unterschied macht. Es besteht kein Anschluss an die Hamburger U-Bahn.

7. Lernen Sie, den Boden sicher zu unterscheiden.
Fester Boden ist hellgrau und hat Strömungsstreifen (die ein bisschen aussehen wie kleine Wellen) und "Spagettihaufen". Letzteres ist ein Euphemismus für den Kot von Wattwürmern. Wobei die Haufen tatsächlich ganz dekorativ aussehen. Das ist auch schon alles, was Sie vom berühmtesten Bewohner des Watts sehen werden. Mit etwas Glück sehen Sie höchstens noch aus dem Augenwinkel, wie so ein Haufen gerade aus der Erde gedrückt wird.
Manchmal sind die Strömungslamellen mit Büscheln grüner Algen dekoriert, das ändert an der Festigkeit nichts.

Schlickiger Boden dagegen ist dunkelgrau und hat bräunliche Flächen obendrauf. Das Braune sind Kieselalgen, die mit ihrem Stoffwechsel den Boden immer weicher machen. Hier sinkt Ihr Fuß ein paar Zentimeter ein - mindestens! Manchmal auch bis zum Knöchel. Erschrecken Sie kurz, wenn Sie tiefer sinken als gedacht.
Keine Panik, zwar sollte man den Schlick möglichst vermeiden, aber dass das nicht zu 100 Prozent klappt, ist ganz normal. Und es klappt erst recht nicht, wenn Ihre Wattführerin Sie vom offiziellen Weg runterführt und eine Variante mitten durch ein großes Schlickfeld nimmt. Immerhin: Falls Sie nur noch schwer vorwärtskommen, schaut sie kurz bei Ihnen vorbei, hakt sich ein und hilft Ihnen raus.

Abseits der großen Karawane kann sie Ihnen nämlich mehr von den Tierwelt des Watts zeigen. Schließlich soll es bei der Führung durch einen Nationalpark nicht bloß darum gehen, watt für kritische Infrastruktur die Menschen ins Meer gebaut haben.
Beobachten Sie folgende Tiere:
  • Ein Schneckenturm: Das sind mehrere Wattschnecken, die sich zum Zwecke der Paarung übereinandergeklebt haben, immer etwa drei bis fünf Tiere. Dieser vergnügliche Vorgang dauert mehrere Wochen. In diesem Zeitraum ist die Wattführung nicht völlig jugendfrei.
    Außerdem haben Wattschnecken folgende abgefahrene Superkraft: Sie können sich mit ihrem Schleim kopfüber unter die Wasseroberfläche kleben und sich von der Strömung mitnehmen lassen.
  • Sandklaffmuscheln und Herzmuscheln: Anders als die Austern sind das wirklich einheimische Muschelarten. Sie sehen meistens nur tote Schalen, mal einzeln, mal in Massen, aber weder die einzelnen Tiere noch die Muschelbänke werden so gigantisch wie bei den Austern. (Außer im Hitzesommer 2018, als praktisch der ganze Boden von erstickten Muscheln bedeckt und der Gestank unerträglich war.)
  • Rote Schalen toter Krebse. Männliche Exemplare erkennt man am Dreieck auf der Unterseite und daran, dass sie sich nicht panisch ducken, sondern aggressiv aufbauen. Letzteres geht natürlich nur bei lebenden Krebsen, die nicht ganz so leicht zu finden sind.
  • Die Seestachelbeere: Eine winzigkleine, absolut harmlose Qualle. Die Jungtiere sind wirklich nichts weiter als ein einziges Glibberpünktchen, dass Ihnen ohne die Führung nie aufgefallen wäre. Die Erwachsenen sind etwas größer und kriegen angeblich weiße Streifen. Allerdings sind die Streifen auch auf den größeren Seestachelbeeren, die Sie später sehen, kaum zu erkennen.
  • Erst auf der zweiten Hälfte der Strecke gibt es Möwen und... Stockenten? Wo kommen die denn auf einmal her, das hier ist doch kein Stadtpark?

8. Marschieren Sie ein Stück auf überraschend trockenem Boden - fest und praktisch pfützenfrei. Mittlerweile haben Sie das Niedrigwasser erreicht, den Zeitpunkt, an dem das Wasser am tiefsten steht. Ab jetzt steigt es wieder. Weil Sie schon über die Hälfte geschafft haben, ist das kein Problem.
Was, erst über die Hälfte? Aber die Insel sieht doch schon so nah aus! Tja, das ist halt die ewige optische Täuschung im Watt.
Biegen Sie schließlich auf die Zielgerade ein, zurück zu den Menschenmassen auf dem abgesteckten Weg. Hier wird es wieder nasser: Durchwaten Sie weite, flache Pfützen und einen Priel, der eher parallel zum Weg verläuft.

9. Keine Sorge, wenn Sie etwas hinter die Gruppe zurückfallen: Die Wattführerin wird bald umkehren und nochmal nach Ihnen schauen. Und so kurz vorm Ziel wollen eh alle nur noch ankommen, da erzählt sie auch nicht mehr viel.
Egal, wie die Bedingungen sind, aus irgendeinem Grund dauert eine Führung immer punktgenau 3,5 Stunden. Betreten Sie also pünktlich auf die Minute die Wattrampe von Neuwerk und lassen Sie sich erschöpft in den Deich sinken.
Hinten links im Bild endet Ihr heutiger Wanderweg an der Rampe.
Rechts daneben beginnt Ihr Weg für morgen.

Neuwerk wird als Grünes Paradies in der Elbmündung beworben. Also im Prinzip eine Wiese, umgeben von einem Deich? Nein, tatsächlich hat die Insel überraschend viel Wald (grob geschätzt ebenso viel wie Langeoog, obwohl Langeoog viel größer ist). An der Westseite erstreckt sich ein durchgehender Streifen aus Bäumen. Folgen Sie ihm ein kurzes Stück am Deich entlang.
Als erstes entdecken Sie einen idyllischen Schilfteich. Solche kleinen Teiche finden sich an allen möglichen Punkten auf der Insel. Womit dann auch die Frage beantwortet wäre, wo die Stockente im Watt vorhin herkam.

Sollten Sie während Ihrer Wanderung eine nicht identifizierbare Wasserleiche entdeckt haben, vergraben Sie diese auf dem Friedhof der Namenlosen. Auf den meisten Insel wurden regelmäßig Opfer des Meeres angespült, und deswegen haben sie fast alle einen solchen Friedhof. Der auf Neuwerk ist einer der ältesten überhaupt.

Sollten Sie jedoch keinen Toten herumtragen, dann nehmen Sie den nächsten Abzweig. Der bringt Sie zum ersten Ziel aller Wattwanderer: Die Fußwaschanlage. Erlösen Sie Ihre schlammigen Füße von den patschnassen Socken und Schuhen, drücken Sie auf den Wasserhahn und spülen Sie alles ab. Ups, das Wasser ist wieder weg, drücken Sie erneut auf den Hahn. Und nochmal. Und nochmal. Und dann ziehen Sie die Ersatzstrümpfe und -schuhe an, die Sie hoffentlich dabeihaben.
Zugegeben, je nach Zustand Ihrer Blase ist ihr erstes Ziel vielleicht auch die Toilette im Nationalparkhaus (hinten). In dem Fall treten Sie ihre Schlammschuhe vorher gründlich ab.

Das Nationalparkhaus enthält eine kleine Ausstellung über die Natur und Schwarzweißfotografie im Watt. Betrachten Sie jene Tiere, deren Schalen und Ausscheidungen Sie draußen gesehen haben, noch einmal in vollständig präparierter Form. Lauschen Sie per Kopfhörer den Schreien der Vögel. Sie können Sie natürlich auch einfach ablesen (Alpenstrandläufer. Stimme: "trrrü" oder "kirrrp"), aber das ist eventuell nicht ganz so anschaulich.
Das Gezeitenbecken ist zwar bereits abgelassen, doch für eine Gratisausstellung kann man wirklich nicht meckern.

Das Nationalparkhaus war einst die Grundschule von Neuwerk. Die Schule wurde später auf die andere Seite der Insel verlegt, nicht weit vom Schiffsanleger. Mittlerweile ist sie geschlossen, denn es fehlen Kinder. Die letzte Familie, die nach Neuwerk zog, hat die Insel schweren Herzens wieder verlassen: Die Aussicht, ihre Kinder nach der Grundschule aufs Internat schicken zu müssen, war einfach zu abschreckend. Damit sank die Einwohnerzahl von 23 auf 16 (plus ein paar Saisonarbeiter im Sommer). Das Durchschnittsalter dieser 16 Menschen liegt bei über 40.
Neuwerk sucht also dringend neue Einwohner! Sollten Sie eine junge Familie sein, Pferde lieben oder sonst Lust auf Arbeit im Tourismus und einen ruhigen Winter (denn da ist die Insel für Besucher geschlossen) haben, dann bleiben Sie doch direkt hier. Sie werden 16 Menschen wahnsinnig glücklich machen.
Bis dahin befindet in der ehemaligen Grundschule nur die Neuwerkstatt, ein liebevoll gemachter Souvernirshop, welcher unter anderem einfallsreiche Brotaufstriche verkauft.

10. Okay, nicht so voreilig, bevor Sie gleich mit Sack und Pack hinziehen, sollten Sie die Insel erst einmal richtig anschauen. Machen Sie die Inselführung mit, die bei Ihrer Wattwanderung inkludiert ist, oder setzen Sie sich erstmal in Ruhe mit einem Kaffee hin und erkunden Sie Neuwerk auf eigene Faust. Eine volle Umrundung der Insel entspricht 6 Kilometern beziehungsweise ein bis zwei Stunden. Alternativ können Sie auch ein ganzes Wochenende über kreuz und quer über Neuwerk laufen, bis Sie auch alles Wesentliche gesehen haben.
Wie ein Nationalpark könnte man auch Neuwerk in verschiedene Schutzzonen einteilen, nur sind es dann halt Schutzzonen für den Menschen. Menschenzone1 ist das "Zentrum" der Insel und liegt mitten im Waldstreifen. Die Zone wird von einem eigenen kleinen Extradeich eingekreist, den man nur durch ein kleines Ziegeltor betreten kann. Das ist aber vermutlich eher ein historisches Überbleibsel als wirklich wichtig. Immerhin schlafen die meisten Einwohner und Besucher da gar nicht drin.

Setzen Sie Begriff "Zentrum" also lieber in Anführungsstriche. Hier stehen eigentlich nur der Leuchtturm, das Schullandheim und der Inselkaufmann. Dabei handelt es sich um ein Geschäft mit Imbiss, also am ehesten das, was auf der Insel einem Supermarkt entspricht. Einen richtigen Wocheneinkauf kann man hier aber nicht machen, die Neuwerker holen ihre Lebensmittel zweimal pro Woche gemeinsam per Trecker vom Edeka auf dem Festland. Wenn Sie keinen akuten Hunger haben, speisen Sie lieber in einem der richtigen Restaurants statt im Imbiss am Inselkaufmann.
Wundern Sie sich nicht: Der Turm sieht nicht gerade nach einem typischen Leuchtturm aus, eher ein unförmiger Ziegelquader, an dem verschiedene bläuliche Treppen und Anbauten kleiben. Aber gerade deswegen ist er was ganz Besonderes - das älteste Bauwerk Hamburgs. Damals konnte man die Türme halt noch nicht so hoch und schmal bauen. Schon 1299 bekamen die Hamburger das Recht, einen Turm zu errichten - und zwar von den Herzögen von Lauenburg, denen Sie vorher die Insel (bzw. erstmal nur die Hälfte) abgekauft hatten. Damit wollten sie ihren Handelsschiffen in der Elbmündung den Weg weisen und Seeräuber rechtzeitig erkennen. Neuwerk wurde sogar nach diesem Neuen (Bau)Werk benannt. Vorher hieß die Insel ohne Witz einfach nur O.

Laufen Sie auf den Turm zu, steigen Sie die erste Außentreppe im Zickzack hinauf und stellen Sie oben fest, dass der Eingang ganz woanders ist, versteckt an der Seite. Das Innere des Turms enthält Ferienwohnungen und wird gerade renoviert, da können Sie nicht rein. Aber in dem Treppenhaus, das rechts in dem grünlichen Glaskasten dranklebt - da können Sie gratis hoch. Zumindest solange Sie nüchtern sind, die Ampel grün zeigt und Sie nicht mehr als 15 Minuten bleiben. Trampeln Sie trotz der vielen Regeln unverdrossen die Treppe hinauf und genießen Sie die komplette Insel auf einen Blick. Und hinter dem flachen Muster aus Grüntönen beginnt bereits das... Blau? Ja, Sie sind erst seit einer Stunde auf der Insel, und schon hat sich die Flut Ihren Hinweg zurückgeholt.

11. Menschenzone 2 wird Binnengroden genannt und ist von einem richtigen Deich eingeschlossen. Diese Zone können Sie auf der Straße am Deich umrunden, oder besser noch, direkt auf dem Deich, auch wenn die Ziegelsteine unter dem Trampelpfad nur noch selten aus der Erde rausgucken.
Die Zone besteht größtenteils aus Pferden: Neuwerk ist der einzige Stadtteil Hamburgs, in dem mehr Pferde als Menschen leben. Überall laben sich Kutschpferde am satten Inselgras. Nur früh morgens, wenn Neuwerk noch schläft und die Pferde im Stall stehen, tollen unglaublich viele Hasen und Seevögel über die leeren Koppeln und liefern sich witzige Verfolgungsjagten. Neuwerk bei Sonnenaufgang ist ein Geheimtipp für Frühaufsteher!

Zwischen den Koppeln und Feldwegen verteilen sich aber auch die Gehöfte, auf denen die 16 Einwohner leben. Landwirtschaft im eigentlichen Sinne macht dort niemand mehr, sie alle sind voll auf Touristen eingestellt und bieten mehr oder weniger dasselbe an: Ein Hotel mit Restaurant, Fahrradverleih und selbstverständlich Wattkutschfahrten - wozu sonst die ganzen Pferde? Praktisch alle Gäste scheinen die Namen der Inselfamilien zu kennen, die im Prinzip synonym, wenn nicht sogar häufiger benutzt werden als die offiziellen Namen ihrer Hotels. Trotzdem gibt es eine gewisse Marktaufteilung unter den Familien: Die einen machen ihr Hotel ein bisschen schicker und haben sogar eine Sauna. Das Hus achtern Diek (a.k.a. "bei den Griebels") dagegen konzentriert sich eher auf Familien und vermietet neben Zimmern auch einen großen Heuboden und Zeltplätze. Wenn letzteres für Sie eine Option ist, können Sie sogar ein bisschen günstiger und kurzfristiger übernachten.
Wenn Sie richtig gut essen möchten, nehmen Sie das Restaurant zum Anker. Und was sind die Spezialitäten Neuwerks? Nicht unbedingt Fisch (Fischer gibt's auf Neuwerk ja eh nicht mehr), sondern Bratkartoffeln und Eiergrog (oder diverse andere alkoholische Mixturen). Bestellen Sie irgendwas mit Bratkartoffeln, am besten eine Dicke Rippe. Mit diesem Gericht ist Ihr Akku nach der Wanderung garantiert wieder aufgefüllt, und Ihre Laune auf dem Hochpunkt!

12. Hinter dem großen Deich beginnt noch nicht direkt das Meer, zumindest nicht auf der Ostseite. Stattdessen erstreckt sich dort Menschenzone 3 von Neuwerk, auch bekannt als Vorland, ein ausgedehntes Wirrwarr an Salzwiesen, durchzogen von Prielen. Diese können Sie auf Schleusen und einfachen, aber stabilen Brücken überqueren.
Während das Nordvorland noch genutzt, gemäht und mit Elektrozäunen abgesperrt wird, ist das Ostvorland der Natur und den Gezeiten überlassen.

Sofern Sie mit einer hohen Menge an Gänsekot unter Ihren Füßen zurechtkommen, durchstreifen Sie Menschenzone 3 auf Wegen, die im Prinzip nur am etwas platteren Gras und kleinen Holzstäben zu erkennen sind. Die Inselkarte wollte in diesem Bereich auch irgendwas als Sehenswürdigkeit ausweisen und hat deshalb sämtliche Schleusen und Seezeichen markiert. Am markantesten ist die Ostbake, die mit ihren hölzernen Kreisen wesentlich kugeliger aussieht als ihr berühmter Kollege, die Kugelbake in Cuxhaven. Die älteste Version stammt aus dem Jahr 1635. Heute ist sie für die Schiffe nicht mehr relevant. Als 2017 ein Orkan das 25 Meter hohe Holzgebilde umschmiss, setzten die Neuwerker dennoch durch, dass das traditionelle Zeichen wieder aufgebaut wurde.
Trotzdem sollten Sie der Karte keinen Glauben schenken: Die wahre Sehenswürdigkeit im Vorland sind eigentlich die Vögel, die in Massen über den Wiesen kreisen.
Immer wieder liegen Eier am Wegesrand. Grübeln Sie, ob hier wirklich mitten auf dem Weg ein Küken geschlüpft ist - oder ob das nicht eher eine Möwe war, die sich fremde Eier als Snack gegönnt und dann ihren Abfall achtlos weggeworfen hat.

13. Sind wollen noch näher ans Wasser? Und noch mehr Vögel sehen? Also schön, dann nehmen Sie eben diesen gerade so erkennbaren Pfad zum Wasser und laufen Sie ein Stück am schmalen Strand. Irgendwo hinter den Buhnen und Steinhaufen müsste doch jetzt das Wasser... na so was, Sie haben so lange hierher gebraucht, inzwischen ist die Nordsee wieder weg und das nächste Niedrigwasser hat begonnen. (Für eine lange Wattwanderung ist es jedoch nicht geeignet, sonst käme man im Dunkeln an.)
Ist das überhaupt noch ein erlaubter Weg? Spätestens wenn Sie ein echtes Vogelnest sehen, sollten Sie definitiv umkehren.

14. Falls Sie nicht übernachten, haben Sie mittlerweile Ihr Schiff verpasst. Denn genau wie die Wattwanderungen ist auch die Fährüberfahrt nur einmal am Tag möglich - wenn das Wasser am höchsten steht. Und sogar dann nur in einer ganz besonders tiefen Fahrrinne. Deswegen macht das Schiff einen Riesenumweg: Zuerst tuckert es in seiner Fahrrinne noch weiter vom Festland weg, und erst wenn es die Außenelbe erreicht, kann es in Richtung Cuxhaven wenden. Bei der Orientierung hilft ihm neben den Bojen auch der weiße Radarturm - nicht alle Seezeichen auf Neuwerk sind heute so überflüssig wie die Ostbake.
Das Schiff kostet noch einmal 28 Euro. Seine Fenster wimmeln von ekligen Fliegen, und die Hälfte der Sitzplätze innen darf man nur nutzen, wenn man etwas beim Imbiss bestellt. Die Reederei profitiert (ähnlich wie der Inselkaufmann) von ihrer Monopolstellung, sodass sie sich nicht übermäßig ins Zeug legen muss. Wenn Sie von Cuxhaven zurück zu Ihrem Auto oder Ihrer Unterkunft in Sahlenburg möchten, werden obendrauf 2,8 Euro für den Shuttlebus fällig.

Klingt nicht so einladend? Dann bleiben Sie doch lieber noch eine Nacht, und entdecken Sie morgen früh eine noch außergewöhnlichere Insel.