Ereignisse einer Elster-Expedition
4. Tag: Die Elstermündung
Trübe bricht der vierte Tag meiner Expedition an. Ich besteig zunächst den Gipfel der Bistumshöhe. Der Berg ist überraschend neu, den jungen Pflanzen nach muss er aus den 1990er Jahren stammen. Es ist einer der höchsten Berge im gesamten Gebiet der Leipziger Baggerseen, der steile, sandige Anstieg verlangt mir schier übermenschliche Kräf... oh, ich bin schon oben.
Der Imbiss auf dem Gipfel ist noch geschlossen. Doch schon aus der Ferne habe ich einen höchst eigenartigen Turm gesehen, der den Berg krönt. Im Wesentlichen besteht er nur aus einer Metalltreppe mit hölzernen Balken ringsherum. Diese lückenhaften Hölzer bilden aber keine Wand, und sie halten auch in keiner Weise den Wind oder Nieselregen ab. Ihr einziger Zweck besteht offenbar darin, dass das Bauwerk nicht einfach nur wie eine hässliche metallene Wendeltreppe aussieht. Ein durchaus nachvollziehbarer Grund.
Es bietet sich mir ein trüber, aber vollständiger Blick über die Baggerseelandschaft. Der Zwenkauer See, der Cospudener See (rechts) und oben der Himmel wetteifern um den grausten Farbton.
Daneben sollte sich der Elsterstausee (links) befinden, doch allem Anschein fließt die Elster gar nicht durch ihn hindurch. Dementsprechend ist er nur an der geringfügig helleren Vegetation zu erkennen. So kann es natürlich nicht funktionieren, den See zu befüllen - oder den Wettstreit um des grauste Grau zu gewinnen. Offenbar handelt es sich eher um eine Art Hochwasserpolder.
Ob sich mit dem Fernglas irgendwelche Spuren erkennen lassen, die verraten, was sich einst an der Stelle dieser künstlichen Landschaft befand? Nein, keine Ruinen, keine Spuren des Vergangenen. Doch da, mitten im Cospudener See schwimmt eine einsame Boje. Eine Schifffahrtsroute kann sie nicht markieren, die Ausflugsschiffe fahren anderswo über den See. Worauf weist sie also hin? Da fällt mir auf, das keiner der Vororte in der Umgebung den Namen Cospuden trägt. Woher also hat der See seinen Namen. Als ich in einem Archiv nach Cospuden suche, stoße ich auf ein Dokument. Ein gewisser Henricus von Kozebude soll 1216 in dem Dorf in einer Auenlandschaft gelebt haben, die wesentlich anmutiger war als Henricus' Nachname. Doch schlagartig sehen die Karten des Dorfes völlig anders aus: Um 1591 muss es vollkommen neu gebaut worden sein, mit Herrenhaus, einem bei den Leipziger Ausflüglern beliebten Gasthaus und einer Papiermühle, die später Teil der Landwirtschaftsproduktionsgenossenschaft Rosa Luxemburg werden sollte. Und dann Teil eines Braunkohletagebaus. Und dann eines Sees. Das braune Loch in der Landschaft rückte immer näher heran, und 1974 musste Cospuden endgültig weichen. Das Dorf sah vollkommen anders aus, war aber immer noch so klein wie 350 Jahre zuvor.
Und das einzige, was noch an seine Lage erinnert, ist eine orange Boje.
Auch die Landschaft zwischen den Seen, die sich Neue Harth nennt, fiel der Kohle zum Opfer. Doch die Pappeln, Kiefern, Rot- und Stieleichen, die ich entdecke, sehen schon recht alt aus. Ich zähle die Jahresringe eines gefallenen Baumes und komme zu dem Ergebnis, dass er bereits 1968 gepflanzt wurde. Kein Zweifel, die Bergbauunternehmen müssen mit der Aufforstung begonnen haben, als der Abbau nebenan im heutigen See noch auf Hochtouren lief!
Aber was ist das? Mitten in der Neuen Harth ragen Gebilde aus dem Wald. Sind da etwa... Schienen? Und eine Pyramide? Umgehend verlasse ich den Turm und begebe mich durch den Wald in diese Richtung.
Das Rätsel wird noch größer, als ich mich der mysteriösen Siedlung nähere. Ich trete durch ein blaues Eingangstor, das orientalische und undefinierbare Elemente vereint. Die Sonne bricht schlagartig hervor und beleuchtet eine außergewöhnliche Ansammlung historischer Gebäude, in denen niemand mehr zu leben scheint. Die Siedlung ist von kleinen verbundenen Seen durchdrungen und von recht überschaubarer Größe, aber ungewöhnlich gut erhalten - man könnte fast meinen, dies sei erst im frühen 21. Jahrhundert errichtet worden!
Schließlich beschließe ich, zuerst die Pyramide in Augenschein zu nehmen. Sie ist 31 Meter hoch - damit muss sie die höchste in ganz Europa sein! Wie kann es dann sein, dass ich noch niemals etwas von den sächsischen Pharaönen gehört habe? Ungehindert kann ich durch eine Tür ins Innere treten.
Die Hieroglyphen an der Wand sind unzweifelhaft ägyptisch. Doch als ich sie entschlüsseln will, kommt nur Kauderwelsch heraus: NEGNALHCS NEZRUK TIM REBA REUET, KRAPTIEZIERF RESSORGLETTIM RETTEN NIE TSI SITNALEB SAD. In keiner Sprache ergibt das einen Sinn. Ein Code vielleicht?
Einen Raum weiter wartet gleich die nächste, faustdicke Überraschung: Seit wann kannten die alten Ägypter das Geheimnis des Schwarzlichts? Und doch leuchtet die Kammer vollständig in grün, blau und rotbraun.
Doch das ist immer noch nicht das Verblüffendste. Mitten durch die Pyramide verläuft ein Wasserlauf, auf dem Boote verkehren. Da es zu Fuß nicht weitergeht, steige ich in eines davon ein. Es gleitet durch eine weitere Grabkammer, die nach einer Mischung aus Original und klischeehafter Zusammenstauchung der altägyptischen Kultur aussehen. Dann wird das Boot mit einem Mal in einer Art Aufzug angehoben, und eine Pharaonenmaske wirft mir hämisch lachend vor, ihren Schatz stehlen zu wollen. Kurz darauf wirft mich ein effektiver, jahrtausendealter Diebstahlschutz aus dem Bauwerk, den ich noch nie zuvor gesehen habe: Das Boot rauscht eine steile Rampe hinunter.
Der Wasserfall verwirbelt das Wasser auf dem See, und es bildet sich ein Strudel. Mein Boot wird hineingezogen und gerät unter die Wasseroberfläche, doch wie durch ein Wunder gelange ich lebend und nur leicht durchnässt wieder hinaus.
Ein neuer Versuch erscheint mir zu Riskant, daher versuche ich mein Glück im benachbarten Tempel. Hier kann ich den Inschriften zumindest entnehmen, dass er Amun-Ra geweiht ist. Dieser Tempel hat zwar keinen Bootskanal, dafür jedoch ein Schienensystem. Da ertönt mit einem Mal ein ratterndes Geräusch, und eine gigantische Kobra mit einem Durchmesser von fast zwei Metern rast in den Raum hinein! Doch es handelt sich nur um ein mechanisches Fahrzeug. Sollte dieses Schienensystem der mächtigen Priesterkaste ermöglichen, sich zur effektiven Verwaltung der Siedlung besonders schnell zu bewegen?
Doch nun wird erst wirklich rätselhaft. Nicht weit entfernt stoße ich auf einen weiteren Tempel mit steinernen Wänden, aber hölzernem Dach. Der Inschrift über dem Eingang zufolge ist er dem Sturm- und Feuergott Huracan geweiht, dem auch wir Europäer die Worte
Orkan und
Hurrikan verdanken. Allem Anschein nach entstammt der Tempel der Kultur der Maya. Von Nordafrika nach Südamerika in nicht einmal einem Kilometer?
Auch die Maya haben ein Schienensystem in ihrem Tempel verbaut. Verblüffend daran ist das Gefälle von 97 Grad, dieses dürfte das steilste in ganz Deutschland sein, anschließend überschlagen sich die Gleise andauernd in Form einer waagerechten Spirale. Ein Verkehrsmittel, um die Menschen morgens auf dem Weg zur Arbeit richtig wachzumachen?
Ich gehe einige Schritte in Richtung Nordosten und finde mich auf einer Insel wieder. Um den Park zu durchqueren, gehe ich zwischen zwei Hecken hindurch und finde mich in einem Irrgarten wieder, doch er ist geradezu lächerlich einfach zu durchqueren. Dahinter ragt eine Burg auf, erneut mit einem Schienensystem. Ihr Baustil ist mitteleuropäisch, um genau zu sein, britisch. Nanu?
Die flachen Seen zeigen keine Spuren des Bergbaus, eher scheint es sich um dekorative Stehgewässer zu handeln. Und nun fällt mir etwas auf: Ihre Form. Ich muss einmal durch das ganze Gelände laufen und einen Plan anfertigen, dann bin ich mir sicher: Die Form der Teiche entspricht den Ozeanen auf der Erde. Diese Stadt ist ein Miniaturnachbau unseres Planeten. Es ist unfassbar. Wie kann das sein?
Zu irgendeinem Zeitpunkt müssen überall auf der Welt kleine Gruppen begnadeter Wissenschaftler und Baumeister aus ungeklärten Gründen ihre Heimat verlassen haben und sich in Sachsen begegnet sein. Gemeinsam errichteten sie eine Stadt, in der ihre Kulturen aufeinandertrafen. Es sind keinerlei Beschädigungen zu erkennen, die auf Kriege oder gewaltsame Konflikte hindeuten. Und die Schienensysteme sind sich derart ähnlich, dass sie in Zusammenarbeit entwickelt worden sein müssen.
Dennoch bleiben tausende Fragen offen. Warum sind die Schienensysteme der einzelnen Kulturen dann trotz der kurzen Distanzen und engen Zusammenarbeit voneinander getrennt? Warum ist Tschechien nicht vertreten, obwohl es von allen ausländischen Kulturen die nächste ist? Zu viele Fragen, als ich sie allein auf einer einzigen Expedition beantworten könnte. Die Ruinen von Belantis (dieser Name tauchte wiederholt auf) dürften die interessanteste archäologische Fundstätte Deutschlands sein.
Nun fahre ich zwischen dem Cospudener See und der Elster gen Norden. Die Leipziger Baggerseen zeigen hier sogar doch noch ein freundliches Gesicht mit dem einen oder anderen kleinen strandähnlichen Zugang.
Kurz vor dem Stadtzentrum treffe ich auf den Nebenfluss Pleiße, der sich mit der Elster vereinigt. Die Pleiße mag nicht gerade der größte Fluss sein, doch vor 211 Jahren hatten sie und die Elster Einfluss auf die Weltgeschichte. Der feuchte Boden zwischen den Flüssen zeigt Spuren eines trockengelegten Flusses, und darin befindet sich: Munition. Viel Munition.
Am 16. Oktober 1813 sammelten sich Österreicher, Schweden, Russen und Preußen rund um Leipzig. Sie wollten Napoleon endgültig vernichten, der gerade geschlagen aus Russland kam, aber immerhin vor Ort die Sachsen auf seiner Seite hatte. Weil die Alliierten erst nach und nach eintrudelten, hatte zu Beginn der böhmische Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg (dessen Nachkomme übrigens bis 2013 Tschechiens Außenminister war) die meisten Soldaten. Und die Flüsse Leipzigs standen im Mittelpunkt seines Plans: Er wollte Soldaten in die sumpfige Niederung zwischen Elster und Pleiße senden, welche den rechten Flügel Napoleons umgehen und direkt ins Leipziger Zentrum vorstoßen. Das bedeutete aber, dass die alliierte Armee durch drei Flüsse und Sümpfe geteilt wurde. Zar Alexander war im Grunde damit einverstanden, schlug aber vor, lieber die Österreicher in den Sumpf zu schicken, womit Schwarzenberg kein Problem hatte.
Ganz so schnell funktionierte das mit dem Vorstoßen aber nicht. Das blutige Hin und Her erstreckte sich sich über vier Tage, bis Napoleon endlich am Leipziger Zentrum über die Elster floh. An der bis dahin größten Schlacht auf diesem Planeten nahmen 600 000 Menschen aus einem Dutzend Länder teil.
Die heftigsten Kämpf fanden weiter südöstlich der Flüsse statt, und deshalb soll dort der Schlacht gedacht werden. Über dem sogenannten Tränensee, zwischen grünen Wällen, ragt ein enormes steinernes Kuppelbauwerk auf, das in 91 Metern Höhe abrupt endet, als hätte jemand die Spitze abgeschnitten. Das ist der größte Denkmalbau Europas.
Der klotzige Koloss aus rotbraunen Blöcken und Treppen endete für mich abrupt an einer steinernen Tür. Die Plattform war im Moment nicht geöffnet. Das machte mir wenig aus, denn ich kannte schon vergleichbare germanische Kuppeln. Das Bauwerk erinnert nämlich sehr an die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler, die überall in Deutschland verteilt sind, denn es stammt aus derselben Zeit: 1889 begann der Bau.
Den äußeren Maßen zufolge müsste es etwa 120 000 Kubikmeter Stampfbeton sowie 26 500 Quader aus Granitporphyr enthalten. Die alle aufzustapeln, dauert seine Zeit, und so war man erst 1913 fertig. Also ein Jahr, bevor ein Krieg ausbrach, der der Völkerschlacht ihren Rekord wieder wegnehmen sollte. Womöglich hätte man doch mehr Zeit auf das eigentliche Gedenken statt auf das Denkmalbauen verwenden sollen.
Wo wir schon bei europäischen Rekorden sind: Leipzig hat auch Europas größten Kopfbahnhof. Dabei ist die Stadt durchaus keine Sackgasse, sondern seit Jahrhunderten Handelsstraßenkreuzung, Reichsmessestadt und Umschlagplatz zwischen West- und Osteuropa. Wichtigste Exportgüter waren Pelze, die erste Tageszeitung der Welt, Freiheit und Musik.
Schumann, Bach und Mendelssohn komponierten in Leipzig, letzterer gründete auch Deutschlands erste Musikhochschule.
Kein Wunder, dass das Alte Rathaus nicht mehr ausreichte, um solch eine Stadt zu verwalten - wie in Hannover wurde das Neue Rathaus so früh gebaut, dass es ebenfalls alt aussieht.
Die Straßen von Leipzig sind breit, aber noch viel höher. Irgendetwas an diesen geradlinigen Renaissanceschluchten verleitet dazu, ständig den Kopf in den Nacken zu legen und nach oben zu schauen. Zum Beispiel zum Turm der 850 Jahre alten Nikolaikirche. Die meisten Kirchen haben in diesem Alter den Höhepunkt ihrer Bedeutung lange überschritten, doch diese hier hatte erst vor recht kurzer Zeit Weltgeschichte geschrieben. Zeitzeugen sagen, dass sich 1982 darin zum ersten Mal Protestanten zum Friedensgebet trafen. Bald stellten sie fest, wer den Frieden maßgeblich bedrohte, und so wurden aus den Gebeten Montagsdemonstrationen und die Keimzelle einer Protestbewegung, die einen Staat zu Fall brachte. Ihr Motto Keine Gewalt ist in dieser Stadt besonders bemerkenswert. Was wohl die Generäle der Völkerschlacht dazu gesagt hätten?
All das macht Leipzig zu einer bedeutsamen Stadt. Aber aus irgendeinem Grund scheint es in der Selbstwahrnehmung der Stadt noch wichtiger zu sein, dass hier eine von Goethes dämlichsten Szenen spielt: Mephisto nimmt Faust in eine Spelunke namens Auerbachs Keller mit, wo sich Studenten mit bescheuerten Namen besaufen. Faust gefällt es dort ebenso wenig wie den heutigen Schülern, die das lesen müssen, aber erst nach vielen Seiten sinnfreiem Dialog wird er endlich erlöst, weil der Teufel kapiert, dass dem Nerd der Sinn eher nach Frauen als nach Alkohol steht. Ende.
Nun ist Auerbachs Keller aber inzwischen keine Studentenkneipe mehr, sondern offenbar ein gehobenes Restaurant für Deutschlehrer-Ehepaare in einem Einkaufszentrum. Davor stehen Statuen der Figuren, und auch in den Souvenirshops finden sich Fausts und Mephistos im Überfluss.
Weiter nordöstlich stoße ich auf einen weiteren Park. Die städtische Fauna umfasst hier nicht mehr nur Tauben und Enten, sondern auch Tiger und Elefanten. Der Privatzoo von 1877 einer der ältesten der Welt und erstreckt sich zum Teil unter einer gläsernen Halle. Was ist das? Schon wieder ein Kanal mit einem Boot? Sehr skeptisch steige ich ein, doch diesmal erwartet mich im Tunnel kein zorniger Pharao, sondern nur Wände, auf die unter dramatischen Melodien Bilder projiziert werden. Erstaunlich, was 1877 schon alles technisch möglich war!
So erfahre ich, dass der Urknall und die Evolution... also, das es die gab. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn ist nicht ganz so große wie die Effekte.
Auch der Zoo erinnert an Hannover. Und ebenso die Tatsache, dass ich die Stadt, wenn ich nur am Fluss bleibe, in einem grünen Gürtel bequem durchfahren kann, dann aber die Altstadt nicht zu Gesicht bekomme.
Im Norden Leipzigs treffen die Flüsse Parthe, Nahle und Luppe, und kurz vor einer eindrucksvollen Steinbrücke bilden sie eine Viererkreuzung. Bei so vielen Flüssen bleiben Hochwasser nicht aus, vor allem 1909 und 1954 schluckten die Flüsse mehrere Stadtteile. Schon 1892 entwickelten die Wasserbauingenieure Kohl und Georgie ein Konzept, um Leipzig zu schützen, mithilfe von Poldern und Flutbetten, während der Stadtkern gleichzeitig entsumpft wird. Und wie das oft so ist, brauchte es lediglich ein bis zwei mittelschwere Katastrophen, bis die Umsetzung dann auch tatsächlich ernsthaft begann.
Das Herzstück des Schutzkonzepts beginnt hinter der Flusskreuzung: Das Elsterbecken von 1922. 150 Meter breit und 2,5 Kilometer lang ist der rechteckigste Stausee, den ich je gesehen habe. (Die städtischen Chroniken enthalten eine Menge Zahlen, um genau zu sein, mehr Zahlen als Worte oder gar vollständige Sätze.)
Der grüne Gürtel setzt sich auch hinter den Stadtgrenzen fort, wird aber ein wenig eintöniger. Zunächst säumt noch ein Park mit Teich und winziger Kleinbahn das Ufer, schließlich beginnen lange Wälder. Wie viel Strecke ich zurückgelegt habe, kann ich nur anhand der Brücken messen. Die Elster ist ein zielstrebiger, stark begradigter Wasserlauf, aber wenigstens ohne Beton.
Archäologische Fundstücke gibt es hier nicht, also rase ich schnell vorwär... einen Moment, was ist das dort auf der Mauer?
Dicke Schriftzeichen schreien mir unverständliche Botschaften entgegen, aus denen ich auch nach langer Analyse nicht schlau werde. Ebenso rätselhaft sind die dargestellten Tiere, zum Beispiel ein hysterischer Igel oder ein Frosch, der unter dem Einfluss illegaler Drogen zu stehen scheint. Einen Urheber der geheimnisvollen Zeichnungen kann ich beim besten Willen nicht identifizieren. Einen
Schließlich wird der Weg am Ufer unpassierbar, und ich wechsle hinüber auf die Straße. Lange verläuft sie verkehrsreich und uninteressant nach Halle-Ammendorf hinein. Doch gegen Ende tauchen doch noch ein paar wenige Ruinen am Wegesrand auf. Eine davon (nicht im Bild) gehört, wie das eingemeißelte Symbol aus Gurten und einem Hufeisen verrät, zur Kultur der Sinti. Den Inschriften zufolge wurde darin der Sinto Josef Weinlich, Nauni genannt, im Jahre 1915 bestattet. Der dazugehörige Friedhof ist längst aufgelöst, doch das Mausoleum wurde belassen, da es das letzte Zeugnis der Sinti-Kultur in Halle ist.
Die Elster endet, wie sie begann: Mit Heilquellen. In Ammendorf identifiziere ich ein eindrucksvolles Gebäude unschwer als Altes Wasserwerk. Im Inneren erkenne ich sechs getrennte Kammern, den Rieseler I und den Schnellfilter I, die in der Konstruktionsweise um 1897 installiert worden sein müssten. Zum Filtern verwendete man dasselbe Material wie zum Bauen: Ziegelsteine. Nur wurden sie zum Filtern einfach locker aufgestapelt. Das diente der Belüftung und der Ausfällung von Eisen- und Manganoxid (von einigen wenigen auch Rost genannt).
Und genau wie zu Beginn meiner Expedition steht gleich neben den historischen Wasserhäusern ein Thermalbad, das noch in Gebrauch ist. Diesmal ist es deutlich größer als in Františkovy Lázně. Doch was ist das? Diese Muster und Kreise habe ich heute schon einmal gesehen. Das sind Zeugnisse der Maya. Nun, kein Wunder: Auf dem Weg von Südamerika nach Leipzig kommt man schließlich durch Halle. Einige der wandernden Maya müssen sich schon in Halle niedergelassen und erfolgreich zur städtischen Badekultur beigetragen haben.
In Ammendorf wird das Land noch einmal hügelig. Ich zwinge mich kopfsteingepflasterte Hügel hinauf, wo ich auf größere Wohnblocks und bequemere Wege stoße.
Irgendwo dort unten müsste die Elster in die Saale münden. Doch die Baumkronen verdecken die Fluss vollkommen. Selbst von der Aussichtsplattform ist nichts zu erkennen.
Das wäre ein unbefriedigender Abschluss, also versuche ich, über einen sandigen Waldweg weiter nach unten zu gelangen. Und tatsächlich, der Weg ist noch halbwegs befahrbar. Gleich müsste ich... aah! Ein stechender Schmerz durchfährt meinen Arm, und dann noch mein Bein, und meine Hand.
Die Aussichtsplattform hält mit gutem Grund einen gesunden Abstand - denn die gesamte Elstermündung befindet sich fest in der Hand eines großen, grausamen Mückenschwarms. Den ganzen Fluss haben die Menschen vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht, nur sein Ende befindet sich im festen, blutigen Griff der Natur. Obwohl ich nur ein einziges Foto knipse und anschließend umgehend fliehe, kostet mich dieser Abstecher mindestens einen Liter Blut. Glücklicherweise hat Halle-Ammendorf einen S-Bahnhof, sodass ich nur wenige Kilometer zurückfahren muss und dann die Blutzellen in Ruhe regenerieren kann.