Am nächsten Morgen nahmen wir eine Abkürzung nach Göttlin und nutzten die gesparte Zeit zum Schwimmen. Die sehr gepflegte Badewiese war sogar als Biwakplatz markiert, und tatsächlich hatten zwei Radler in hautenger Radsportkleidung die Aprilnacht anscheinend hier verbracht. Zu solchen Abenteuern kann ich meine Familie bekanntermaßen nicht überzeugen.
Als wir in die Havel wateten, wurde sie unter unseren Füßen schnell tiefer. Dafür ist sie schmaler und zwängt sich noch einmal durch ein tief eingekerbtes und bewaldetes Tal, das mich ein bisschen an die Strecke nach Fürstenberg vom Anfang erinnert hat. Nach wenigen eisigen Schwimmzügen verzog sich die Sonne schon wieder hinter eine dicke graue Wolke.
Wir radelten um die sandigen Dünen um den Truppenübungsplatz Klietz. Unser Vater glaubte, diese glatten Betonplatten stammten noch aus der DDR. Ich kannte genug Betonplatten vom Radweg an der Innerdeutschen Grenze und hatte da so meine Zweifel.
Wer glaubt, diese Landschaft hätten die üblichen Verdächtigen, also die Gletscher, erschaffen, der irrt sich. Den Sagen zufolge war es die Göttin Frau Harke, die alle Täler und Hügel liebevoll modelliert hat. Und das, obwohl in der Landschaft gar keine geraden Rillen wie von einer Harke zu erkennen sind. Irgendwann fiel auch den Menschen diese Ungereimtheit auf und sie konvertierten zum Christentum. Wütend Enttäuscht schleuderte sie dicke Steine auf die neu gebauten Kirchen (im Vergleich zu Frau Holle ging Frau Harke beim Geoengineering etwas grobschlächtiger vor), traf aber immer daneben. So kamen die Findlinge in die Landschaft.
Den Großteil des Tages fuhren wir auf straßenbegleitenden oder verschnörkelten Abwegen abseits des Flusses. Nur Altarme waren hin und wieder zu sehen, angeblich wurden 19 von ihnen wieder an die Havel angeschlossen. Frösche quakten wie verrückt, sobald ein Sonnenstrahl auf sie fiel - unter der Wolke blieben sie stumm.
Welchem Zweck dient wohl eine Kette aus 5 m hohen blauen Stangen am Rand des Feldes? Falls sie die Orientierung im Tiefschnee sicherstellen sollen, wird sie wahrscheinlich nicht mehr oft benötigt, aber vielleicht bei Hochwasser?
Die Havel ist inzwischen die Grenze nach Sachsen-Anhalt, und wir fuhren schon am linken, anhaltinischen Ufer. Hier ist es viel, viel leerer als in Brandenburg. Die Osterradler der letzten Tage waren endgültig verschwunden, sogar das Schild von gestern "Letzter Radstop vor Moskau" wäre plötzlich glaubhaft erschienen, wenn nicht die Richtung immer noch falsch gewesen wäre.
Während die Population an Menschen abnahm, nahm die Storchendichte rapide zu. Erst ein Nest pro Dorf, dann zwei... äußerst motivierend, unser Ziel war schließlich Deutschlands größtes Storchendorf. Auf Schornsteinen blickten die Riesenvögel gelassen und neugierig auf uns herab. Nur das Nest auf einer Insel im Dorfteich schienen sie zu verschmähen.
Die historischen Dorfplätze waren mal rund, mal rechteckig, mal hufeisenförmig oder im Laufe der Zeit alles davon, weil sich das Dorf nach jedem Großbrand oder Hochwasser anders entschied. Schollene hat einen ganz besonderen See mit einer Superkraft: Rheuma heilen. Der Schlamm aus dem See heißt Pelose, jedes Jahr werden 1500 Tonnen davon abgebaut und in Kurkliniken gekarrt. Ein Wunder, dass überhaupt noch was vom Naturschutzgebiet übrig ist.
Im Inneren ist sie (anders als die achteckige Kirche in der Feldberger Seenplatte) ganz klassisch ausgestattet: Altar, Bänke, Empore, alles da, so dass man ihr die Achteckigkeit kaum noch ansieht.
Die Besucher der Kirche hatten ohnehin andere Kritikpunkte, die sie mangels eines Gästebuchs auf ein DIN-A4-Blatt niedergeschrieben hatten. DIN-A4-Blätter an Kircheneingängen sind ein unterschätztes soziales Medium, denn immerhin verlief die Diskussion ganz ohne Content Moderator noch halbwegs höflich.
Eine Anmerkung zu den Aposteln: In den Darstellungen wird Judas Iskarioth verschwiegen und durch Petrus ersetzt, der aber nicht zum Kreis der Zwölfe gehörte
Kommentar: Aber zu den Aposteln!
Also wirklich, da müssen wir die Porträts aus dem 17. Jahrhundert auf der Empore aber dringend umändern, das geht ja gar nicht!

Ungewöhnlich ist auch, dass es nicht nur Gedenktafeln für die Weltkriege gibt, sondern auch für die Toten von Bismarcks Reichseinigungskriegen.
Ansonsten wurde in der Klugscheißerkirche noch ein Stück alte Uhrwerksmechanik zu einem Glastisch umgebaut, zumindest dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.
Die Rasthütten heute waren wahrscheinlich die architektonisch wertvollsten, die ich je gesehen habe. Der Architekt hat nicht nur eine Art Sanduhr aus Backstein zwischen die Balken gemauert, sondern auch jedes Mal einen extragroßen Backstein mit einem Reliefbild verziert, und zwar immer ein anderes, zum Beispiel eine Windmühle.
Am Dorfteich von Kuhlhausen steht hinter der coolen Hütte noch eine Outdoor-Bowlingbahn, die auch cool gewesen wäre, wenn denn auch coole Kugeln und Kegel dabeigewesen wären. "Kuhlhausen ist aufregend", behauptet das Schild. Na, mal sehen, ob ich hier noch was Aufregendes finde.
In den Hecken versteckt sich ein metallener Aussichtsturm. Ich dachte mir nichts weiter dabei und ging rein. Erst da erkannte ich, dass die Hecken rundherum einen Weidendom bilden, also eine natürliche Kirche aus Zweigen, die sich oben zu einem Gewölbe berühren. So, wie wir sie in Rostock auch hatten, ehe sie in Brand gesetzt wurde. Der Metallturm versucht, sich als Kirchturm in das Bauwerk einzufügen, indem er sich Netze mit Schlingpflanzen dran anzieht.
Als sich unser Vater der der Weide näherte, wurde Kuhlhausen endlich aufregend. Plötzlich schnappte ein sehr forsches Pferd nach seiner Jackentasche, in der es die Snacks roch. Obwohl er den Rest des Tages mit ca. 1 Liter Pferdesabber an der Jacke herumfahren musste, war er nicht sauer, das Mitleid mit dem offenbar ausgehungerten Tier überwog. Auf seiner Weide gab es nur noch Pflanzenstummel im Matsch.
Wenn wir ihm frische Grasbüschel hinhielten, schlang es die lautstark herunter wie ein Häcksler, als gäbe es kein Morgen mehr, oder als gäbe es morgen zumindest kein Gras mehr. (Wir haben nicht zum ersten Mal unterwegs Tiere gefüttert, deshalb können wir das durchaus mit anderen Pferden vergleichen.) Kauen und Schlucken hielt dieses Pferd für überbewertet. Kaum waren die Halme halb im Mund verschwunden, schwenkte es sofort zur nächsten Hand um und leerte auch diese. Die einzige Möglichkeit, der Stute eine halbwegs entspannte Mahlzeit zu ermöglichen, bestand darin, etwas über den Zaun auf die Weide zu werfen – es war schlau genug, um zu begreifen, dass dieses Gras nicht mehr wegrennen würde.
Kurz vorm Ende kommt die Dosse dazu, ein Brandenburgfluss ohne Radweg, den ich bislang namentlich nur vom Autobahnkreuz Wittstock kannte, was diesen Youtuber nicht davon abhielt, die Dosse per Rad zu entdecken.
Auf dem finalen straßenbegleitenden Deichradweg erreichen wir noch eine Vogelbeobachtungshütte. Die interessanteste Vogelbeobachtung machte unsere Mutter, indem sie die 1.) die Beobachtungshütte nicht betrat und 2.) in die komplett entgegengesetzte Richtung sah. Dort führten gerade zwei Kraniche einen Balztanz auf, um ein und dasselbe Weibchen zu beeindrucken. Die Dame zeigte sich unbeeindruckt und fraß einfach weiter. Wahrscheinlich praktizierte sie während der diesjährigen Balzzeit den Trend #boysober.
In der dunklen, einstöckigen Hütte hatten wir einen noch weiteren Blick über die sumpfigen Seen und Wiesen. (Der Frühling war so trocken, dass es sich vermutlich wirklich um dauerhafte Seen handelte und nicht um Frühlingshochwasser. Die Havel fließt da nicht durch, aber der NABU hat alte Rinnensysteme in den Wiesen wieder geöffnet, sodass frisches Wasser reinkommt.) Ich entdeckte in den Wiesen einen grauen Reiher mit besonders schwarzen Schwanzfedern, der so nirgends auf den Infotafeln abgebildet war (weder auf der von Kindern JuniorRangern noch auf der von Erwachsenen gezeichneten).
Um diesen Blick jedoch zu genießen, mussten wir zunächst die Fenster aufbekommen. Entweder schiebt man die kleinen Sichtklappen auf, welche das Hütteninnere zu etwa einem Prozent erhellen, oder man schafft es, das Flaschenzugsystem zu bedienen und die großen Fensterklappen zu öffnen. Wozu der Aufwand? Damit die Vögel weniger gestört werden? Das ständige laute Öffnen und Schließen ist doch bestimmt auch nicht ganz optimal für die. Die klebrigen Kreise an der Decke geben einen anderen Hinweis: Irgendwann wurden hier mal Schwalbennester entfernt. So groß ist die Vogelliebe (anders als in den Vogelhütten auf dem Zingst) dann wohl doch nicht, dass die Schwalben in der Hütte nisten dürfen. Während unsere Mutter uns Rufe und Vogelarten nahezubringen versuchte, interessierte sich der Jüngste mehr für die Mechanik des Flaschenzugssystems und lief nach unten, um zu sehen, wohin die Seile führten.