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24 Juli 2025

Lahn: Von Marburg nach Gießen

Wer auf diesem Weg einen Mangel entdeckt, sollte ihn bei der angegebenen Telefonnummer melden. Kurz darauf wurde jede einzelne der neuen Solarlaternen als kaputt gemeldet, und so erhielt der Weg den Namen Marburger Mängelmelder. Inzwischen beleuchten die Laternen wieder den Weg nach Süden, sogar tagsüber.

Die Fahrt an der mittleren Lahntal ist einfach, angenehm und unspektakulär. Das Tal ist breit, und die Lahn bleibt meist in der Ferne. Zwar macht der Weg eine ziemliches Zickzack durch die Straßen und Wiesen, aber die Richtung ist so gut beschildert, dass das nicht weiter stört. Auch ein paar Baggerseen liegen an der Strecke, einmal ragen Förderbänder auf, die anscheinend noch Kies abbauen.


Die Orte an den Zacken der Zickzackroute sind überraschend klein, abgesehen von Lollar, aber das gehört auch schon mehr oder weniger zu Gießen.
Vor Bellnhausen stießen wir auf besonders viele Hühner, die in Wohnwagenställen leben und von Wiese zu Wiese ziehen. Kurz darauf sahen wir dann auch, was aus den Erzeugnissen dieser Hühner wird. Und beschlossen, dass es an der Zeit sei für eine Rast auf einer Holzpalettenbank. Essen gab es genug, denn in der Hütte daneben verbarg sich ein sehr umfangreicher Hofladen, an dem wir uns richtig den Bauch vollschlagen konnten. Aber erst, nachdem wir den Automaten überzeugt hatten, die Karte zu akzeptieren, und er sich unwiderbringlich an unserem 5-Euro-Schein verschluckt hatte. Das Angebot umfasst Fleischkeulen, Chips, Eier, Kakao und natürlich wie so oft das selbstgemachte Eis vom Hof. Das gibt es hier nicht nur in handlichen Pappbechern, sondern sogar in großen 500g-Behältern, von denen ich für den Rest der Tour pappsatt wurde.
Mit einem Mal füllte sich die leere Straße komplett mit Rennradfahrern. Nanu, ist hier irgendein Rennen? Sie bogen um die Ecke, in einer andere Richtung als der Lahnradweg, und verschwanden.
Fünf Minuten später: Die nächste Gruppe. Sind das dieselben, fahren die immer im Kreis? Nein, diesmal bestand die Gruppe ausschließlich aus Frauen. Auch sie bogen um dieselbe Ecke. Anscheinend praktiziert der lokale Rennradverein ein Rennen inspiriert von Bibi und Tina - Mädchen gegen Jungs.
Und als wir uns schließlich zur Weiterfahrt erhoben - noch eine Frauengruppe.

Sehenswert sind ansonsten eigentlich nur die historischen Brücken aus Buntsandstein, die immer nur nur draußen im Grünen, außerhalb der Ortschaften, stehen. Innerorts sind nur Beton und Metall als Brückenmaterialien zugelassen.

Zwischendurch kamen wir noch an einem Skate- und Fahrradpark vorbei. Ich rollte probehalber eine Runde über die Asphaltwellen, aber obwohl sie für solche Parks sogar relativ sanft waren, erwies sich mein Rad nicht als qualifiziert, ein Pedal schleifte gegen den Boden.


Einen richtigen Uferweg gibt es erst bei der Einfahrt nach Gießen. Wir sind aber noch näher ans Ufer rangefahren, um das sogenannte Lahnfenster zu entdecken. Dazu mussten wir auf eine Mühlen- und Hafeninsel rauffahren. Über den Fluss ragt ein moderner Glaskasten, in dem man Lahnfische beim Besteigen einer Fischtreppe beobachten kann.
Es sei denn, das Fenster hat noch Winterpause. Schade. Aber immerhin lernten wir auf dem Touchscreen etwas über die unsichtbaren Fisch-Territorien der Lahn und sowie jene Tierarten, die unter die Kategorie "Gäste" fallen (Höckerschwäne, Hunde, Taucher, Kanufahrer).


In Gießen lehrten allerhand berühmte Mathematiker und andere Wissenschaftler. Als Beispiel sei hier nur mal Conrad Röntgen genannt, der... was hat er nochmal erfunden? Ich komm nicht drauf.

Deswegen gibt es in Gießen einen der härtesten Jobs der Welt: Locke als Museumspädagoge Kinder und Erwachsene ins Mitmach-Mathematik-Museum. Sie versuchen es, indem sie vor dem Museum unterschiedlich hohe Klangröhren aufstellen, die dem Luftrauschen unterschiedliche Töne verleihen. Nett, aber ob es den Kindern wirklich Töne entlockt, die so ähnlich klingen wie "Au ja, auf ins Mathe-Museum!", darf bezweifelt werden.

Laut der Tafel am Marktplatz hat der Krieg 70 Prozent der historischen Gebäude zerstört.
Hm. Von einer Stadt der Mathematiker hätte ich erwartet, dass sie besser in Prozentrechnung ist. Historisch sah eigentlich nur diese Ecke hier aus, plus die Schlösser mit ihren Gärten. Niemals sind das 30 Prozent!

Auch der mittelalterliche Marktplatz war nicht gerade superschick: Er hatte lange gar keine Pflastersteine, sondern war einfach eine verschlammte Wüste, über die Zweige gestreut und Holzstege gebaut wurden. Mit dem neusten Umbau sollte der Markt wieder die "Gute Stube" der Stadt werden - tja, legt man die Schlammwüste als Maßstab an, ist das wohl gelungen.
Auch die Gießener Gräben verstopfte der Morastboden ständig mit Matsch. Die sogenannten Schlammbeiser mussten sie mit Eisenhaken freimachen, und der letzte von ihnen erinnert nun als Statue an die schmutzige Zeit.


Das aus Berlin bekannte, neue Phänomen der Pop-Up-Radwege ist anscheinend auch in Gießen eingezogen.


01 August 2023

WHH: Von Hann. Münden nach Göttingen

Zwischen der Leine und der parallelen Weser gibt es mehrere Querverbindungen, von Elze nach Hameln zum Beispiel oder am Steinhuder Meer.

Die erste und möglicherweise schönste Querverbindung verläuft auf dem Weser-Harz-Heide-Radweg zwischen Göttingen und Hann. Münden. Diese Strecke von etwa 40 Kilometern sind wir hin- und zurückgefahren, um die Weser kennenzulernen. Wir erkundeten die Stadt einige Stunden lang und radelten dann zurück, bevor es dunkel wurde. Hann. Münden und die Weser gefielen uns ausgesprochen gut, und daher beschlossen wir: Irgendwann fahren wir auch mal den Weserradweg.

In Hann. Münden aus folgten wir kurz dem rechten Werra- und Weserufer entlang der Hauptstraße, vorbei an der Jugendherberge und der niedersächsischen Polizeiakademie. An der dicken Dorfkirche von Gimte bogen wir rechts ab.

Dort wurde es erstmal ein bisschen steil. Wir müssen die erste Hügelkette überwinden, um das Wesertal zu verlassen. Der Radweg und die Hauptstraße folgen dabei einem schmalen Einschnitt, den die Schede geschaffen hat, ein Bach, der zur Weser plätschert.

Dann begegnen wir einer ehemaligen Bahntrasse. Hier wurde sie mit glatten Betonplatten belegt. Sogar alte Signalanlagen stehen noch daneben. Schnurgerade zieht sich der Weg durch Wälder in ein enges Tal. Einfach ein fabelhafter Radweg, besonders für Bahnliebhaber.

Das ist der Weser-Harz-Heide-Radweg von seiner besten Seite!

Bei Scheden führt der Weg an einem Reiterhof vorbei, dessen Eigentümer bei Verfassen von Verbotsschildern ihrer kreativen Ader freien Lauf gelassen haben.

Hier erreichten wir eine hügelige Zwischental-Landschaft aus braunen Äckern. Die könnte man eigentlich auch weglassen und gleich zum nächsten Bahnradweg übergehen, aber ich mache die Landschaften ja nicht.

Leider kann der Radweg nicht die ganze Zeit auf der alten Bahntrasse verlaufen. In verschiedenen Dörfern mussten wir ordentlich auf und ab strampeln, während uns alte Menschen auf Bänken zusahen. Wir passierten unter anderem einen heruntergekommenen Bauernhof mit Ziegen.
Irgendwie wirken Bereiche in Niedersachsen, die keine Bahnanbindung haben, gleich viel ausgestorbener.

In der Mitte des Zwischentals liegt Dransfeld, die einzige Stadt zwischen Göttingen und Hann. Münden. Die Skyline Dransfelds besteht aus dem winzigen spitzen Türmchen der Kirche (links im Bild) und fetten gelben Quadern, in denen sich ein Haus- und Gartenmarkt befindet.

Die Innenstadt ist etwas idyllischer. Ich glaubte plötzlich, ich sei aus Versehen im Harz gelandet - die Fachwerkhäuser mit Schiefer und das eingerückte Rathaus mit Grünanlage davor erinnerten mich ganz stark an die harzigen Städtchen, vor allem an Clausthal-Zellerfeld. So weit entfernt sind die ja auch nicht.
Dransfeld ist überraschend lebendig - an der Hauptstraße waren viele Geschäfte und Imbisse, womit ich nach den ausgestorbenen Dörfern ringsherum gar nicht gerechnet hatte. Es mangelte nur an Fußgängern, die in die Geschäfte hineingingen. Das lag wohl auch an der gewaltigen Hitze.

Gegen die Hitze hilft das putzige kleine Freibad. Es liegt eine Etage höher am Campingplatz, die Straße dorthin führt steil bergauf. Dafür wartet oben eine schöne Aussicht und sehr kühles Wasser (fast schon zu kühles Wasser, aber bei dem Wetter will ich mich nicht beschweren).

Der Radweg entlang der Hauptstraße durch Dransfeld ist kürzer, aber auch steiler. Der Weser-Harz-Heide-Radweg verläuft mit Abstand im Bogen um die Stadt herum. Von dort aus sieht Dransfeld so aus wie auf diesem Bild - die gelben Klötze sind auch aus der Ferne zu erkennen. Wer in der Stadt nicht essen oder schwimmen will, muss entscheiden, ob er lieber mehr Strecke oder mehr Höhenmeter zurücklegen will. Ich glaube, ich würde tatsächlich die Höhenmeter empfehlen.
Auf den Bergen hinter Dransfeld steht der Gaußturm. Er erinnert an den Mathematiker und Landvermesser Carl Friedrich Gauß, der in Göttingen gewirkt hat. Der Aussichtsturm ist jedoch dauerhaft geschlossen.

Im Wald bei Ossenfeld beginnt dann der zweite Bahntrassen-Abschnitt. Der besteht zwar nur aus Kies, macht aber wirklich Spaß, vor allem in Richtung Göttingen. Denn dann hat der Weg ein leichtes, unsichtbares, aber doch spürbares Gefälle, sodass es sich fast wie von selbst fährt. In der Gegenrichtung fühlt es sich eher wie ein normaler ebenerdiger Weg an, vielleicht mit einem minimal Widerstand als sonst.
So tauchten wir ins Leinetal ein, und zwischen den Hecken öffneten sich weite Blicke auf die Göttinger Vororte.

Dann wurde es schattiger, und wir drehten eine Schleife um ein Dorf und unterquerten die Straßen in merkwürdigen Tunneln aus Wellblech, die an übergroße Abwasserkanäle erinnerten.
Von der Luftlinie her wäre es eindeutig kürzer, die Bahntrasse zu verlassen und quer durchs Dorf zu radeln. Aber ich bezweifle, dass man dadurch auch nur eine Minuten Zeit spart - es ist so viel unkomplizierter, sich einfach immer weiter durch den Kies abwärts ziehen zu lassen.

Schnurgerade zieht der WHH-Radweg zwischen aktiven Bahngleisen und dem Friedhof hindurch, überquert zwei Hauptstraßen und kommt schließlich am Ufer der Leine in Göttingen raus.

17 Juni 2023

Inselsee

Inselsee & Sumpfsee
Zwischen den Zitrusringen - Wen man straflos stalken darf - Eine Insel mit zwei Zäunen - So erziehen Sie Ihr Kind zu einem guten Sklaven - Der spontane See und seine Bewohner - Wahl ohne Qual - Ehre sei dem Kaffee und dem Tee und der heiligen Milch - Blutspende am Ende - Rasender Radler, Versteckter Schwimmer und andere Partizipien

Die Sonne scheint, ich besuche meine Familie, das heißt: Zeit für eine Mecklenburger Seentour! Wo darf es hingehen, welche fehlen uns noch? Der Malchiner See? Die Feldberger Seen? Ach nö, wir sind alle bisschen spät aufgestanden und die sind so weit weg und bei den Benzinpreisen... machen wir einfach entspannt den kleinen Güstrower Inselsee.

Der Mühlengraben erinnerte mich an die Wasserläufe von Bützow, die aber keine so netten Radwege haben. Er verbindet die Stadt Güstrow mit ihrem See, an seinem Ufer verläuft auch der Radweg Berlin-Kopenhagen. Wir starteten in der Nähe des Wildparks auf einen Kiesweg. Sofort stellten wir fest: Dieser See ist reich an Gräben und hölzernen Bootshäusern.

Ein gelber Ring aus Raps umschließt den See. Irgendwo dahinter sind manchmal die Güstrower Kirchtürme zu erkennen.
Und in diesem Rapsring befindet sich ein schmaler, zugewachsener Buschring. Diese Büsche und der See bilden ein Natura-2000-Gebiet, weil da unterschiedliche Arten von Wiesen und Mooren drinstecken.

Was uns nur recht ist, solange wir in diesem grünen Ring fahren können. Und das können wir. Zwar nur auf schmalen Pfaden, dafür aber gleich auf mehreren. Die sich nach wenigen Metern aber wieder vereinigen.

Manche Familien schaffen es sogar, ihr Auto in den grünen Ring reinzuquetschen - wie auch immer das möglich ist.

Andere mögen es rustikaler und campen lieber - auch dabei stoßen sie auf gewisse Schwierigkeiten.

Boah, ist das heiß. Zeit für die erste Badepause. Der See ist mit dicht bewachsen, aber wie üblich hat der Röhricht Lücken, in denen sich eine traditionelle Mecklenburger Badestelle verbirgt: Eine Kante mit Erde, über die man ins Wasser watet, um dann zwischen dem Schilf rauszuschwimmen.
Der Inselsee hat einen angenehmen Boden und wird recht schnell tief. Man kann bis zu drei Meter tief sehen, erklärt ein Schild, was wohl heißt, dass er noch deutlich tiefer sein muss. Da unten lebt die seltene Armleuchteralge. Der Inselseebewohner schlechthin ist aber, soweit ich das beurteilen kann, die Libelle. Überall wirbelten die blauen Geschöpfe über dem Schilf dahin, wechselten von der einen auf die andere Seite, flohen vor dem polternd-platschenden Menschen. Manche hatten sich zu romantischen Zwecken direkt hintereinander auf ein Blatt gesetzt. Andere Libellen waren noch Single und guckten in den Röhricht.
Wo ist eigentlich meine wasserfeste Handyhülle? Nein, für gute Fotos bin ich zu laut und die Insekten zu scheu.

Soo, nun heiß der See ja Inselsee. Wo ist denn jetzt die Insel? Ich erinnere mich vage, wie ich in jungen Jahren einmal über die Güstrower Insel gelaufen bin - da ich gerade erst Jim Knopf gelesen hatte, fand ich es klasse, auch mal auf einer echten Insel von Lummerland-Größe zu sein. Selbst, wenn sie jetzt nicht im engeren Sinne im großen weiten Meer lag und auch keine so gut ausgebauten (beziehungsweise überhaupt keine) öffentlichen Verkehrsmittel hatte.
Die Insel heißt Schöninsel und beinhaltet einen alten slawischen Burgwall. Was wir hier sahen, war jedoch weniger schön.

Die Brücke war verrammelt und verriegelt. Warum, ist auch deutlich zu erkennen: An einigen Stellen sind die Bretter schon durchgebrochen. Das verschlossene Tor sich war nicht das Problem, denn jeder mit ein bisschen Gleichgewichtssinn konnte das Tor ganz easy an der Seite umgehen und den Bruchstellen ausweichen. Aber auch auf der Insel folgt nach wenigen Metern das nächste Tor, und irgendwo dahinter liegt das abgeschottete Haus von König Alfons, der ganz offensichtlich dringend möchte, dass sich alle von seiner Privatinsel verpissen - aber dann doch nicht so dringend, dass er deswegen Geld ausgeben würde, um die Schwachstelle seiner Verteidigungsanlagen zu beheben. Diese Insel wirft viele Fragen auf. Gibt es noch andere Schleichwege zu zugänglichen Teilen der Insel? Manche sagen ja, die Karte sagt nein, wir haben jedenfalls keine gefunden.
Ich war der einige, der sich die paar Schritte auf die Insel wagte. Auf der Brücke und auf dem Bootssteg direkt direkt daneben hatten sich jedoch eine Menge Menschen angefunden, die ungerührt angelten und ihr Bier tranken.
Die Familie am Ufer war bereits zu härteren Drogen übergegangen.
"Zigarette!", befahl der Vater.
"Muss ich erst drehen", entgegnete der Zehnjährige und sprang dienstbeflissen auf.
Hach, Güstrow, diese Stadt kann einem richtig ans Herz wachsen. Wie ein Tumor.

"Die Tour um den Inselsee ist so kurz, wollen wir nicht noch einen anderen machen?", schlug unser nichtrauchender Vater vor, während er die Kartenapp studierte. "Da hinten ist der, äh... Sumpfsee."
Klingt einladend, und das mit der kurzen Strecke ist völlig richtig, ich bin dabei! Wir kreuzten uns zwischen einer Tankstelle und dem schneeweißen Güstrower Ligusterweg hindurch - und fanden uns auf einer kahlen braunen Einöde wieder. Der Sumpfsee könnte auch Ackersee heißen. Ach, da hinten ist er ja endlich.

Als wir in den neuen Grüngürtel eintauchten, wurde der Sumpfsee seinem Namen doch noch gerecht: Das Wasser breitete sich bis über den Weg aus.

Der Sumpfsee wird vorwiegend von Schnecken bewohnt. Während die Schneckenhäuser an Land aktuell leerstehen (eine Schande bei der Situation auf dem Wohnungsmarkt), sind die schwarzen Seeschnecken quicklebendig.

Auf den Sumpf folgt der Sand: In brütender Hitze schleppten wir uns durch die Dünen am Waldesrand. Diesen Weg fanden wir nicht besonders schaf.

Wer näher am See bleiben will, muss an den Windrädern links abbiegen. Dieser Sandweg sieht aber nicht viel besser aus. Nein danke, wir nehmen die leichtere Variante.

Die Bauern in Bülow sind aktuell möglicherweise besser ausgerüstet als die Bundeswehr.

Wir bogen vom Bundesstraßenradweg ab nach Ganschow. Das Dorf ist bekannt für seine Pferderennen und landwirtschaftlichen Messen. Aber wir müssen die Gestüte wohl irgendwie umfahren haben, denn alles, was wir sahen, waren Ziegen in allen Farbschattierungen. Außer Gelb, die Farbe übernahmen stattdessen die Fachwerkhäuschen.

Mit unserer Mutter unterwegs zu sein, heißt, unterwegs mindestens eine Kirche mit Friedhof zu besichtigen. Ist ja auch oft das einzige, was die Dörfer zum Besichtigen haben.
Ein schattiges, leeres Sträßchen brachte uns nach Lohmen. Dort empfing uns die Dorfkirche mit offenen Türen (also quasi, eigentlich mussten wir sie selbst öffnen). Sie besteht wie die meisten Mecklenburger Dorfkirchen aus Feldsteinen aus dem 13. Jahrhundert. Und wie viele Mecklenburger Dorfkirchen hat sie später einen Fachwerkturm bekommen, als die Menschen herausfanden, dass runde Steine superviel Mörtel verbrauchen und eventuell gar nicht mal das allerbeste Baumaterial darstellen.

Da führt eine Treppe hoch - ob man da auf den Turm kommt? Nee, erstmal nur zur Empore. Wer noch höher will, muss die gut getarnte Falltür (im linken Bild oben rechts) aufkriegen und da irgendwie hochkommen. Ui, das ist ja sogar noch abenteuerlicher als der Göttinger Jacobikirchturm, nee danke.
Dann fiel uns etwas Seltsames auf. Wo eigentlich die Orgel stehen sollte, befindet sich nun eine Teeküche. Natürlich ist Tee etwas Wunderbares, aber ob das Brodeln und Klicken eine Wasserkochers wirklich Orgelmusik ersetzen kann? Natürlich nicht. Die Lütkemüller-Orgel wurde nach unten verschoben, als man sie zum neuen Jahrtausend renoviert hat. (Mit neuem Jahrtausend meine ich natürlich das Jahr 2000. Im Jahr 1000 sollte es noch 890 Jahre dauern, bis die Orgel überhaupt existierte.) Wahrscheinlich kommen nicht mehr soo viele Besucher in die Kirche, sodass unten genug Platz ist und niemand mehr auf der Empore sitzt - warum sollte man also unnötigen Abstand zwischen die Menschen und die Musik bringen?

Zurück an der Bundesstraße erwarteten uns die größten Hügel der Strecke, aber der Asphalt machte sie trotzdem viel einfacher als die Sandhügel vorhin. Ab und zu funkelt hinter den Kuhweiden der blaue Inselsee.

Kurz vor dem Ziel erwartet uns der Uitkiek. Das ist der einige Aussichtsturm am Inselsee. Genau genommen steht er nicht mal wirklich am Inselsee, sondern ein Stückchen entfernt im Wald. Das ist einerseits toll, denn oben auf dem Berg und nach vier Metalltreppen, reicht der Blick ziemlich weit, deutlich über den See hinaus zur Güstrower Skyline. (In die andere Richtung dagegen endet der Blick nach wenigen Metern an einer grünen Nadelwand.)
Doch wer sich diesen Blick sehen will, muss dafür bezahlen. Nicht mit Geld, der Uitkiek ist gratis. Stattdessen war anscheinend Lord Voldemort da, hat hier einen Horkrux verbuddelt und eine (wie Dumbledore sagen würde, primitive) Bezahlschranke installiert. Der Preis wird in Blut bezahlt. Zuständig sind hierfür die Mücken. Sie ließen mich zunächst gutgläubig in ihr Refugium radeln. Doch sobald ich länger als 0,3 Sekunden am selben Ort stehenblieb, kam der Schwarm von allen Seiten und fiel gierig über mich her wie ein Finanzamt auf Ecstasy. Ich rannte um mein, naja, nicht mein Leben, aber um mein wertvolles Gruppe-Null-Blut.

Damit wären wir im spaßigen Stadtviertel Güstrow-Schabernack angekommen. Statt an der Straße radeln wir hier an einer Pferdekoppel und dann am Seeufer. Hier stoßen wir auch wieder auf den Radfernweg Berlin-Kopenhagen, der in Richtung Krakow abzweigt.
Der wohl berühmteste Güstrower ist der Bildhauer Ernst Barlach. Er hämmerte und goss ausdrucksstarke Skulpturen im Partizip I: Lesender Klosterschüler, Lachende Alte und natürlich, am bekanntesten, Der Schwebende. Letzterer hängt an der Decke des Güstrower Doms ab, die meisten Werke jedoch verbergen sich in einer modernen Galerie aus Efeu und Beton, direkt am Seeufer in Schabernack. Während meiner allerersten Klassenfahrt marschierten wir alle brav ungefähr 129 Kilometer vom Reisebus bis hierher, um uns Ernst Barlachs große und kleine Gestalten erklären zu lassen. Die Führung war sogar einigermaßen kindgerecht, obwohl die meisten Figuren etwas Düsteres, oder naja, zumindest Melancholisches haben. Auf jeden Fall passen sie sehr gut zum Vornamen des Künstlers und sehr schlecht zum Namen des Stadtteils.

Dahinter war es Zeit für das letzte Bad des Tages. Die größte Badestelle am See ist ausgestattet mit einem Steg und einer Schwimminsel. Nanu, ist da unterm Steg etwa ein Hohlraum? Wir tauchten hinein und stellten fest: In diesem Versteck kann man sogar atmen. Ideal zum Versteckenspielen, als Fluchtort vor den Eltern, die loswollen, oder für tragische Badeunfälle.
Am Imbiss ergatterten wir noch die letzte Currywurst des Tages, die uns Treibstoff für die letzten Meter bis zum Parkplatz lieferte.

16 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Sacrow nach Spandau

Die Waldseemauer

Länge: 27 km
Grenzquerungen: 9
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: ausnahmsweise etwas mehr West als Ost (wobei der politische Westen hier im geographischen Osten liegt)
Erkenntnis: Eine Schülerausrede hätte rein theoretisch eventuell vielleicht den Dritten Weltkrieg auslösen können, und das wäre auch kein dümmerer Grund als manch anderes.

Weil Spandau komplett zu Westberlin gehörte, schlägt die Mauer an dieser Stelle einen großen Waldbogen rund um das westliche Westberlin. Erst dann kehrt sie zur Havel zurück. Erst einmal bezwinge ich den Luisenberg. Er ist 74 Meter hoch und gehört damit nicht mal in Berlin zu den höchsten Gipfeln. Allerdings ist er (glaube ich) das höchste, was ich an der Berliner Mauer bezwingen musste. Kein Vergleich zum Hoel und zum Brocken! Jedenfalls nicht, was die Höhe angeht. Was die Schönheit des Waldes angeht, schon eher.

In diesen Wäldern verstecken sich noch mehr Seen, quasi eine zweite Seenreihe, die nicht von der Havel verbunden wird, sondern bloß von irgendwelchen Bächlein. Entsprechend geht es hier deutlich ruhiger zu. Den Sacrower See verfehlt die Mauer knapp, aber über den Groß Glienicker See geht sie einmal quer rüber. Ach, schön! Darf ich dann auch ans Ufer?

Äh, ich würde mal sagen, das ist ein klares Nein.
Die Karte sagt, der Radweg ist gesperrt. Da frage ich mich, vor wie vielen Jahr(zehnt)en der bitte geöffnet gewesen soll. Eine derart dicke Buschwand wächst ja nicht gerade über Nacht. Und auch später, als es einen Pfad am Ufer gibt, ist der nur für Fußgänger erlaubt, und die Abzweigung habe ich obendrein übersehen.

In Groß Glienicke herrschten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die Ritter auf dem Rittergut - am bekanntesten ist die Familie Ribbeck (ihr bekanntester Vertreter aus einem gewissen Gedicht kam aber aus dem Ort Ribbeck, das ist woanders). Ihr Gutshof brannte nach Kriegsende ab, nur ein einsames Tor und ein paar Wirtschaftsgebäude blieben übrig.

Im Grenzgebiet verwilderte ihr Garten, und heute ist nicht mehr zu erkennen, dass das mal ein aufwendiger gepflegter Park war. Schön anzusehen ist es trotzdem, nur halt auf andere Art. Und an der Nordspitze darf ich sogar nochmal ans Seeufer.
Der Pfarrer von Groß Glienicke kümmerte sich um seine Schäfchen auf beiden Ufern. Eines Tages war der Steg über den Grenzgraben weg. Am nächsten Tag hatten die Menschen Bretter drübergelegt, dann waren die auch weg. Dann lagen da Trittsteine, auch die entfernten die Grenzsoldaten. Das Katz-und-Maus-Spiel zog sich durch die ganzen 50er bis zum Mauerbau.
Sogar mitten im See stand auf einmal Stacheldraht. Am Nordufer kommt auch heute noch ein Zaun aus dem Wasser. Der Streckmetallzaun, der an der Innerdeutschen Grenze meistens die endgültige Version darstellte, war in Groß Glienicke bloß eine Zwischenstufe. An dieser Stelle lässt sich das sandige Ufer aber nur schwer bebauen.

Deswegen machten die Mauerbauer eine kleine Abkürzung, als der Zaun (hinten rechts) 1970 durch eine Betonmauer (links) ersetzt wurde. Ihrer Faulheit ist es zu verdanken, dass ich zwei verschiedene Mauer-Generationen nebeneinander besichtigen kann (die einzige Stelle in Berlin, wo das geht, glaube ich). Damit es die Landschaft aber nicht zu sehr verunstaltet, sind nur zwei Segmente der Mauer komplett, und der Rest wird durch kleine Betonstücke angedeutet. Die Wurst obendrauf (hinten links) - der Fachbegriff lautet Abweisrolle - verhinderte, dass sich irgendwer mit Händen, Füßen oder Kletterhaken festhalten konnte.

Ich passierte eine Fahrradampel, die einen etwas... verschlossenen Eindruck machte, und fuhr dann immer neben der Bundesstraße lang.
Die Aliierten hatten vereinbart, dass jede Besatzungsmacht einen Berliner Flughafen bekommen soll. Die Briten hatten ihren hier in Gatow und tauschten sogar Gebiete ein, damit sie auch ohne sowjetische Unterbrechung da hinkommen konnten. An dieser Straße erschoss ein DDR-Volkspolizist einen sowjetischen Soldaten, nicht gerade die typische Täter-Opfer-Konstellation. Es wurde an dem Tag nämlich nach einem abtrünnigen Sowjet gefahndet, aber das war ein anderer.
Außerdem sollen sich hier Rieselfelder befinden. Och, das klingt ja idyllisch, was das wohl sein mag? Weinberge, auf denen Riesling angebaut wird?
Äh, nicht ganz. Auf den Rieselfeldern entsorgten die Berliner Ende des 19. Jahrhunderts über ein System aus Pumpen und Rohren ihre Abwässer. Damals totaler Hightech, bis jemand die sogenannte Kläranlage erfand. Für Notfälle werden aber immer noch ein paar Becken freigehalten (etwa, falls die Regierung zu viel Mist machen sollte).

An diese Bundesstrecke grenzt auch, welche Überraschung, schon wieder ein Friedhof. Der verfügt über den wahrscheinlich gigantischsten KfZ-Sperrgraben des gesamten Eisernen Vorhangs.

Ein bisschen bergig wurde es wieder, als ich den Hahneberg umrundet habe. Der besteht im Prinzip aus Bauschutt, ist aber trotzdem bei Schmetterlingen wie dem Schwalbenschwanz und bei rodelnden Kindern beliebt. Der Bauschutt wird immer grüner, was dem Steinschmätzer gar nicht gefällt, denn dieser Vogel brütet lieber in kuscheligen Steinhaufen. Aber keine Sorge, die Menschen haben ihm ein paar Extrasteine dafür hingelegt. Sogar die Russische Kamille wächst dort - auf Westberliner Gebiet! Vermutlich hat die Stalin heimlich bei der Potsdamer Konferenz ausgesät, um zu stänkern.
Gleich nebenan bauten die Spandauer 1882 ein Fort. Sie hatten gerade erst für Bismarck gegen Frankreich gekämpft und dabei festgestellt, dass ihre Zitadelle im Zentrum gar nicht mehr zeitgemäß ist gegen all die dicken Kanonen und den Sprengstoff, der inzwischen erfunden wurde. Aber bevor das Fort Hahneberg überhaupt fertig war, upsi, war die Militärtechnik schon wieder ein Stück weiter. Die Spandauer hinkten der Zeit hinterher, und das Fort Hahneberg blieb unbewaffnet.

Am Rewe von Staaken treffe ich auf die Bundesstraße nach Lauenburg, die einzige Verbindung der beiden Deutschlands, die Radfahrer nutzen konnten (mehr dazu hier).
1972 schlossen beide Deutschlands ein Transitabkommen. Damit wurde vieles einfacher: Wenn Sie an dieser Stelle als Westbürger von Westberlin nach Hamburg fahren wollten, durften Sie fortan nur noch in begründeten Einzelfällen durchsucht werden (zum Beispiel, wenn das Heck besonders tief lag - vermutlich ein Flüchtling im Kofferraum). Und Sie mussten keine Gebühr abdrücken, das erledigte die BRD mit einer pauschalen Gebühr an die DDR jedes Jahr für Sie. Dafür mussten Sie aber auch in einem westdeutschen Merkblatt (die Kurzfassung hängt noch heute aus) durchlesen, was alles verboten war: Die festgelegte Transitstrecke verlassen, Anhalter mitnehmen, andere Raststätten als erlaubt benutzen und natürlich irgendwelche Zeitschriften oder sonstwas liegenlassen, in denen eventuell irgendwas Kritisches über den Staat steht, den sie gerade durchqueren... ach ja, und ganz normale Verkehrsregeln gibt es ja auch noch. Falls Sie gegen irgendwas davon verstießen, passierte erstmal... nichts. Die Stasi guckte am Rand der Straße zu und gab die Infos an den Grenzübergang in Lauenburg weiter. Sobald Sie hunderte Kilometer später die DDR wieder verlassen wollten, kam die böse Überraschung.

Dieses Kreuz erinnert an Dieter Wohlfahrt. Er war zwar in Berlin aufgewachsen, aber österreichischer Staatsbürger. Dadurch hatte er den Vorteil, dass er deutlich einfacher nach Ostberlin einreisen konnte. Das wollte er nutzen, um möglichst vielen Menschen zu helfen. Er ging zu einer Fluchthilfegruppe, die Menschen durch Abwasserkanäle schleuste, und er öffnete für sie immer die Gullydeckel auf der Ostseite. 1961 probierte er es auch mal damit, den Grenzzaun durchzuschneiden, um die Mutter eines Kommilitonen rauszuschleusen. Doch an dem Tag hatte sie jemand verraten, und Wohlfahrt wurde hingerichtet. Westdeutsche wurden bedroht, als sie ihn versorgen wollten, und die Grenzsoldaten holten ihn erst ab, als er definitiv tot war.

Damit wäre ich in Staaken angekommen. Schon 1920 schlossen sich die Staakener begeistert Groß-Berlin an. Sie mussten vorher nur noch die skeptischen Spandauer dazwischen überzeugen, und schon wurde Berlin die drittgrößte Stadt der Welt nach London und New York.
Als ich an diesem grünen Graben herauskam, wunderte mich der Zusammenschluss nicht: Die Häuser da drüben sehen schon echt urban aus. Die Gartenstadt sollte eine grüne Mischung aus Stadt und Land werden und war Vorbild für den Siedlungsbau der Weimarer Republik. 1938 startete in Staaken der erste Nonstop-Flug von Berlin nach New York, den aus Versehen alle Medien übersahen (das würde heute wohl nicht mehr passieren). Der erfolgreiche Rückflug wurde umso mehr bejubelt.
Die Staakener Kirchgemeinde war in beiden Unrechtsregimen rebellisch eingestellt: Zuerst taufte hier ein Pfarrer der Bekennenden Kirche Juden, um ihr Leben zu retten, und in der DDR wurde die Kirche zum Zentrum des Widerstands im Havelland. Interessanterweise riss die DDR sie trotzdem nicht ab, sondern verlieh ihr im Gegenteil sogar Denkmalschutz.
Der Westteil von Staaken war das Gebiet, das die Briten den Sowjets im Gegenzug für die Zufahrt zu ihrem Flughafen überließen. Der alliierte Kontrollrat fand den Tausch nicht okay, die Sowjets besetzten das Gebiet trotzdem über Nacht. Am nächsten Tag rannten viele Staakener überstürzt in Richtung Westen (also politisch, eigentlich in Richtung Osten).
So viel Geschichte sieht man den Wohnklötzen echt nicht an, oder?

Abgesehen vom Gasthaus Grenz-Eck gibt's in Staaken nicht viel zu sehen, es geht einfach am Stadtrand entlang über viele, viele Brücken und viele, viele Gleise unter den Brücken. Eine davon benutzten die Westberliner illegal, obwohl sie kurz vorm Einstürzen war und dringend saniert werden musste.  Westberlin brauchte die Brücke als Umleitung, weil sie ihre eigene Brücke noch dringender und länger sanieren mussten. Deswegen liehen sie sich die Brücke von der DDR aus (Kann man Territorium völkerrechtlich ausleihen? Egal.) und hinterließen sie der DDR gratis hübsch saniert.
Der Lokführer Harry Deterling und sein Schwager, der Heizer, hatten 1961 beide so gar keine Lust mehr auf ihre sogenannte Republik. Als sie hörten, dass ihre Eisenbahnstrecke bald woandershin umgeleitet wird, luden sie 14 Familienmitglieder auf und ballerten mit vollem Karacho über die Grenze - eine etwas stumpfere Eisenbahnflucht als die im tschechischen Aš, aber ebenso erfolgreich. Insgesamt saßen da 32 Passagiere drin, auch Soldaten und Polizisten. Nur sieben kehrten freiwillig zurück. Gerade mal zwei Jahre später wurde die Flucht schon verfilmt (Durchbruch Lok 234 gibt's auch auf Youtube), vermutlich nicht am Originalschauplatz. Eine andere Flucht erfolgte ähnlich branchial per Planierraupe.
Die Brücke wurde übrigens extra für einen Transrapid verlängert, der niemals fuhr.

Uiuiui... an der nächsten Straße hat irgendwer einen regelrechten Wald an Informationstafeln aufgestellt, endlos fächern sich die Infos, Bilder und Zitate der Zeitzeugen neben dem Radweg auf. Aber hm, eigentlich bin ich total gut in der Zeit. Wozu beeilen? Ich lese mir das jetzt alles ganz in Ruhe durch.
Hier draußen in Falkensee wurden schon in den 50ern Straßen und Buslinien dichtgemacht und das Überqueren knifflig, denn schließlich war das hier die Außengrenze und nicht die innerstädtische Sektorengrenze. Dennoch hingen viele an ihrem Haus und fuhren immer nur kurz in den Westen, um Waren einzukaufen und besser zu verdienen.
Als dann der 13. August eintrat, waren viele gerade mit der S-Bahn unterwegs, die auf einmal nicht weiterfuhr. Zwar bekamen sie ihr Fahrgeld zurück, aber wie sollten sie nach Hause kommen? Beim Umweg außenrum mussten sie so oft umsteigen, dass sie erst acht Stunden später zu Hause waren. Eine Tante schickte ihre Nichte an der Grenze zu ihren Eltern zurück, die Zehnjährige tapste völlig ungerührt durch die Sperranlagen.
Falkensee gehörte nun komplett zur Sperrzone. Jeden Freitagnachmittag verteilte ein Soldat in der Gaststätte die Besuchsgenehmigungen, die man vier Wochen vorher beantragen muss.
Eine West-Familie durfte ihre Großmutter in Falkensee nicht besuchen. Sie konnten ihr zwar durchs Fenster winken, zurückwinken war der Oma aber streng verboten. Stattdessen hängte sie als Wink-Ersatz ein Taschentuch raus.

In einer Lücke im Wald verbirgt sich der Eiskeller. Der heißt so, weil a) im Gutshof Eis im Keller gelagert wurde und b) hier die höchsten und niedrigsten Temperaturen Berlins herrschen. Der Eiskeller war eine Westberliner Exklave, aber immerhin mit einer vier Meter breiten Zufahrt. Im Eiskeller gab es wiederum ein Ministück DDR, also eine Exklave in der Exklave, und andere Stücke DDR ragten von der Seite rein. In diesem Chaos lebten drei Familien. Eines ihrer Kinder wurde 1952 weltberühmt. Erwin erzählte, die Grenzsoldaten hätten ihn auf dem Weg zur Schule gestoppt. Die Briten reagierten sofort, schickten 30 Soldaten in die Exklave und begleiteten den Zwölfjährigen jeden Tag mit einem Panzerspähwagen auf dem Schulweg (zu sehen im Foto oben auf der vordersten Infotafel, das mittlere Bild). Erst Jahre später gab er zu: Er hatte die Schule geschwänzt und eine Ausrede gebraucht.
Auf der sowjetischen Seite wurden die Gutsbesitzer von den Sowjets enteignet, andere Bauern hauten ab - darum gab es viele neue Bauern, die noch nicht so gut eingearbeitet waren. Zum Beispiel waren sie mit den Kartoffelkäfern überfordert. Aber die Lösung ist ganz einfach: Erzähl den Schulkindern, dass die Amis die Käfer aus Flugzeugen abwerfen, und schick die empörten Kleinen dann in der Schulzeit zum Sammeln aufs Feld.

Das wars auch schon mit der Stadt, jetzt geht's wieder richtig ins Grüne. Bunte Skulpturen säumen den Weg. Eine erinnert an drei junge Männer, die einen eher skurrilen Fluchtplan ausgeheckt haben: Sie nahmen weiße Klamotten und eine weiße Leiter, um vor der weißen Mauer nicht aufzufallen. Das allein reichte aber nicht, die drei müssen zusätzlich Glück gehabt haben: Entweder haben die Grenzposten gepennt oder den Schießbefehl verweigert.

Die Steinerne Brücke ist im Prinzip ein schräger Betonklotz (hinten in der Mitte) und erinnert an diejenigen, die es nicht geschafft haben.
Willi Block verfing sich dermaßen im Stacheldraht, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Nicht mal, als ihn die Soldaten dazu aufforderten. Da er sich scheinbar nicht ergeben wollte, schossen sie. Dietmar Schwitzer floh aus dem eher ungewöhnlichen Grund, dass er als Hobby gerne funkte - zu gut, denn die Stasi wollte ihn unbedingt anwerben, aber er wollte da auf keinen Fall dienen. Ein Grenzer erschoss unter nicht ganz klaren Umständen seinen Kollegen Ulrich Steinhauer, der selbst auch kein begeisterter Grenzsoldat war, um fliehen zu können. Der Westberliner Adolf Philipp, der als Fluchthelfer regelmäßig das Niemandsland erkundete, versteckte sich in einem Bunker, brachte aber durch seine Fußspuren zwei Soldaten auf seine Fährte. Offenbar sah sich der Grenzsoldat bedroht und schoss in Notwehr, tatsächlich hatte Philipp nur eine Gaspistole dabei. Zwei Motorradfahrer verpassten ins Gespräch vertieft ihre Ausfahrt und wendeten erst, als sie sahen, dass sie aus Versehen die Grenzanlagen erreicht hatte. Der Torwächter schoss und traf nicht wie geplant den Reifen, sondern einen der Brüder.

Aus dem Westberliner Zollweg ist ein fabelhafter Radweg geworden, der sich zielstrebig durch den Spandauer Forst zieht. Zum Teil war das Gelände so sumpfig, dass es nur für einen Stacheldrahtzaun reichte.
Vor allem am Laßzinsee leben viele seltene Arten. Als ich auf die Aussichtsplattform stieg, bekam ich leider weder einen Bekassinen noch einen Flussregenpfeifer zu Gesicht. Aber der See allein war den Aufstieg schon wert - er funkelt fast so blau wie ein Bergsee in den Alpen!

Diese Etappe endet, wie sie begann: Mit einem kleinen Hügel im Wald. Dann bin ich auch schon zurück an der Havel am äußersten Rand von Spandau, und es ist gerade mal früher Nachmittag.
Da kühle ich mich doch erstmal entspannt im Wasser ab und hole mir eine Riesencurrywurst. Vielleicht lenkt mich das ein bisschen ab von den grauenhaften Sachen, die ich in den letzten anderthalb Tagen gelernt habe.
Jetzt kommt noch ein Mauerstück an der Havel, das ich schon kenne und dessen grauenvolle Sachen ich mir schon während der Havelradtour durchgelesen habe. Tja, und dann werde ich wohl auch schon, überraschend früh, zurück nach Hause fahren. (Nein, werde ich nicht. Ich werde zwei Stunden in einem Oranienburger McDonalds ohne Stühle sitzen und versuchen, das Deutschlandticket für den neuen Monat irgendwie in die App zu laden.)