NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

31 August 2024

Elster: Von Leipzig nach Halle

Ereignisse einer Elster-Expedition

4. Tag: Die Elstermündung

Trübe bricht der vierte Tag meiner Expedition an. Ich besteig zunächst den Gipfel der Bistumshöhe. Der Berg ist überraschend neu, den jungen Pflanzen nach muss er aus den 1990er Jahren stammen. Es ist einer der höchsten Berge im gesamten Gebiet der Leipziger Baggerseen, der steile, sandige Anstieg verlangt mir schier übermenschliche Kräf... oh, ich bin schon oben.
Der Imbiss auf dem Gipfel ist noch geschlossen. Doch schon aus der Ferne habe ich einen höchst eigenartigen Turm gesehen, der den Berg krönt. Im Wesentlichen besteht er nur aus einer Metalltreppe mit hölzernen Balken ringsherum. Diese lückenhaften Hölzer bilden aber keine Wand, und sie halten auch in keiner Weise den Wind oder Nieselregen ab. Ihr einziger Zweck besteht offenbar darin, dass das Bauwerk nicht einfach nur wie eine hässliche metallene Wendeltreppe aussieht. Ein durchaus nachvollziehbarer Grund.

Es bietet sich mir ein trüber, aber vollständiger Blick über die Baggerseelandschaft. Der Zwenkauer See, der Cospudener See (rechts) und oben der Himmel wetteifern um den grausten Farbton.
Daneben sollte sich der Elsterstausee (links) befinden, doch allem Anschein fließt die Elster gar nicht durch ihn hindurch. Dementsprechend ist er nur an der geringfügig helleren Vegetation zu erkennen. So kann es natürlich nicht funktionieren, den See zu befüllen - oder den Wettstreit um des grauste Grau zu gewinnen. Offenbar handelt es sich eher um eine Art Hochwasserpolder.
Ob sich mit dem Fernglas irgendwelche Spuren erkennen lassen, die verraten, was sich einst an der Stelle dieser künstlichen Landschaft befand? Nein, keine Ruinen, keine Spuren des Vergangenen. Doch da, mitten im Cospudener See schwimmt eine einsame Boje. Eine Schifffahrtsroute kann sie nicht markieren, die Ausflugsschiffe fahren anderswo über den See. Worauf weist sie also hin? Da fällt mir auf, das keiner der Vororte in der Umgebung den Namen Cospuden trägt. Woher also hat der See seinen Namen. Als ich in einem Archiv nach Cospuden suche, stoße ich auf ein Dokument. Ein gewisser Henricus von Kozebude soll 1216 in dem Dorf in einer Auenlandschaft gelebt haben, die wesentlich anmutiger war als Henricus' Nachname. Doch schlagartig sehen die Karten des Dorfes völlig anders aus: Um 1591 muss es vollkommen neu gebaut worden sein, mit Herrenhaus, einem bei den Leipziger Ausflüglern beliebten Gasthaus und einer Papiermühle, die später Teil der Landwirtschaftsproduktionsgenossenschaft Rosa Luxemburg werden sollte. Und dann Teil eines Braunkohletagebaus. Und dann eines Sees. Das braune Loch in der Landschaft rückte immer näher heran, und 1974 musste Cospuden endgültig weichen. Das Dorf sah vollkommen anders aus, war aber immer noch so klein wie 350 Jahre zuvor.
Und das einzige, was noch an seine Lage erinnert, ist eine orange Boje.

Auch die Landschaft zwischen den Seen, die sich Neue Harth nennt, fiel der Kohle zum Opfer. Doch die Pappeln, Kiefern, Rot- und Stieleichen, die ich entdecke, sehen schon recht alt aus. Ich zähle die Jahresringe eines gefallenen Baumes und komme zu dem Ergebnis, dass er bereits 1968 gepflanzt wurde. Kein Zweifel, die Bergbauunternehmen müssen mit der Aufforstung begonnen haben, als der Abbau nebenan im heutigen See noch auf Hochtouren lief!
Aber was ist das? Mitten in der Neuen Harth ragen Gebilde aus dem Wald. Sind da etwa... Schienen? Und eine Pyramide? Umgehend verlasse ich den Turm und begebe mich durch den Wald in diese Richtung.

Das Rätsel wird noch größer, als ich mich der mysteriösen Siedlung nähere. Ich trete durch ein blaues Eingangstor, das orientalische und undefinierbare Elemente vereint. Die Sonne bricht schlagartig hervor und beleuchtet eine außergewöhnliche Ansammlung historischer Gebäude, in denen niemand mehr zu leben scheint. Die Siedlung ist von kleinen verbundenen Seen durchdrungen und von recht überschaubarer Größe, aber ungewöhnlich gut erhalten - man könnte fast meinen, dies sei erst im frühen 21. Jahrhundert errichtet worden!
Schließlich beschließe ich, zuerst die Pyramide in Augenschein zu nehmen. Sie ist 31 Meter hoch - damit muss sie die höchste in ganz Europa sein! Wie kann es dann sein, dass ich noch niemals etwas von den sächsischen Pharaönen gehört habe? Ungehindert kann ich durch eine Tür ins Innere treten.

Die Hieroglyphen an der Wand sind unzweifelhaft ägyptisch. Doch als ich sie entschlüsseln will, kommt nur Kauderwelsch heraus: NEGNALHCS NEZRUK TIM REBA REUET, KRAPTIEZIERF RESSORGLETTIM RETTEN NIE TSI SITNALEB SAD. In keiner Sprache ergibt das einen Sinn. Ein Code vielleicht?
Einen Raum weiter wartet gleich die nächste, faustdicke Überraschung: Seit wann kannten die alten Ägypter das Geheimnis des Schwarzlichts? Und doch leuchtet die Kammer vollständig in grün, blau und rotbraun.

Doch das ist immer noch nicht das Verblüffendste. Mitten durch die Pyramide verläuft ein Wasserlauf, auf dem Boote verkehren. Da es zu Fuß nicht weitergeht, steige ich in eines davon ein. Es gleitet durch eine weitere Grabkammer, die nach einer Mischung aus Original und klischeehafter Zusammenstauchung der altägyptischen Kultur aussehen. Dann wird das Boot mit einem Mal in einer Art Aufzug angehoben, und eine Pharaonenmaske wirft mir hämisch lachend vor, ihren Schatz stehlen zu wollen. Kurz darauf wirft mich ein effektiver, jahrtausendealter Diebstahlschutz aus dem Bauwerk, den ich noch nie zuvor gesehen habe: Das Boot rauscht eine steile Rampe hinunter.

Der Wasserfall verwirbelt das Wasser auf dem See, und es bildet sich ein Strudel. Mein Boot wird hineingezogen und gerät unter die Wasseroberfläche, doch wie durch ein Wunder gelange ich lebend und nur leicht durchnässt wieder hinaus.

Ein neuer Versuch erscheint mir zu Riskant, daher versuche ich mein Glück im benachbarten Tempel. Hier kann ich den Inschriften zumindest entnehmen, dass er Amun-Ra geweiht ist. Dieser Tempel hat zwar keinen Bootskanal, dafür jedoch ein Schienensystem. Da ertönt mit einem Mal ein ratterndes Geräusch, und eine gigantische Kobra mit einem Durchmesser von fast zwei Metern rast in den Raum hinein! Doch es handelt sich nur um ein mechanisches Fahrzeug. Sollte dieses Schienensystem der mächtigen Priesterkaste ermöglichen, sich zur effektiven Verwaltung der Siedlung besonders schnell zu bewegen?

Doch nun wird erst wirklich rätselhaft. Nicht weit entfernt stoße ich auf einen weiteren Tempel mit steinernen Wänden, aber hölzernem Dach. Der Inschrift über dem Eingang zufolge ist er dem Sturm- und Feuergott Huracan geweiht, dem auch wir Europäer die Worte Orkan und Hurrikan verdanken. Allem Anschein nach entstammt der Tempel der Kultur der Maya. Von Nordafrika nach Südamerika in nicht einmal einem Kilometer?

Auch die Maya haben ein Schienensystem in ihrem Tempel verbaut. Verblüffend daran ist das Gefälle von 97 Grad, dieses dürfte das steilste in ganz Deutschland sein, anschließend überschlagen sich die Gleise andauernd in Form einer waagerechten Spirale. Ein Verkehrsmittel, um die Menschen morgens auf dem Weg zur Arbeit richtig wachzumachen?

Ich gehe einige Schritte in Richtung Nordosten und finde mich auf einer Insel wieder. Um den Park zu durchqueren, gehe ich zwischen zwei Hecken hindurch und finde mich in einem Irrgarten wieder, doch er ist geradezu lächerlich einfach zu durchqueren. Dahinter ragt eine Burg auf, erneut mit einem Schienensystem. Ihr Baustil ist mitteleuropäisch, um genau zu sein, britisch. Nanu?
Die flachen Seen zeigen keine Spuren des Bergbaus, eher scheint es sich um dekorative Stehgewässer zu handeln. Und nun fällt mir etwas auf: Ihre Form. Ich muss einmal durch das ganze Gelände laufen und einen Plan anfertigen, dann bin ich mir sicher: Die Form der Teiche entspricht den Ozeanen auf der Erde. Diese Stadt ist ein Miniaturnachbau unseres Planeten. Es ist unfassbar. Wie kann das sein?
Zu irgendeinem Zeitpunkt müssen überall auf der Welt kleine Gruppen begnadeter Wissenschaftler und Baumeister aus ungeklärten Gründen ihre Heimat verlassen haben und sich in Sachsen begegnet sein. Gemeinsam errichteten sie eine Stadt, in der ihre Kulturen aufeinandertrafen. Es sind keinerlei Beschädigungen zu erkennen, die auf Kriege oder gewaltsame Konflikte hindeuten. Und die Schienensysteme sind sich derart ähnlich, dass sie in Zusammenarbeit entwickelt worden sein müssen.
Dennoch bleiben tausende Fragen offen. Warum sind die Schienensysteme der einzelnen Kulturen dann trotz der kurzen Distanzen und engen Zusammenarbeit voneinander getrennt? Warum ist Tschechien nicht vertreten, obwohl es von allen ausländischen Kulturen die nächste ist? Zu viele Fragen, als ich sie allein auf einer einzigen Expedition beantworten könnte. Die Ruinen von Belantis (dieser Name tauchte wiederholt auf) dürften die interessanteste archäologische Fundstätte Deutschlands sein.

Nun fahre ich zwischen dem Cospudener See und der Elster gen Norden. Die Leipziger Baggerseen zeigen hier sogar doch noch ein freundliches Gesicht mit dem einen oder anderen kleinen strandähnlichen Zugang.

Kurz vor dem Stadtzentrum treffe ich auf den Nebenfluss Pleiße, der sich mit der Elster vereinigt. Die Pleiße mag nicht gerade der größte Fluss sein, doch vor 211 Jahren hatten sie und die Elster Einfluss auf die Weltgeschichte. Der feuchte Boden zwischen den Flüssen zeigt Spuren eines trockengelegten Flusses, und darin befindet sich: Munition. Viel Munition.
Am 16. Oktober 1813 sammelten sich Österreicher, Schweden, Russen und Preußen rund um Leipzig. Sie wollten Napoleon endgültig vernichten, der gerade geschlagen aus Russland kam, aber immerhin vor Ort die Sachsen auf seiner Seite hatte. Weil die Alliierten erst nach und nach eintrudelten, hatte zu Beginn der böhmische Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg (dessen Nachkomme übrigens bis 2013 Tschechiens Außenminister war) die meisten Soldaten. Und die Flüsse Leipzigs standen im Mittelpunkt seines Plans: Er wollte Soldaten in die sumpfige Niederung zwischen Elster und Pleiße senden, welche den rechten Flügel Napoleons umgehen und direkt ins Leipziger Zentrum vorstoßen. Das bedeutete aber, dass die alliierte Armee durch drei Flüsse und Sümpfe geteilt wurde. Zar Alexander war im Grunde damit einverstanden, schlug aber vor, lieber die Österreicher in den Sumpf zu schicken, womit Schwarzenberg kein Problem hatte.

Ganz so schnell funktionierte das mit dem Vorstoßen aber nicht. Das blutige Hin und Her erstreckte sich sich über vier Tage, bis Napoleon endlich am Leipziger Zentrum über die Elster floh. An der bis dahin größten Schlacht auf diesem Planeten nahmen 600 000 Menschen aus einem Dutzend Länder teil.

Die heftigsten Kämpf fanden weiter südöstlich der Flüsse statt, und deshalb soll dort der Schlacht gedacht werden. Über dem sogenannten Tränensee, zwischen grünen Wällen, ragt ein enormes steinernes Kuppelbauwerk auf, das in 91 Metern Höhe abrupt endet, als hätte jemand die Spitze abgeschnitten. Das ist der größte Denkmalbau Europas.

Der klotzige Koloss aus rotbraunen Blöcken und Treppen endete für mich abrupt an einer steinernen Tür. Die Plattform war im Moment nicht geöffnet. Das machte mir wenig aus, denn ich kannte schon vergleichbare germanische Kuppeln. Das Bauwerk erinnert nämlich sehr an die Kaiser-Wilhelm-Denkmäler, die überall in Deutschland verteilt sind, denn es stammt aus derselben Zeit: 1889 begann der Bau.
Den äußeren Maßen zufolge müsste es etwa 120 000 Kubikmeter Stampfbeton sowie 26 500 Quader aus Granitporphyr enthalten. Die alle aufzustapeln, dauert seine Zeit, und so war man erst 1913 fertig. Also ein Jahr, bevor ein Krieg ausbrach, der der Völkerschlacht ihren Rekord wieder wegnehmen sollte. Womöglich hätte man doch mehr Zeit auf das eigentliche Gedenken statt auf das Denkmalbauen verwenden sollen.

Wo wir schon bei europäischen Rekorden sind: Leipzig hat auch Europas größten Kopfbahnhof. Dabei ist die Stadt durchaus keine Sackgasse, sondern seit Jahrhunderten Handelsstraßenkreuzung, Reichsmessestadt und Umschlagplatz zwischen West- und Osteuropa. Wichtigste Exportgüter waren Pelze, die erste Tageszeitung der Welt, Freiheit und Musik.


Schumann, Bach und Mendelssohn komponierten in Leipzig, letzterer gründete auch Deutschlands erste Musikhochschule.
Kein Wunder, dass das Alte Rathaus nicht mehr ausreichte, um solch eine Stadt zu verwalten - wie in Hannover wurde das Neue Rathaus so früh gebaut, dass es ebenfalls alt aussieht.

Die Straßen von Leipzig sind breit, aber noch viel höher. Irgendetwas an diesen geradlinigen Renaissanceschluchten verleitet dazu, ständig den Kopf in den Nacken zu legen und nach oben zu schauen. Zum Beispiel zum Turm der 850 Jahre alten Nikolaikirche. Die meisten Kirchen haben in diesem Alter den Höhepunkt ihrer Bedeutung lange überschritten, doch diese hier hatte erst vor recht kurzer Zeit Weltgeschichte geschrieben. Zeitzeugen sagen, dass sich 1982 darin zum ersten Mal Protestanten zum Friedensgebet trafen. Bald stellten sie fest, wer den Frieden maßgeblich bedrohte, und so wurden aus den Gebeten Montagsdemonstrationen und die Keimzelle einer Protestbewegung, die einen Staat zu Fall brachte. Ihr Motto Keine Gewalt ist in dieser Stadt besonders bemerkenswert. Was wohl die Generäle der Völkerschlacht dazu gesagt hätten?

All das macht Leipzig zu einer bedeutsamen Stadt. Aber aus irgendeinem Grund scheint es in der Selbstwahrnehmung der Stadt noch wichtiger zu sein, dass hier eine von Goethes dämlichsten Szenen spielt: Mephisto nimmt Faust in eine Spelunke namens Auerbachs Keller mit, wo sich Studenten mit bescheuerten Namen besaufen. Faust gefällt es dort ebenso wenig wie den heutigen Schülern, die das lesen müssen, aber erst nach vielen Seiten sinnfreiem Dialog wird er endlich erlöst, weil der Teufel kapiert, dass dem Nerd der Sinn eher nach Frauen als nach Alkohol steht. Ende.

Nun ist Auerbachs Keller aber inzwischen keine Studentenkneipe mehr, sondern offenbar ein gehobenes Restaurant für Deutschlehrer-Ehepaare in einem Einkaufszentrum. Davor stehen Statuen der Figuren, und auch in den Souvenirshops finden sich Fausts und Mephistos im Überfluss.


Weiter nordöstlich stoße ich auf einen weiteren Park. Die städtische Fauna umfasst hier nicht mehr nur Tauben und Enten, sondern auch Tiger und Elefanten. Der Privatzoo von 1877 einer der ältesten der Welt und erstreckt sich zum Teil unter einer gläsernen Halle. Was ist das? Schon wieder ein Kanal mit einem Boot? Sehr skeptisch steige ich ein, doch diesmal erwartet mich im Tunnel kein zorniger Pharao, sondern nur Wände, auf die unter dramatischen Melodien Bilder projiziert werden. Erstaunlich, was 1877 schon alles technisch möglich war!
So erfahre ich, dass der Urknall und die Evolution... also, das es die gab. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn ist nicht ganz so große wie die Effekte.

Auch der Zoo erinnert an Hannover. Und ebenso die Tatsache, dass ich die Stadt, wenn ich nur am Fluss bleibe, in einem grünen Gürtel bequem durchfahren kann, dann aber die Altstadt nicht zu Gesicht bekomme.

Im Norden Leipzigs treffen die Flüsse Parthe, Nahle und Luppe, und kurz vor einer eindrucksvollen Steinbrücke bilden sie eine Viererkreuzung. Bei so vielen Flüssen bleiben Hochwasser nicht aus, vor allem 1909 und 1954 schluckten die Flüsse mehrere Stadtteile. Schon 1892 entwickelten die Wasserbauingenieure Kohl und Georgie ein Konzept, um Leipzig zu schützen, mithilfe von Poldern und Flutbetten, während der Stadtkern gleichzeitig entsumpft wird. Und wie das oft so ist, brauchte es lediglich ein bis zwei mittelschwere Katastrophen, bis die Umsetzung dann auch tatsächlich ernsthaft begann.

Das Herzstück des Schutzkonzepts beginnt hinter der Flusskreuzung: Das Elsterbecken von 1922. 150 Meter breit und 2,5 Kilometer lang ist der rechteckigste Stausee, den ich je gesehen habe. (Die städtischen Chroniken enthalten eine Menge Zahlen, um genau zu sein, mehr Zahlen als Worte oder gar vollständige Sätze.)

Der grüne Gürtel setzt sich auch hinter den Stadtgrenzen fort, wird aber ein wenig eintöniger. Zunächst säumt noch ein Park mit Teich und winziger Kleinbahn das Ufer, schließlich beginnen lange Wälder. Wie viel Strecke ich zurückgelegt habe, kann ich nur anhand der Brücken messen. Die Elster ist ein zielstrebiger, stark begradigter Wasserlauf, aber wenigstens ohne Beton.


Archäologische Fundstücke gibt es hier nicht, also rase ich schnell vorwär... einen Moment, was ist das dort auf der Mauer?
Dicke Schriftzeichen schreien mir unverständliche Botschaften entgegen, aus denen ich auch nach langer Analyse nicht schlau werde. Ebenso rätselhaft sind die dargestellten Tiere, zum Beispiel ein hysterischer Igel oder ein Frosch, der unter dem Einfluss illegaler Drogen zu stehen scheint. Einen Urheber der geheimnisvollen Zeichnungen kann ich beim besten Willen nicht identifizieren. Einen 

Schließlich wird der Weg am Ufer unpassierbar, und ich wechsle hinüber auf die Straße. Lange verläuft sie verkehrsreich und uninteressant nach Halle-Ammendorf hinein. Doch gegen Ende tauchen doch noch ein paar wenige Ruinen am Wegesrand auf. Eine davon (nicht im Bild) gehört, wie das eingemeißelte Symbol aus Gurten und einem Hufeisen verrät, zur Kultur der Sinti. Den Inschriften zufolge wurde darin der Sinto Josef Weinlich, Nauni genannt, im Jahre 1915 bestattet. Der dazugehörige Friedhof ist längst aufgelöst, doch das Mausoleum wurde belassen, da es das letzte Zeugnis der Sinti-Kultur in Halle ist.

Die Elster endet, wie sie begann: Mit Heilquellen. In Ammendorf identifiziere ich ein eindrucksvolles Gebäude unschwer als Altes Wasserwerk. Im Inneren erkenne ich sechs getrennte Kammern, den Rieseler I und den Schnellfilter I, die in der Konstruktionsweise um 1897 installiert worden sein müssten. Zum Filtern verwendete man dasselbe Material wie zum Bauen: Ziegelsteine. Nur wurden sie zum Filtern einfach locker aufgestapelt. Das diente der Belüftung und der Ausfällung von Eisen- und Manganoxid (von einigen wenigen auch Rost genannt).
Und genau wie zu Beginn meiner Expedition steht gleich neben den historischen Wasserhäusern ein Thermalbad, das noch in Gebrauch ist. Diesmal ist es deutlich größer als in Františkovy Lázně. Doch was ist das? Diese Muster und Kreise habe ich heute schon einmal gesehen. Das sind Zeugnisse der Maya. Nun, kein Wunder: Auf dem Weg von Südamerika nach Leipzig kommt man schließlich durch Halle. Einige der wandernden Maya müssen sich schon in Halle niedergelassen und erfolgreich zur städtischen Badekultur beigetragen haben.

In Ammendorf wird das Land noch einmal hügelig. Ich zwinge mich kopfsteingepflasterte Hügel hinauf, wo ich auf größere Wohnblocks und bequemere Wege stoße.

Irgendwo dort unten müsste die Elster in die Saale münden. Doch die Baumkronen verdecken die Fluss vollkommen. Selbst von der Aussichtsplattform ist nichts zu erkennen.

Das wäre ein unbefriedigender Abschluss, also versuche ich, über einen sandigen Waldweg weiter nach unten zu gelangen. Und tatsächlich, der Weg ist noch halbwegs befahrbar. Gleich müsste ich... aah! Ein stechender Schmerz durchfährt meinen Arm, und dann noch mein Bein, und meine Hand.

Die Aussichtsplattform hält mit gutem Grund einen gesunden Abstand - denn die gesamte Elstermündung befindet sich fest in der Hand eines großen, grausamen Mückenschwarms. Den ganzen Fluss haben die Menschen vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht, nur sein Ende befindet sich im festen, blutigen Griff der Natur. Obwohl ich nur ein einziges Foto knipse und anschließend umgehend fliehe, kostet mich dieser Abstecher mindestens einen Liter Blut. Glücklicherweise hat Halle-Ammendorf einen S-Bahnhof, sodass ich nur wenige Kilometer zurückfahren muss und dann die Blutzellen in Ruhe regenerieren kann.

30 August 2024

Elster: Von Wünschendorf nach Leipzig

Ereignisse einer Elster-Expedition

3. Tag: Das Elstertal

Den dritten Tag beginne ich in der Klosterstadt Wünschendorf, deren Holzbrücke von 1786 auch mit dem Straßenverkehr des Jahres 2024 n. Chr. zurechtkommt. Rostige Signalanlagen lassen unschwer erkennen, dass auf einem kurzen Abschnitt des Uferwegs einst eine Bahntrasse verlaufen sein muss. Rätsel dagegen gibt mir ein Eimer auf, den jemand in eine Baumkrone gehängt hat - ein obskures Ritual? Hoffen die Wünschendorfer, mit dem Tankwasser wieder Dampflokomotiven anzulocken?


Die Berge flachen allmählich ab und hüllen sich in Nebel. Das ist weniger spektakulär als gestern, dafür komme ich zügig voran. Auch die nächste Stadt ist dementsprechend nur noch leicht hügelig.

Auf direktem Wege erreiche ich die Parks von Thüringens drittgrößtem Ort.

Gera, das Tor zum Vogtland und kleine Zentrum im Osten des Bundeslandes, gibt mir sogleich ein erstes archäologisches Rätsel auf: Was bedeuten nur diese mysteriösen Metallarbeiten im Boden? Gebeugte Menschen mit Flöten oder obskuren Geräten mit Rädern? Ich kann den Sinn nicht entschlüsseln. Wenn ich diese Stadt begreifen will, muss ich tiefer gehen.

Vor dem Renaissance-Rathaus zeigt eine Skulptur den starken Löwentöter Simson aus der Bibel. Der Brunnen zeigt Spuren einer Zerstörung und Reparatur, vermutlich durch ein Unwetter, die ungefähr Anfang der 1930er Jahre passiert sein muss. Aber ein paar neuere Betonblöcke zeigen bei genauerem Hinsehen auch Spuren moderner Verarbeitung, die so erst in den 70er Jahren entstanden sein kann. Offenbar ist Simson eine derart beliebte und politisch neutrale Figur, dass er sämtliche Ideologie- und Regimewechsel überstanden hat. Nun, immerhin trug er denselben Namen wie das Motorrad der Deutschen Demokratischen Republik. Und den Studentenbewegungen jener Zeit müsste er durch seine Langhaarfigur sympathisch gewesen sein.

In Gera herrschen lose Sitten, die Geschäfte rufen aktiv zur Untreue auf: Betrüge doch dein Handy mal ab und zu mit einem Buch!
Die Altstadt besteht aus Villen, Spuren des Wohlstands und der reichen Textilindustrie Geras. Ich steige eine Treppe hinauf und finde mich hinter der Kirche St. Salvator wieder.

Mir springt ein Steingebäude ins Auge, das deutlich älter wirkt als seine Umgebung. In der Tat: Das Schreibersche Haus überstand als einziges Stadtbrand von 1780, der Kaufmann hatte sein Geld gut verbaut. Das Haus diente bereits Stadtgericht, Bürgerschule, Museum, Zucht- und Waisenhaus.
Was mag sich hinter dieser versteckten Tür auf der Rückseite befinden? Neugierig ziehe ich daran; sie ist offen.

Ich trete in kühle, feuchte Gänge. Im Keller des Schreiberschen Hauses scheint sich ein Zugang in noch tiefere Tiefen zu verbergen. Als ich in den Schacht hineinblicke, spricht mich ein Mann an. Es ist der Wächter, Fremdenführer und Experte für die Gerschen Höhler.
Diesen Namen sollte ich wohl kurz erklären. Höhler ist ein Kofferwort aus Höhle und Keller. Und Gersche ist das korrekte Adjektiv zur Stadt Gera. Deren Einwohner haben nämlich erkannt, dass es bei einem Namen auf -a selten dämlich klingt, die Silbe -er anzuhängen. Völlig richtig, davon sollte sich die Gothsche Versicherung mal eine Scheibe abschneiden!
Die Gerschen Bürger also hatten extra Bergleute aus den nahen Bergwerken angeheuert, die mit solchen kleinen Schächten unter ihrer Stadt Höhler ausgehoben. Aber wozu?

16.-18. Jahrhundert, Bierlagerung, 5-12 m, insg. 230, 9-12 Grad und 80-100 Prozent Luftfeuchtigkeit
in Stadt stabiler Zechstein, an Elster auch Gips, Gera lag am Rand des Zechsteinmeers

Ganz einfach, erklärte mir der Wächter der Höhler, und deutete in eine Nische: Je tiefer man obergäriges Bier lagert, umso mehr steigen Geschmack, Haltbarkeit und Preis. Einige Meter Höhe können da schon den Unterschied zwischen hochwertigem Höhlerbier und günstigem Kellerbier machen. Ich messe 9 bis 12 Grad und 80 bis 100 Prozent Luftfeuchtigkeit in den Gängen, anscheinend artgerechte Bedingungen für Hopfen und Malz.

Als die ersten Fässer auf ihrer hölzernen Rampe in diese Gänger hinunterrollten, war Bier freilich noch nicht das kultivierte fünfprozentige Genussmittel für Fußballfans und Studenten, das es heute ist. Es war im Grunde eine wässrige Flüssigkeit für alle von 2 bis 39 Jahren (die damals übliche Altersspanne) die durch das Brauen minimal besser schmeckte als Wasser und erheblich seltener krank machte.

Seit 1487 genossen die Gerschen Bürger ein Brauprivileg: Im Gegensatz zum Umland durfte in seinem Haus Bier produzieren. Natürlich nicht selbst, dafür hatte man schließlich extra Brauknechte. Aber mit diesem Recht kamen auch staatsbürgerliche Pflichten: Wenn ein Bierbürger mit dem Reiheschank an der Reihe war, musste er einen Tag lang diesen Holzstab vor sein Haus hängen und sein Bier an alle, die es wollten, verkaufen. In der Bierstadt gab es keine klassischen Wirtshäuser, sondern eine Art rotierende Kneipe.
Für dieses alkoholische Privileg führten die Gerschen sogar Bierkriege gegen ihre Nachbarn, die auch gern selbst gebraut hätten, statt für das Bier in der Stadt zu bezahlen.
Die Ironie besteht nun darin, dass sich die Brauereien heute alle im Umland befinden und Gera beliefern. Erst seit Kurzem gibt es wieder ein Gasthaus innerhalb der Stadtgrenzen, das selbst ein bisschen was braut und so die Ehre der einstigen Bierstadt halbwegs rettet.

Immer tiefer drangen wir in die verwinkelten Gänge ein, stiegen stufen hinauf und wieder hinunter. Schließlich hingen sogar kleine Tropfsteine von der Decke. Spuren von Stützpfeilern oder gar Einstürzen kann ich nicht entdecken. Kein Wunder: Dieser Zechstein sitzt fest. Etwa 250 Millionen Jahre, bevor Gera das Brauprivileg erhielt, hatte die nichtexistierende Stadt Gera ein anderes Privileg: Sie lag am Meer. Am Rande des Zechsteinmeeres, dessen Spuren ich bereits aus dem Bergwerk von Merkers kenne.
Je weiter wir uns aber vom Stadtzentrum entfernen und der Elster nähern, umso mehr mischen sich andere Anteile wie Gips unter den Zechstein, und ich vertraue dem Gestein zusehends weniger. Wir gehen also nicht allzu weit in diese Richtung - dort unten am Fluss dürften Stützpfeiler tatsächlich nötig gewesen sein.

Unsere Teufe schwankt zwischen 5 und 12 Metern unter der Erde. Nie fühle ich mich wie in einer Höhle, wenn das Gewicht der Steine über meinem Kopf übermächtig zu werden scheint - im Gegenteil, oft kann ich kaum sagen, ob ich gerade in einem Keller bin oder doch tiefer. Die Bürger kümmerten sich nicht um Grundstücksgrenzen und gruben ihre Höhler kreuz und quer unter die Stadt, über, unter oder neben denen ihrer Nachbarn. Kam es einmal zu einem Durchbruch beim Nachbarn, so grüßte man höflich und mauerte das Loch wieder zu. Auch heute sind die meisten Privatbesitz und nicht miteinander verbunden, nur während einer besonderen Veranstaltung kann man sie alle besichtigen. Die Höhler scheinen auch ein Symbol des Individualismus und der distanzierten Gesellschaft Deutschlands zu sein.
Aber weil ein zusammenhängendes Kellerlabyrinth unter der Stadt aus touristischer Sicht einfach aufregender ist, wurden unter dem Schreiberschen Haus mehrere Höhler durch gezielte Durchbrüche miteinander verknüpft.

Auf diese Weise entstand jenes Muster, das der Höhlerwächter sorgfältig in einen Stadtplan eingezeichnet hat. Gelegentlich kommen immer wieder neu entdeckte Höhler dazu. Und die Karte verbirgt noch ein weiteres Rätsel. Vor lange Zeit, so erzählt er, haben einige Chinesinnen seinen Plan betrachtet. Auf einmal seien sie tiefrot geworden und haben verschämt weggesehen. Bis heute suche er jemanden, der genug Chinesisch spreche, um das mysteriöse Schriftzeichen irgendwo auf seiner Karte zu finden und zu übersetzen. Doch er hat bereits eine Hypothese: "Muss Schweinkram gewesen sein."
Zum Abschied wird mir noch ein Einmachglas mit Gemüse angeboten - gut abgelagert seit den 60er Jahren. Ich lehne dankend ab.

Mir steht der Sinn eher nach der Gerschen Fettbemme, einem traditionellen Schmalzbrot, das in einigen Berichten als Attraktion der Stadt beworben wird. Doch auf Nachfrage in einem Café erfahre ich, dass es sie nur noch in einem Wirtshaus gibt, das erst abends öffnet.
So verrate ich gewissermaßen das Erbe der Stadt, indem ich indischen Reis esse und Bier aus dem Umland trinke (aus Bad Köstritz an der Elster, eine der ältesten Schwarzbierbrauereien Deutschlands).

Im Norden der Stadt wurde einiges nachträglich barockisiert, etwa der Küchen- und Nutzgarten von 1631. Spuren kürzlicher Veränderungen deuten darauf hin, dass er erst vor weniger als 20 Jahren in seinen barocken Zustand zurückversetzt wurde. Ob das etwas damit zu tun hat, dass hier die Bundesgartenschau 2007 stattfand? Höchstwahrscheinlich.

Auch die Marienkirche wurde nachträglich barockt. Das ursprüngliche Fundament ist erkennbar kleiner, hier muss eine Kapelle zur Pfarrkirche hochgestuft worden sein. Das dürfte mit dem starken Bevölkerungsanstieg zusammenhängen.
Über der Kirche ragt Osterstein auf, ein weiteres Residenzschloss der Reußen. Nur der Bergfried, die Wolfsbrücke und Wirtschaftsgebäude stehen noch, eine Folge von Luftangriffen des 2. Weltkriegs.

An der Elster leben keine Elstern, sondern Schwäne. Weiß und bedrohlich stehen sie am Wegesrand und weichen keinen Meter zurück. Da diese Kreaturen einem Menschen durchaus den Arm brechen können, halte ich lieber Abstand.

Eine weiteres historisches Brückenbauwerk ist die Crossener Elsterbrücke oder Siebenbogenbrücke aus dem Jahr 1904. Mit besonderer Verblüffung erfüllt mich die immer noch funktionierende Ampel von 1904. Einem Gedenkstein zufolge verhinderten zwei Männer, die beide Paul hießen, 1945 die Sprengung der Brücke.

Abermals bezwinge ich ein paar Hügel, und oben verlasse ich Thüringen. Und zwar vorerst für immer. Mich erwartet ein neues Bundesland, das noch mehr Flüsse als nur die Gera bereithält.
Und Querrinnen.
Die Abflussrinnen für Regenwasser durchziehen den Radweg und halten mich davon ab, die volle Geschwindigkeit aus diesem Hügel herauszuholen.

Die nächste Stadt ist nicht mit Greiz zu verwechseln: Zeitz. Ein Uferweg mit Kreidezeichnungen führt mich durch einen leicht heruntergekommenen Park.

Die älteste Chronik erzählt, dass im Jahr 968 Bischof Hugo erschien, um die Slawen zu christianisieren. Doch den Bischöfen gefiel es hier derart gut, dass sie einfach blieben und herrschten, bis sie die Religionskriege 1564 hinwegfegten. Die neuen weltlichen Herrscher taten erst einmal das, was sie am besten konnten: Teilen. Also nicht ihr Geld, sondern wieder mal ihr Herrschaftsgebiet unter ihren Erben. Das Herzogtum Zeitz-Sachsen ging an den jüngsten Sohn Moritz, und der errichtete sich erst einmal ein bescheidenes frühbarockes Einfamilienschloss mit Lustgarten. Der Dom im Inneren sieht deutlich älter aus, Moritz muss ihn einfach in sein Schloss Moritzburg eingemauert haben.
Einen Moment mal, Moritzburg? Ist das etwa dieses sächsische Schloss, wo Aschenbrödel gefilmt... nee, das liegt ganz woanders bei Dresden. Dieses Schloss enthält nur ein Kinderwagenmuseum. Anscheinend hatte Moritz viele Kinder - damit die Teilungen auch ja weitergingen!

Aus Zeitz kamen Kinderwagen, Klaviere, Briketts und Maschinen, seit der Wende dagegen nur Schokolade und Zucker. Touristische Schriften schreiben daher, die Stadt habe endlich ihren "Ruf als braune Industriestadt" verloren. Aber die Objektivität dieser Texte ist sehr zweifelhaft. Es könnte sich um eine Beschönigung der Deindustrialisierung handeln, und außerdem: Was ist brauner als Schokolade?

Auch unter den Straßen von Zeitz befindet sich ein Bierlagerynth: Das Unterirdische Zeitz. Diese Gänge sind fest verschlossen und nur nach vereinbartem Termin zu besichtigen. Grund dafür ist eine neuere historische Entwicklung: Personalmangel.
Macht nichts. Schließlich sind auch einige oberirdische Häuser in unterirdischem Zustand.

Mithilfe eines standortfixierten Messgeräts stelle ich einen Wasserstand von, ähm, 888 Zentimetern fest, Tendenz steigend, Alarmstufe 1.

Am Waldrand von Zangenberg fallen mir ungewöhnliche hölzerne Bauwerke auf. Es scheint, als hätten findige Biologen hier eine Möglichkeit geschaffen, die einzelnen Stockwerke des Waldes zu studieren. Baumwipfelpfade, die in die Wipfelzone vordringen, sind ja an verschiedenen Orten anzutreffen, doch hier wurden einzelne Pfade für Zweig-, Wipfel- und Wurzelzone angelegt. Letzterer besteht im Grunde nur aus ebenerdigen Zäunen.
Die Biologen haben auch Schriften über die Tierarten zurückgelassen, die hier zu beobachten sind. Die Rote Waldameise betiteln sie als Waldschutzpolizisten, und zwar weil ein mittelgroßes Volk 10 000 000 gefundene Insekten am Tag frisst. Ich empfinde diese Bezeichnung als etwas seltsam - seit wann ist es Aufgabe der Polizei, auf der Straße gefundene Leichname zu verspeisen? Vermutlich kennt nicht einmal im das neue Bayrische Landespolizeigesetz eine entsprechende Befugnisnorm. Waldbestatter, Waldmüllabfuhr oder Waldaasgeier trifft es schon eher.

In der Zweigzone ist es bereits merklich heller als in der Wurzelzone. Die Erbauer haben hier eine höchst ungewöhnliche Doppelreihe an Bäumen ausgewählt: Unten sind sie zusammengewachsen und streben oben gabelförmig auseinander. Vermutlich resultiert dieser Wuchs aus einer historischen Heckenanpflanzung, die irgendwann nicht mehr verschnitten wurde.
Auf den Zweigen ist die Gelbhalsmaus zu beobachten, zu erkennen an ihrer Fellfarbe, die ein gelbes Halsband. Sie wiegt so viel wie eine halbe Tafel Schokolade, frisst aber trotzdem auch kleine Wirbeltiere. Wie winzig müssen diese Wirbeltiere wohl sein? Kein Wunder, dass ich sie nicht sehen kann.

Am Ufer finden sich gelegentlich Spuren eines Hochwassers, das etwa 10 Jahre zurückliegen muss. Chroniken besagen, dass während des Hochwassers von 2013 praktisch immer entweder Sand oder Säcke fehlten, was das Aufstapeln nicht unbedingt leichter machte. Eigentlich war eine Evakuierung angeordnet, doch die Menschen stapelten erfolgreich weiter.

Am nächsten Wald prangte plötzlich ein unheilvolles Schild: Aggressiver Vogelangriff - betreten auf eigene Gefahr!
Die sächsischen Vögel müssen es faustdick hinter den Federn haben. Welche Vogelart soll das überhaupt sein? Vielleicht eine weiße Elster? (Ihr wissenschaftlicher Name lautet nicht ohne Grund Pica pica.) Aber kann sie gefährlicher sein als die Mecklenburger Möwen? Fast ausgeschlossen. Ich schnalle meinen Helm fest, dann rase ich durch den Wald, ohne abzusteigen. Und ohne eine einzige Vogelbegegnung. Womöglich ist der Sächsische Terrorvogel (auch bekannt als Vogel Rökh) doch eher ins Reich der Legenden zu verweisen.

In den diesigen Abendstunden komme ich schließlich am Zwenkauer See an. Er ist ganz offensichtlich unnatürlich, dafür brauche ich nicht einmal die riesigen rostigen Schaufeln ansehen, die hier zurückgelassen wurden. Zusammen mit einer kleinen Chronik des Tagebaus. 1922 erhielt die Aktiengesellschaft die Genehmigung, hier Braunkohle ans Tageslicht zu holen. Doch die Kohle floss nur holprig. Zuerst zerstörte ein Orkan die Abraumförderbrücke, als würde sich die Erde selbst gegen ihre Verletzung wehren, dann nahm die sowjetische Armee die Geräte als Reparationsleistung mit, gab sie aber schließlich doch zurück, als sie erkannte, dass ihre neue Kolonie ja auch irgendwie aus dem Tee kommen musste.
Trotz dieser Stolpersteine war 2007 ein Loch entstanden, und die Elster stand vor der immensen Aufgabe, es zu fluten. Laut der Chronik misst der See 1000 Fußballfelder. Hier wird immer noch mit der Mathematik des Galileo RTLi gerechnet.
Es ist ein abweisender, grauer See, hinter den Zäunen reiht sich Verbotsschild an Verbotsschild, denn alles ist noch Bergbaugebiet.

Das Fluten durfte die Elster gen übernehmen, ansonsten war sie unerwünscht und wurde zur Seite verlegt. Für einige Kilometer fahre ich auf der Straße neben diesem neuen Flussbett her, auch wenn es nur auf der Brücke gut zu erkennen ist. Das ist womöglich auch besser so. Dieser Fluss ist schnurgerade, einbetoniert und ungefähr so ästhetisch wie ein Parkhaus.

Selbst der Wasserfall an der Gefällestufe, die einen Höhenunterschied ausgleichen soll, kann da nicht viel retten. Das Wasser rauscht nach unten und bricht sich dann an einigen bogenförmigen Betonschwellen. Eilig sprudelt die Elster darum herum, als wollte sie selbst so schnell wie möglich von hier verschwinden. Verständlich.
Vermutlich hatten meine Eltern recht: Das Leipziger Baggerseenland ist hässlich. Oder gibt es doch noch Ausnahmen? Das werde ich morgen sehen.