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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

03 Juni 2020

Eder: Von Wega nach Guxhagen

Ereignisse einer Eder-Expedition
4. Tag: Die Edermündung

Kalt, aber klar bricht der letzte Tag meiner Expedition an - wenn alles gutgeht, werde ich heute das Ende des Flusses erreichen.
Was hat Fassaden so weiß wie Schnee, Fachwerk so braun wie Sachsen...

...und ein Schloss so gelb wie die FDP? Das ist Bad Wildungen.
Der Stadtchronik zufolge lebte auf besagtem Schloss Prinzessin Margaretha von Waldeck. Im Alter von 16 Jahren wurde sie nach Brüssel geschickt, um politische Beziehungen auf EU-Ebene zu knüpfen und sich einen Prinzen zu angeln. Als das mit einem spanischen Prinzen tatsächlich klappte, führte das zu nicht näher definierten Problemen und Margaretha wurde 1554 angeblich vergiftet. Ende. Erkennen Sie das Märchen wieder? Ich auch nicht, doch angeblich basiert das Volksmärchen von Schneewittchen auf ihrem Leben. Sollte dem so sein (woran ich gewisse Zweifel habe), so haben die Menschen, die es weitererzählt haben, dennoch die eigentliche kreative Arbeit geleistet.
Die "Schneewittchenstadt" ist auch ohne Märchen über Märchen ansehnlich genug für einen Abstecher. Auch ihr geographisches Profil ist interessant: Hinter der Altstadt fällt das Geländer wie eine Schanze steil ab. Hier hole ich eine Menge Schwung...

...und kehre über das Tal zurück, in welchem ein Bach namens Wilde fließt. Nach 5 Kilometern stoße ich in Wega, dem mir leidlich bekannten Vorort von Bad Wildungen, wieder auf das Edertal.


Nach den klein-kalten Dörfern Mandern und Ungedanken verengen sich die Hügel. Diese Formation wurde von anderen Kartographen bereits Porta Hassiaca (Hessische Pforte) genannt. Anders als bei ihren bekannten Namensvettern Porta Westfalica oder Porta Bohemica ändert sich die Landschaft hinter der Engstelle nicht allzu gravierend: Zumindest ein paar Hügel werden die Eder bis zum Schluss begleiten.

Ich nähere mich einer weiteren großen Stadt. Ihren Vorposten bildet eine einsame Kapelle aus rotem Stein. Sie sieht zwar hübsch aus, doch ihr Name lautet Siechrasenkapelle. Eine kurze Bodenprobe aus dem Rasen bestätigt meinen Verdacht: Hier wurden die die Toten während der Pest verscharrt.


Über dem Siechrasen ragen die Türme und Mauern von Fritzlar in die Höhe. Die Stadt befindet sich in einer hervorragenden Verteidigungsposition und ist gut gesichert.


Auf einer historischen Karte entdecke ich den Grund: Fritzlar stand einst auf einer Frontlinie in einer Art Kaltem Krieg zwischen dem Erzbistum Mainz und der Landgrafschaft Hessen. Die Stadt war der letzte Vorposten des Mainzer Gebiets. Da dieser Kalte Krieg in Fritzlar nie heiß wurde, sind die Gebäude der Stadt noch gut erhalten.

Seither hat Hessen sein Territorium ein gutes Stück gen Westen erweitert und Fritzlar ganz friedlich eingenommen, sodass sich Treppen und Lücken in den Mauern der Stadt aufgetan haben. So glaube ich zunächst, dass ich die Stadt ungehindert betreten kann - ein Fehlschluss.

Fritzlar hat erstaunlich viele Türme. Am Bleicherturm kann ich noch ungestört vorbeigehen. An seiner Wand entdecke ich chemische Rückstände, die auf eine Wäschebleicherei hindeuten, welche hier noch im 20. Jahrhundert betrieben wurde.
Da öffnen sich auf einmal die Pforten der benachbarten Schule. Ich kann gerade noch vor der Masse an Schülern fliehen und besteige die Treppe an der Stadtmauer - wo mich prompt vier grimmige Wachen aufhalten. Bei genauerem Hinsehen sind es dann aber doch nur herumlungernde Schüler, und nach kurzer Überzeugungsarbeit lassen sie mich grummelnd passieren, da sie mich nicht mehr für einen Feind halten.

Die Eder verlässt zunehmend die ländlichen Berglandschaften und tritt ein in den Lebensraum technisch fortgeschrittener Völker im Umkreis der Stadt Kassel. Hier hat die Industrielle Revolution schon lange Einzug gehalten. Über dem Schloss von Wabern wabern die Wolken der ersten Industriebetriebe.

Im Tal befinden sich kleinere Seen. Sie sind offensichtlich nicht natürlichen Ursprungs, sondern das Ergebnis von Gesteinsabbau - dies schließe ich ohne genaue Messungen aus ihrer rechteckigen Form und der Tatsache, dass sie nicht von der Eder durchflossen werden. (Im Vergleich zu den großen Kiesseen an der Leine sind diese Exemplare freilich noch winzig.)

Das abgebaute Gestein wird mittels eines Trichters in Eisenbahnwaggons abgefüllt. (Dieser Vorgang war mir bereits von frühster Kindheit an von meiner Duplo-Eisenbahn vertraut.) An dieser Stelle tritt die aus Frankfurt kommende Bahnlinie in das Edertal ein, und schlagartig verkehrt nicht mehr alle zwei Stunden, sondern alle fünf Minuten ein Zug.

Für den Straßenverkehr durchziehen große Brücken das Tal.

Wovon ernähren sich all die Arbeiter und Eisenbahner? Dazu werden der Bizarre Blaukohl und die Hessische Spitzrübe in großen Mengen angebaut. Ich beiße ein Stück ab, doch das Aroma ist bitter und abgestanden. Erst nach fünfstündigem Auskochen auf kleiner Flamme entfaltet sich das köstliche Aroma von Frankfurter Kranz.

Die nächste Brücke über die Eder ist gesperrt. Ich folge einem Hinweisschild zu einer Umleitung und bleibe am rechten Ufer. Die kaputte Brücke stellt sich als glückliche Fügung heraus, denn auf der Umleitung konnte ich die Eder und wichtige Landmarken sogar aus größerer Nähe untersuchen. Ich entdecke die Überreste dreier Burgen, deren Namen eine entfernte Ähnlichkeit mit den Namen der sie umgebenden Dörfer erkennen lassen.

1. Die Altenburg von Altenburg. Ihre düsteren Mauern werden umgeben von den ebenso düsteren Mauern eines verfallenen Industriebetriebs, darunter ein düster rauschendes Wehr und die düstere Mündung der Schwalm in die Eder. Wenn schon düster, dann auch konsequent.

2. Die Heiligenburg auf dem Heiligenberg, die höchste der drei, ist auf dem hohen Berg kaum zu erkennen. Am anderen Ufer fast direkt gegenüber erhebt sich...

3. Die Felsburg von Felsberg. Ihre Form erinnert an einen Butterstampfer.
Ihr Burgverein betreibt eine eigene Seite, auf welcher wichtige Nachrichten verkündet werden: Vandalen beschädigen Mülleimer! Wir sind bestürzt über die sinnlose Gewalt und raten den Tätern, ihre überschüssige Energie lieber beim Engagement im Heimatverein zu entladen.
Die Felsberger Baumeister errichteten außerdem merkwürdige Bremsschwellen-Kreisverkehre.

Sodann umrunde ich den Böddiger Berg, Hessens nördlichsten Weinberg. Ich entnehme eine Pflanzenprobe von den steinernen Terrassen und presse etwas Saft heraus. Als ich ihn jedoch probiere, verspüre ich ein starkes Jucken im Abgang. Auf diesem Hang wird nur noch unbekömmlicher Brennnesselwein angebaut. Ich vermute, die Herrscher servieren ihn, wenn sie aus diplomatischen Gründen gezwungen sind, mit ihren ärgsten Feinden zu speisen.

Fast bin ich am Ziel, doch vorher habe ich noch eine letzte Hürde zu überwinden. Das Tal verengt sich noch einmal und ich muss einen steilen Anstieg bezwingen. Am anderen Ufer soll sich angeblich der Riesenstein von Wolfershausen befinden, welcher auf einer schmalen Kante steht. Von meinem erhöhten Beobachtungspunkt suche ich das Land nach ihm ab - leider erfolglos. Dies lässt nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder ist der Riesenstein nicht so riesig und verbirgt sich in einer Baumgruppe, oder er existiert anders als Edersee-Atlantis tatsächlich nur in der Legende.

Welche Stadt soll nun das Ziel meiner Reise sein? Es existiert eine Stadt namens Edermünde. Doch ich muss enttäuscht feststellen, dass nur kleiner Stadtteil von Edermünde tatsächlich an der Eder liegt: Grifte. Und das einzige, das in Grifte ein wenig interessant aussieht, ist die alte Edermühle.
Ich finde heraus, dass sich die Edermündung in einem Dreieck der Siedlungen Grifte, Baunatal und Guxhagen befindet. Jede der Siedlungen hat eine Bahnstation, aber da als nächstes eine Bahn in Guxhagen abfahren soll, werde ich meine Expedition im am entferntesten der drei Bahnhöfe auf der anderen Seite des Fuldatals beenden.

Zunächst aber muss ich mich noch ein Stück in Richtung Baunatal begeben: Ich durchquere Grifte zügig, umrunde eine Kläranlage und holpere mit meinem Gefährt über eine Wiese. Meine Aufregung steigt, als ich das Wasser am Ende der grünen Fläche erkenne.
Eine Minute später erreiche ich endlich, nach langer, entbehrungsreicher Reise mein Ziel. Diese Stelle ist mit einer metallenen Gabel und nicht allzu bequemen metallenen Bänken markiert.
Laut der bisherigen Kartographierung mündet die Eder (rechts) hier in die Fulda (links). Doch meine Messung ist eindeutig: Die Eder misst 176,1 Kilometer und ist damit 750 Meter länger als die Fulda. Deshalb müsste die Fulda von hier an Eder heißen und am Weserstein müsste die Eder die Werra küssen. Schließlich ist die Eder auch wasserreicher und ändert am Zusammenfluss anders als die Fulda nicht ihre Richtung. Andererseits: Letzteres gilt nur aus der Nähe. Aus der Ferne betrachtet kommt die Fulda von Süden und Eder fließt seitlich dazu. Und ohnehin wird wohl kaum jemand aufgrund meines Berichts die berühmte Inschrift auf dem Weserstein ändern.

Wenige Tage später stelle ich meine erste Übersichtskarte der Eder fertig. Ihre Gestaltung habe ich an ein bekanntes Brettspiel angelehnt.

02 Juni 2020

Eder: Von Herzhausen nach Wega

Ereignisse einer Eder-Expedition
3. Tag: Der Edersee

Als ich meine Expedition endlich fortsetzen kann, empfängt mich das Land mit empfindlicher Kälte und Nebel, welcher die Bergformationen verdeckt. Verflixt, ausgerechnet hier an dieser wichtigen Stelle, die ich kartographieren wollte! Die Eder wird auf einmal viel breiter und der Fluss verwandelt sich in den der Fläche nach zweitgrößten und dem Volumen nach drittgrößten Stausee des Landes.


Soweit die Theorie. Durch die extreme Wetterlage jedoch bleibt der Fluss ein Fluss, freilich in einem überdimensioniert erscheinenden Flussbett, welches von kurzen schroffen grauen Felswänden begrenzt wird. Eine schnelle Messung mittels eines Instruments namens Google ergibt, dass der Stausee gegenwärtig nur zu 11 Prozent gefüllt ist.
In wärmeren Monaten fühlen sich hier sicher zahllose Tierarten wohl, doch unter den gegenwärtigen kalten und vergleichsweise trockenen Verhältnissen überleben nur die Ederenten und Eisschwäne. Letztere erweisen mir die Ehre, Zeuge eines ungewöhnlichen Naturschauspiels zu sein: Sie versetzen die kalten Luft mit ihren Flügeln in Schwingung, sodass sie darauf mehrere Meter über dem Wasser schweben können. Dies klang ungefähr so: Flapp-flapp-flapp-wurrrrrrrr…! Platsch!

Auch die Fauna des trockenen Sees versetzt mich in Erstaunen. Eine Blume mit auffällig roten, länglichen Blütenstauden dominiert das Flussbett. Nur in unmittelbarer Nähe des schmalen, verbliebenen Flusses scheint sie sich nicht wohlzufühlen, dort herrschen gewöhnlich-grünliche Gräser vor. Die rote Pflanze mag es offenbar nicht, wenn es zu feucht ist - da ist der Grund eines Sees ein ungewöhnliches Habitat.
Meine anfängliche Vermutung, es könnte sich um einen Hybriden handeln, der sowohl über als auch unter Wasser leben kann, muss ich verwerfen. Vielmehr handelt es sich offenbar um eine kurzlebige Art, welche während einer Trockenzeit wie dieser wächst, ihre Samen abwirft und wieder vergeht. Damit stellt sie gewissermaßen das Gegenteil kurzlebiger Wüstenpflanzen dar, die nur während der Regenzeit aus dem Boden sprießen.

Die Außentemperatur beträgt gerade einmal 4 Grad Celsius. Nur wenige wagen sich unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen auf die Straße. Ich weiß, dass ich im Ernstfall auf mich gestellt bin. Sollte mein Fahrzeug einen irreparablen Schaden erleiden, bleiben mir bestenfalls einige Stunden, bevor ich erfriere. Nur dank meiner Spezialausrüstung (lange Unterhosen) sowie meiner angepassten Ernährung (1 Thermoskanne Kräutertee) kann ich diese Herausforderung bewältigen. Ich wage es kaum, anzuhalten, denn die Bewegung hält mich warm und schützt mich vor dem Tod.
Und doch muss ich anhalten, denn ausgerechnet hier erwartet mich der Höhepunkt meiner Expedition: Die sagenumwobenen Ruinen von Edersee-Atlantis. Nicht wenige halten die Existenz dieses Ortes für eine Phantasie, ist er doch die meiste Zeit unter vielen Kubikmetern Wasser verborgen. Ich jedoch bin überzeugt: Er muss real sein. Zu viele Bilder davon sind im Umlauf, als dass es sich nur um Fälschungen handeln könnte.
Nur unter so extremen Bedingungen wie heute, im Spätherbst nach mehreren außergewöhnlich trockenen Sommern, sind die Ruinen derart gut zu sehen. Genau deshalb bleibt mir auch keine andere Wahl, als die Expedition unter solch schwierigen Bedingungen durchzuführen. Wenn ich bis zum warmen Frühling warte, ist Edersee-Atlantis wieder vollständig unter dem Wasser verschwunden.

Und dann, ich kann meinen Augen kaum trauen, tritt völlig unerwartet die erste und am besten erhaltene Ruine in mein Blickfeld. Ein 130 Jahre altes Bauwerk, welches die meiste Zeit 20 Meter unter der Wasseroberfläche liegt - und doch scheint es auf den ersten Blick so frisch wie am Tag seiner Erbauung. Außer dass das Geländer fehlt.
Begeistert fahre ich über den knirschenden Kies hinunter ins Flussbett durch die Gräser und überquere die Aseler Brücke. Erst als ich auf den alten Steinplatten stehe, kann ich es fassen: Edersee-Atlantis existiert.

Nach der anfänglichen Begeisterung widme ich mich einer genaueren Untersuchung. Das elegante Bauwerk liegt unterhalb der heutigen Ansiedlung Asel-Süd in der Mitte des Flussbetts und überspannt in Trockenzeiten die Überreste der Eder, wodurch sie sich nach wie vor sicher überqueren lässt. Die vierbogige Brücke ist 60 Meter lang und von dunkelgrauer Färbung. Ihren Ursprung datiere ich auf die Jahre 1887 bis 1890 n. Chr.
Meine waghalsige Theorie bezüglich des fehlenden Geländers lautet: Es wurde aus Sicherheitsgründen abgerissen. Das mag widersinnig klingen, doch was wäre, wenn die Strömung es abrisse und mit den großen Steinblöcken weiter stromabwärts etwas zerstören würde?
Weitere Überreste des Dorfes Asel, heute Alt-Asel genannt, entdeckte ich nicht, nur eine gelbe, metallene Boje, welche für gewöhnlich an der Wasseroberfläche schwimmt. Sie warnt vor einer Untiefe, woraus ich schließe, dass sie frühestens aus dem Jahre 2012 n. Chr. stammen kann, als der Edersee noch sehr stark befüllt war.

Zufrieden setze ich meine Expedition am südlichen Ufern fort. Der Weg wird ein wenig unwegsamer, dafür jedoch tauchen einzelne Sonnenstrahlen auf und die Temperatur steigt geringfügig. Immer tiefer tauche ich ein in den Kellerwald ein, welcher den See umschließt.

Diese wenigen wärmeren Stunden muss ich ausnutzen, bevor es am späten Nachmittag wieder kälter wird.

Das nächste Dorf nennt sich Bringhausen. Die Einheimischen hier leben größtenteils in Hauszelten und Wohnwagen, nur die wohlhabendsten können sich ein Haus leisten. Ich habe gehört, in der warmen Jahreszeit sollen hier zahlreiche Reisende in den Gasthäusern übernachten und im See schwimmen. Nun jedoch sind die Gasthäuser verschlossen, der See ist fort, die Menschen ebenso - die wenigen, welche dem lebensfeindlichen Wetter in der kalten Jahreszeit standhalten konnten, wurden vermutlich von der schrecklichen Seuche dahingerafft, welche kürzlich im gesamten Lande wütete. So kann ich nirgendwo einkehren und muss meinen Hunger notdürftig mit meinem Proviant stillen.

Noch größer als mein Hunger nach Nahrung ist freilich mein Hunger nach neuen Forschungsergebnissen. So breche auf ins Meer der roten und grünen Pflanzen auf der Suche nach weiteren Überresten von Edersee-Atlantis. Auch die Ruinen von Alt-Bringhausen beinhalten eine Brücke, deren Überquerung mir nicht mehr möglich ist. Nur noch die Zufahrtsrampen und Pfeiler ragen empor - die Brücke muss unter dem Wasser eingestürzt sein.
Am Ufer liegen seltsame, T-förmige blaue Gebilde. Handelt es sich um gestrandete Riesenhammerhaie? Nein, es sind nur mobile Tretboot-Stege aus luftgefüllten Kunststoffbehältern, welche sich mit dem Wasserstand auf- und abwärtsbewegen können. Diese trickreiche Konstruktion nutzt den Bewohnern bei solch niedrigem Wasserstand freilich auch nichts.
Ringsherum erstrecken sich im grünen Gras graubraune Rechtecke aus losem Gestein. Dies müssen die Grundmauern der einfachen Dorfhäuser sein. Viel ist von ihnen wirklich nicht mehr übrig. Am Muster der Überreste ist jedoch gut zu erkennen, wie die Häuser der Bauern und Handwerker als lockerer Verband zusammenstanden.

Auch lässt der Zerstreuungsgrad der losen Steine darauf schließen, dass große, plötzliche Wassermassen die Gebäude zerstörten. Der Abschleifungsgrad der Steine durch das Wasser verrät, dass dies ungefähr im Jahre 1910 n. Chr. geschehen sein muss. Aber wie?

Inmitten der Ruinen liegt ein etwa 25 Meter hoher Hügel. Auf einer älteren Karte ist an dieser Stelle die Liebesinsel im See eingezeichnet. Offensichtlich ist der Hügel hoch genug, um stets aus dem See zu ragen.
Ich widme meine Aufmerksamkeit der herausragenden Ruine auf der Liebesinsel, deren Grundmauern deutlich höher emporragen. Sie wurden von den Flanken des Hügels vor dem Wasser geschützt und von den Schlingpflanzen verdeckt.

Doch auch eine Besteigung des Hügels bringt wenig Antworten: Was war der Zweck dieses Gebäudes? In jedem Fall musste es eine gesteigerte Bedeutung gegenüber den einfachen Bauernhäusern inngehabt haben. War eine Kirche, ein Rathaus, der Sitz eines reichen Bürgers oder eine Burg? Art und Form des Mauerwerks lassen tatsächlich auf eine Burg schließen, zumal es in Bringhausen einst eine Burg Bring gegeben haben soll. Doch warum sie so klein?


Abseits des Dorfes entdecke ich andere Überreste. Auch hier bildet eine zerfallene Mauer ein Rechteck, darin jedoch reihen sich größere Steinplatten dicht aneinander. Die Inschriften sind kaum noch lesbar, doch offensichtlich war dies ein Friedhof - oder sollte ich sagen, es ist ein Friedhof? Anders als die anderen Ruinen von Bringhausen hat dieses Gebilde seinen ursprünglichen Zweck noch nicht verloren: Noch immer bewahrt es die Toten auf und erinnert Betrachter daran, dass sie hier liegen, auch wenn die Inschriften verwittert und einzelne Personen höchstens mittels eines alten Lageplans zu identifizieren sind. Bei niedrigem Wasserstand können hier die Ururenkel der Toten die Gräber besuchen, um ihrer zu gedenken.
Zugegeben, die Gräber sind seit der Entstehung des Stausees deutlich grauer und karger geworden, auch wenn zurzeit  neue Gräser sprießen. Es handelt sich zweifellos um eine einzigartige Grabstätte auf dem Seegrund. Ob dies womöglich der Zweck des ganzen Stausees war ? Ein einziges feuchtes Grabmal für all diejenigen, die sich nicht zwischen Erd- und Seebestattung entscheiden konnten?


Sodann folge ich der Straße in die nächste kleine Siedlung namens Rehbach. Dort befindet sich ein Gasthaus, welches seine Türen geöffnet hat, jedoch ist es bereits randvoll mit hungrigen Gästen. Für mich ist kein Platz.

Stattdessen umrunde ich den zentralen Teil des Sees auf einem Waldweg. Inzwischen hat sich die Eder stark verbreitert und es handelt es sich tatsächlich um einen See. So ähnlich sieht der Edersee für gewöhnlich auf seiner gesamten Länge aus. Von Norden nähert sich ein weiterer Nebenfluss, welcher in seinem Unterlauf vom Stausee vereinnahmt wird. An dieser Stelle erspähe ich eine seltsame Ruine am gegenüberliegenden Ufer. Eine merkwürdige, hohe Mauer - wozu hat sie gedient? Sie ähnelt einer Staumauer. Daher komme ich zu dem Schluss, dass dort die Entstehung des Stausees in miniaturisierter Form geprobt und simuliert werden sollte.

Bei den Gehölzen zu meiner Rechten handelt es sich um einen anthropofizierten Wald, in welchem ein Baumkronenpfad und ein Kletterwald gewachsen sind.
Hoch oben am anderen Ufer erstrahlt in gelbem Glanz das Schloss Waldeck. Zweifellos hat sich der Fürst mitsamt Hofstaat aus Furcht vor der schrecklichen Seuche in seine Gemächer zurückgezogen, weshalb ich ungehindert seine Ländereien passieren kann.

Auf einmal taucht mitten im See ein riesiges Gebilde auf, und ich erkenne sogleich, dass es sich um den Grund für all meine Beobachtungen handelt: das rote Gras, die Ruinen von Edersee-Atlantis, selbst das volle Gasthaus. Es ist eine graue Mauer.

Wenige Minuten stehe ich vor ihr: Die Edersee-Staumauer, wahrhaftig ein beeindruckendes Bauwerk, welches den Edersee entstehen lässt, aber zugleich abrupt beendet und in ein schmales Rinnsal verwandelt. Wenn der See überläuft, stürzt hier ein Wasserfall hinab, doch davon ist der See weit entfernt.
Als die Mauer im Jahre 1910 errichtet wurde, mussten all die Dörfer aufgegeben werden - aber warum? Nicht Hochwasserschutz oder Gewinnung von elektrischer Energie waren der Hauptzweck des Bauwerks, sondern einen Wasserspeicher zu schaffen, damit stets genügend Wasser für die Schifffahrt auf der Weser und dem Mittellandkanal vorhanden ist - die Mauer sollte die wichtigste Wasserstraße des Reiches bis ins Ruhrgebiet sichern. Diese strategische Bedeutung wurde ihr jedoch zum Verhängnis.
In der Mitte des Mauerwerks erkenne ich großflächige Spuren einer späteren Beschädigung und Reparatur, welche sich etwa 25 Jahre nach der Erbauung ereignet haben muss. Die Lektüre der Dorfchronik schafft Aufklärung: Während des Krieges ließ das Volk der Briten hier eine Rotationsbombe fallen. Diese wurde vor dem Abwurf in Drehung versetzt und hüpfte wie ein flaches Steinchen auf der Wasseroberfläche über die Sicherheitsnetze hinweg auf die Staumauer zu, wo sie schließlich versank und ein Loch hineinsprengte. Den Rest erledigte das Wasser. Eine sieben Meter hohe Flutwelle zerstörte das halbe Dorf Affoldern, raste die Fulda und Weser hinauf und vernichtete Infrastruktur und Menschenleben. Zwangsarbeiter bauten die Staumauer wieder auf. Damals herrschten wahrhaftig dunkle Zeiten am Edersee.

Ein eigenartig konstruierter Aufzug verkehrt vertikal von der Staumauer abwärts auf einen Bootsanalegesteg.
Ein weiser Mann schrieb einst: Wasser und Daten sind das Gold der Zukunft. Einen Beweis dafür sehe ich hier: Blutspuren am Ufer zeigen, dass kürzlich Gefechte um die Ressource des Edersees stattfanden. Die Einheimischen verlangen ausreichend Wasser im See, um Badegäste anzulocken, während die Händler mehr Wasser in die Weser und den Mittellandkanal ablassen wollen, damit diese schiffbar bleiben. Da die Blutflecken mindestens einmal überspült wurden, vermute ich, dass ein starkes Frühlingshochwasser den Konflikt gelöst haben muss - zumindest vorerst.

Neben der Staumauer erstrecken sich abschüssige Straßen und Parkanlagen, welche die Siedlung Hemfurth-Edersee bilden. Im Park können Kinder bei wärmeren Temperaturen an einem miniaturisierten Wasserlauf mit Stauwehr plantschen. Hier befinden sich auf einmal zahlreiche Menschen und geöffnete Gasthäuser - fast alle Überlebenden aus der Gegend scheinen hinter die Staumauer geflohen zu sein, von der sie sich Schutz vor Kälte und Krankheit erhoffen. Welch ein Irrglaube - die Konstruktion schützt doch nur vor Hochwasser, und diese Gefahr besteht derzeit nun wirklich nicht.

Nach einer steilen Abfahrt entdecke ich sogleich einen zweiten Stausee. Dieser nennt sich Affolderner See und ist deutlich kleiner, aber auch voller. An seinem Ufer erstreckt sich ein Gleis, auf dem einst die Turbinen für die große Staumauer geliefert wurden. Heute verkehren dort Fahrraddraisinen. Eine Messung ergibt, dass die Strecke der Eder-Draisine nur 2,2 Kilometer lang ist. Die Bewohner des Dorfes Affoldern sind technologisch noch nicht fortgeschritten genug, um eine längere Draisinenstrecke zu bauen.

Zumindest vermute ich das, da sie nicht einmal in der Lage sind, Häuser richtigherum zu errichten.

Die Staumauer des Affolderner Sees ist deutlich kleiner.

Anschließend nimmt die Eder endgültig wieder die Gestalt eines gewöhnlichen Flusses an und durchquert grüne Auen und Felder. Unverkennbar senkt das Profil des Hüggellandes immer weiter ab - wir verlassen den Kellerwald.

Als die Dämmerung hereinbricht, erreiche ich die kleine Eingeborenensiedlung Wega. Meine Erwartung war, dass ich hier in eine zivilisiertere Gegend außerhalb der wilden Berge zurückkehre. Diese Hypothese gründete sich darauf, dass Wega über ein Wasserrad, ein Militärflugzeug und eine Bahnstation verfügt.

Als ich jedoch den Bahnhof passiere, stellt sich dies als fataler Fehlschluss heraus. Ein höchst erschreckender Anblick bietet sich: Mehrere Tote säumen den Bahnsteig. Eine schnelle Untersuchung ergibt ohne Zweifel, dass alle der nächtlichen Kälte zum Opfer fielen und jämmerlich erfroren, während sie auf den Zug warteten. Für diese Annahme spricht nicht nur ihre fahle Gesichtsfarbe, sondern auch, dass das nächste Gasthaus, die Dönerbude sowie das Western-Restaurant im Bahnhofsgebäude verschlossen und verrammelt sind. Doch wieso sind sie nicht in einen Zug gestiegen? Laut der Anzeigetafel verkehren sämtliche Züge wie gewohnt. Erst eine Messung meines DB Navigators löst das Rätsel: Von den ohnehin nur alle 2 Stunden verkehrenden Eisenbahnen fällt jeder zweite wegen Personalmangel aus. Mit anderen Worten: Es gibt kein Entkommen aus Wega!
Ich fühle mich hier nicht sonderlich wohl, doch ist diese Kreuzung mit ihren leeren Schienen und irritierend verteilten Bushaltestellen ein hervorragendes Studienobjekt, um zu untersuchen, was mit dem Nahverkehr in diesem Lande schiefläuft.