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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

07 Mai 2022

Eiserner Vorhang: Von Schnackenburg nach Salzwedel

Die Altmark-Alleengrenze I

Länge: 42 km (+48 km Abreise zum Bahnhof Dannenberg an der Elbe +viele Umwege)
Grenzquerungen: 3 (+2 an der Elbe +2 beim Ausflug nach Rüterberg)
Bundesländer: Niedersachsen/Sachsen-Anhalt
Seite: etwa Gleichstand
Erkenntnis: Lochplatte ist nicht gleich Lochplatte.

Längsrillen, verkündete das Schild.
Der Weg war gesperrt, weil senkrechte Rillen in den Betonplatten drin sind. Ernsthaft? Da bin ich schon über Schlimmeres drübergefahren.
Weil die Karte keine Alternative vorschlug, ignorierte ich das Schild und siehe da, die Längsrillen waren kein Problem. Unter anderem, weil sie sich nur in der Mitte befinden, wo normalerweise eh Gras wächst. Ein Problem war allerdings, dass ein Teil des Weges inklusive aller Längsrillen unter einer fetten Schlammschicht begraben wurde. Da bin ich kurz ins Rutschen geraten, aber mit ein bisschen Vorsicht ging auch das. Zwischen Deich, Teich und dem Flüsschen Aland glitt ich geschmeidig, wenn auch nicht sehr sauber, in ein neues Bundesland: Sachsen-Anhalt.

Der NABU möchte in der Aland-Niederung mehr Tiere ansiedeln, indem er das Gebiet jeden Winter von der Elbe absichtlich flach überfluten lässt.
Andere Stillgewässer werden generell nicht vom Elbhochwasser erreicht, dort fühlen sich dann andere Arten wohl. Man erkennt sie daran, dass ihre Bäume niedriger sind. Naja, und dass sie meistens hinterm Deich liegen. Wer bei einem Ratespiel rätseln will, welche Teiche zu den dauerhaften Stillgewässern gehören, kann dafür den hölzernen Aussichtsturm besteigen. Vorsicht, die Hälfte des Turms ist für ein Hornissennest gesperrt. Hier bekommt die Natur jede Menge Raum, notfalls per Absperrband.

Das erste Dorf in Sachsen-Anhalt heißt Stresow und existiert gar nicht.
In der Wüstung Stresow steht eine Grenzanlage wie die in Leisterförde, bei der die Bestandteile der Grenzsperranlagen mit verkleinertem Abstand aufgestellt werden. Diesmal darf man die Anlage betreten, dafür gibt es fast keine erklärenden Schilder. Der Rasen ist sattgrün, von niedrigen Holzzäunen umgeben, und die zwei Grenzzäune erinnern an Tore - auf den ersten Blick könnte man meinen, dies sei ein Fußballplatz.

Stresow existierte seit 1310, auch wenn es 1922 mal komplett abgebrannt ist. Die Oberkommandanten der Aliierten einigten sich im Bierdeckelvertrag (der hieß wirklich so, Friedrich Merz hätte das gefallen), dass Stresow an den Osten gehen soll. 1974 mussten auch die regimetreusten Bewohner ausziehen und die regimetreusten Häuser abgerissen werden. Übrig sind nur zwei verfallene Ziegelscheunen, in denen noch jemand zu wohnen scheint. Auf die Begegnungsstätte, die sich darin befinden soll, deutet allerdings nichts hin. Hinzu kommt ein Wohnwagen mit der Aufschrift FCK 2020. Das ist mal eine Gedenkstätte, mit der sich wirklich alle identifizieren können.

In Stresow entschied ich mich für eine Abkürzung. Ich folge dem Kolonnenweg durch eine sumpfige Teichlandschaft bis zur nächsten Landstraße.

Das zweite Dorf in Sachsen-Anhalt heißt Bömenzien und existiert tatsächlich. Zum Glück, es sieht echt schön aus.

So, eigentlich soll ich jetzt der Dorfstraße durch weitere Dörfer folgen. Aber ich lag gut in der Zeit und hatte Lust auf ein paar Experimente.
Also bog ich ab zum nördlichsten erhaltenen Grenzturm in Sachsen-Anhalt. Dort zeigt die Karte einen Waldweg direkt an der Grenze. Der Kolonnenweg vorhin war ja ganz brauchbar, vielleicht ist es der nächste auch?
Ja, brauchbar schon, mehr aber nicht.

Der Weg kann sich nämlich nicht so recht entscheiden, welche Art von Betonplatten er haben will. Die eine Art hat Löcher, die andere nicht. Zum Glück wurden die Platten so ordentlich platziert, dass die meisten Löcher hintereinander aufgereiht sind. Nach einer Weile hatte ich genug Übung und konnte den meisten ausweichen. Das hatte irgendwie was von einem Handyspiel.
Neben mir begann eine Dünenlandschaft namens Wirler Spitze. Hier leben seltene Arten, die sich vermutlich denken: Boah, Menschen, entscheidet euch mal. Als die Eiszeit den Sand heranschaffte, war das Sandland erstmal offen. Vor 200 pflanzten die Menschen alles mit Kiefern voll, denn anderes Holz kommt mit dem Boden nicht zurecht. Die DDR-Grenztruppen holzten die Kiefern wieder ab, um frei sehen zu können. Nach der Wende wuchs der Streifen wieder ein bisschen zu, aber mittlerweile lässt das Land Sachsen-Anhalt wieder Kiefern entfernen, weil die seltenen Sandarten Vorrang haben und der Sandtrockenrasen ja quasi der Urzustand der Landschaft ist.

Schließlich türmen sich die Dünen zu einem Sandhaufen namens Klocksberg auf. Auf dem heißen Sand wächst zum Beispiel die Sandsegge. Die wird auch des lieben Gottes Nähmaschine genannt, weil sie Wunden in der Natur verschließt. Gegen die Wunden der Geschichte kommt freilich auch das stärkste Kraut nicht an: Bernhard Simon trat hier 1963 auf eine Mine, verlor sein Bein und kurz darauf sein Leben, obwohl ihn sein Bruder über die Grenze schleifte.

Puh, das reicht erstmal. Ich kehrte zur Straße zurück, wo mich eine ehemalige Grenzkaserne zu einem Ritt einlud. Sie wurde zum Hotel mit Reiterhof umgebaut.

Vor langer Zeit tobte hier ein Sturm. Ein Müller namens Arend musste dringend los, weil man seine Hilfe im Dorf brauchte. Auf einmal stürzte hinter ihm seine Mühle ein und seine Frau rief "Arend, seh!" Und so entstand der, äh, Arendsee.
Klingt unglaubwürdig? Vielleicht wird die Sage mit folgenden Zusatzinfos etwas glaubhafter: Der Arendsee ist wirklich ein Einsturzsee. 822 und 1685 war der Boden durch die Schneeschmelze so matschig, dass Hohlräume unter der Erde einstürzten und die flache Pfütze, die bis dahin "Wendische See" hieß, ordentlich expandierte. Und nicht nur das: In den 80ern fanden Sporttaucher zufällig ein Mühlrad am Seegrund, im Jahr 2000 entdeckten sie mit Drahtsonden ein zweites.

Anders als die Mecklenburger Grenzseen liegt dieser See nicht direkt auf dem Eisernen Vorhang, aber so nah dran, dass der Radweg ihn umrundet. Auf den ersten Blick erinnert er immer noch an eine große Pfütze, flach und sandig. Ersteres täuscht, letzteres nicht.
Professor Halbfaß fand 1895 raus, dass der Arendsee bis zu 49,5 Meter tief ist. Er gehört zu den Mitbegründern der Binnengewässerkunde (also der Professor, aber der See irgendwie auch). Vorher fand wohl keiner, dass Seen interessant genug sind, um sie zu erforschen.

Nun stellt sich die Frage, an welchem Ufer ich um dieses mysteriöse Wasserloch fahren soll. Das nördliche Steilufer liegt näher am Grünen Band und den Wäldern und Wiesen der Natur. Nur dass in dieser Natur jede Menge Menschen leben, welche die Natur lieber für sich haben wollen und mit privaten Treppen, Mauern und Zäunen das Seeufer blockieren.

Manchmal sogar mit mehreren Zäunen hintereinander, was eher unangenehme Assoziationen weckt. Diese Grenzsperranlagen sollen in erster Linie Wildtiere einsperren. Nur einmal kam ich ans Wasser ran.

Da sieht die andere Seite schon vielversprechender aus. Im Prinzip ist das komplette Südufer ein Park - auch hier mit vielen privaten Gärten, aber immerhin mehreren öffentlichen Zugängen, Spielplätzen und einem Freibad. Was daran liegen könnte, dass sich eine Etage höher eine Stadt und eine Klosterruine erstrecken, die in Ermangelung anderer Einfälle auch beide Arendsee heißen.

Vom Kloster ist noch folgendes übrig: Ein einzelner Glockenturm, eine Kirche und eine lange Mauer. Letztere ist der kaputteste, aber trotzdem schönste Rest, weil in ihren Fenstern der blaue See ausgesprochen fotogen schimmert.
Noch eine Sage gefällig? Im Dreißigjährigen Krieg wollten Soldaten das Kloster überfallen, weil sie dachten, so ließen sich die Menschen am besten vom evangelischen Glauben überzeugen. Die sechzigjährige Benediktinerin Emerentia kannte den Hauptmann von früher, und rang ihm das Versprechen ab, dass er sie aus der Stadt abhauen lässt - zusammen mit allem, was unter ihren Chormantel passt. Erst lachten die Soldaten, weil sie dachten, sie wollte Schätze mitnehmen. Als Emerentia aus dem Kloster trat, wurden sie wütend, weil ihr Mantel wirklich außerordentlich stark ausgebeult war. Und dann staunte die ganze Stadt, als die Nonne hinter der Stadtgrenze den Mantel ablegte und neun gerettete Jungfrauen zum Vorschein kamen.

Ein straßenbegleitender Radweg brachte mich zurück in den Westen, über eine Brücke mit doppeltem Geländer. Dort erwartete mich noch ein besonders schöner Abschnitt.

Er beginnt bei Schmarsau. Das ist ein traditionelles Rundlingsdorf. So was gab es auf beiden Seiten der Grenze: Sowohl im Wendland (Niedersachsen) als auch in der Altmark (Sachsen-Anhalt) haben die Bauern gern runde Sachen gemacht. Der Rundling ist im Prinzip ein Dorfplatz mit Bäumen und einem kleinen Spielplatz drauf. Drumherum stehen Bauernhäuser, deren Balken mich an das Kästchenpapier aus dem Matheunterricht erinnert haben. Das da ist sogar weiß angemalt! Das ist mir unheimlich,  schnell weg hier, bevor eine Textaufgabe kommt!

Zu spät: An dieser Gedenkstätte direkt auf dem ehemaligen Eisernen Vorhang liegen sieben Gedenksteine. Einer erinnert an die Preußenbank, einer an die Welfenbank, einer an die Flurneuordnung von 1997 und der größte daran, wie Hannoveraner und Sachsen Hand in Hand die Sümpfe trockengelegt haben.
Frage: Wie viele Gedenksteine erinnern an die Opfer der Grenze?
Antwort: 0
Aber Hauptsache, es gibt mehr Gedenksteine für Banken als Bänke zum Hinsetzen.

Heute tauchte öfter mal ein Grünes-Band-Schild auf, dass ich bisher noch nie gesehen hatte. Wurde das neu aufgestellt oder gibt es das nur in dieser Region? Meistens war es zuverlässig, außer als es mich in die Sackgasse der sieben Gedenksteine führte. Da hinten ist doch nur noch Gras! Oder soll das einen Wanderweg kennzeichnen?

Die Gedenksteine liegen in einer Landschaft namens Lüchower Landgrabenniederung. Dabei handelt es sich um eine natürliche Grenze, auch wenn sie ganz und gar nicht danach aussieht. Es reicht schon, dass das Land ein ganz kleines bisschen tiefer ist und man nur an wenigen Stellen sicher durch den Sumpf furten kann - zack, schon legen die Menschen da eine Grenze hin, und zwar zwischen dem Königreich Hannover und Preußen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier viel geschmuggelt, weil die Eisenbahnlinien im schlecht einsehbaren Sumpf sich gut dafür eigneten.
Möglicherweise war das ein Grund, warum die DDR die Selbstschussanlagen zuerst in dieser Gegend testete.
Die Grenzlinie verläuft dabei entlang von Bäumen und Wassergräben. Das weiß ich, weil der Radweg ganz in der Nähe verläuft, manchmal sogar direkt neben dem Graben. 
Moment, ist das ein kleiner Grenzturm? Ach nee, damit pumpt man wohl irgendwas aus dem Feld. (Ein richtiger Grenzturm ist aber auch noch zu sehen.)

Und wieder einmal erinnert ein Stück Grenzzaun an einen Toten. Ein junger Maschinenbauingenieur namens Hans-Friedrich Franck versuchte 1973, über den Zaun zu klettern, und löste eine Selbstschussanlage aus. Mit schwerverletzen Gliedmaßen schleppte er sich in den Westen. Die Ärzte in Dannenberg operierten vier Stunden, versuchten, alle 80 Metallsplitter zu entfernen und rätselten, was ihn so zugerichtet haben könnte. Franck starb trotzdem, weil sein Kreislauf zusammenbrach.
Zusammen mit Michael Gartenschlägers Aktion war damit eindeutig bewiesen, dass die DDR Selbstschussanlagen einsetzt.

Am Ufer der Jeetzel erstrecken sich die Kusebruchswiesen. Hier gibt es Tümpel, die im Sommer fast ganz austrocknen. Klingt für die Tierwelt eher ungünstig, ist aber für Frösche sogar praktisch: Dann überleben keine Fische, und niemand verputzt ihre frisch geschlüpfte Kaulquappen.

Das reicht dann aber auch für heute. Ich bog noch ein letztes Mal nach Sachsen-Anhalt ab und überquerte nach sieben Kilometern einen Stadtgraben. Willkommen in Salzwedel! Endlich mal wieder eine richtige Stadt.

Oder das, was davon übrig ist - die Stadt ist stellenweise dermaßen heruntergekommen, dass sie nur noch aus Holzpaletten besteht.
Salzwedel war eigentlich mal eine reiche und unabhängige Hansestadt. Alles ging schief, als die Adligen eine Biersteuer erheben wollten. Die entsetzen Bürger erhoben sich im Biersteueraufstand, und zur Strafe verloren sie all ihre Unabhängigkeitsrechte. (Womöglich hätte man sie mit einem generellen Importverbot für Bier härter bestrafen können.)
Aus Salzwedel stammt außerdem Jenny von Westphalen, die Ehefrau des Mannes, der indirekt für die Entstehung der DDR verantwortlich ist: Karl Marx.

Inmitten der Altstadt befindet sich eine freie Wiese, auf der eine Burg aus dem Jahr 1112 steht. Oder das, was davon übrig ist - also nicht viel, nur ein Turm und ein paar versprengte Mäuerchen. Wer mehr aus dem frühen Mittelalter sehen will, findet es praktisch überall rundherum, nur nicht auf dem Burgplatz. Die Fachwerkhäuser der Innenstadt sind ähnlich alt.

Aber mich interessierte etwas anderes: Kuchen. In Salzwedel wurde der Baumkuchen erfunden, den schon Kaiser Wilhelm I. gern gegessen hat. Das Original wird immer noch vom selben Unternehmen verkauft - nur wo? Eine Vielzahl von Fabrikverkäufen, Cafés und Bäckereien rühmen sich, den allerersten Baumkuchen zu verkaufen, und schreiben auf ihre Türen gern mal andere Öffnungszeiten als ins Internet. Trotzdem wurde ich am Ende gleich zweimal fündig. Im Café Kruse hat sogar der Türknauf eine Baumkuchenform. Hier soll man sehen können, wie der Kuchen hergestellt wird. Nun ja, ich kam wohl zu spät, denn die Spieße überm Feuer waren leer. Normalerweise wird da Schicht um Schicht der Kuchen draufgepinselt, während sich die Stange dreht.
Dann probiere ich eben so...oooh!
Diese Baumkuchen sind wirklich anders als 0815-Baumkuchen. Irgendwas an der Gewürzmischung ist ebenso ungewohnt wie unwiderstehlich. Und die Hälfte mit weißer Schokolade schmeckt von innen nochmal anders als die schwarze.

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