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01 August 2023

WHH: Von Hann. Münden nach Göttingen

Zwischen der Leine und der parallelen Weser gibt es mehrere Querverbindungen, von Elze nach Hameln zum Beispiel oder am Steinhuder Meer.

Die erste und möglicherweise schönste Querverbindung verläuft auf dem Weser-Harz-Heide-Radweg zwischen Göttingen und Hann. Münden. Diese Strecke von etwa 40 Kilometern sind wir hin- und zurückgefahren, um die Weser kennenzulernen. Wir erkundeten die Stadt einige Stunden lang und radelten dann zurück, bevor es dunkel wurde. Hann. Münden und die Weser gefielen uns ausgesprochen gut, und daher beschlossen wir: Irgendwann fahren wir auch mal den Weserradweg.

In Hann. Münden aus folgten wir kurz dem rechten Werra- und Weserufer entlang der Hauptstraße, vorbei an der Jugendherberge und der niedersächsischen Polizeiakademie. An der dicken Dorfkirche von Gimte bogen wir rechts ab.

Dort wurde es erstmal ein bisschen steil. Wir müssen die erste Hügelkette überwinden, um das Wesertal zu verlassen. Der Radweg und die Hauptstraße folgen dabei einem schmalen Einschnitt, den die Schede geschaffen hat, ein Bach, der zur Weser plätschert.

Dann begegnen wir einer ehemaligen Bahntrasse. Hier wurde sie mit glatten Betonplatten belegt. Sogar alte Signalanlagen stehen noch daneben. Schnurgerade zieht sich der Weg durch Wälder in ein enges Tal. Einfach ein fabelhafter Radweg, besonders für Bahnliebhaber.

Das ist der Weser-Harz-Heide-Radweg von seiner besten Seite!

Bei Scheden führt der Weg an einem Reiterhof vorbei, dessen Eigentümer bei Verfassen von Verbotsschildern ihrer kreativen Ader freien Lauf gelassen haben.

Hier erreichten wir eine hügelige Zwischental-Landschaft aus braunen Äckern. Die könnte man eigentlich auch weglassen und gleich zum nächsten Bahnradweg übergehen, aber ich mache die Landschaften ja nicht.

Leider kann der Radweg nicht die ganze Zeit auf der alten Bahntrasse verlaufen. In verschiedenen Dörfern mussten wir ordentlich auf und ab strampeln, während uns alte Menschen auf Bänken zusahen. Wir passierten unter anderem einen heruntergekommenen Bauernhof mit Ziegen.
Irgendwie wirken Bereiche in Niedersachsen, die keine Bahnanbindung haben, gleich viel ausgestorbener.

In der Mitte des Zwischentals liegt Dransfeld, die einzige Stadt zwischen Göttingen und Hann. Münden. Die Skyline Dransfelds besteht aus dem winzigen spitzen Türmchen der Kirche (links im Bild) und fetten gelben Quadern, in denen sich ein Haus- und Gartenmarkt befindet.

Die Innenstadt ist etwas idyllischer. Ich glaubte plötzlich, ich sei aus Versehen im Harz gelandet - die Fachwerkhäuser mit Schiefer und das eingerückte Rathaus mit Grünanlage davor erinnerten mich ganz stark an die harzigen Städtchen, vor allem an Clausthal-Zellerfeld. So weit entfernt sind die ja auch nicht.
Dransfeld ist überraschend lebendig - an der Hauptstraße waren viele Geschäfte und Imbisse, womit ich nach den ausgestorbenen Dörfern ringsherum gar nicht gerechnet hatte. Es mangelte nur an Fußgängern, die in die Geschäfte hineingingen. Das lag wohl auch an der gewaltigen Hitze.

Gegen die Hitze hilft das putzige kleine Freibad. Es liegt eine Etage höher am Campingplatz, die Straße dorthin führt steil bergauf. Dafür wartet oben eine schöne Aussicht und sehr kühles Wasser (fast schon zu kühles Wasser, aber bei dem Wetter will ich mich nicht beschweren).

Der Radweg entlang der Hauptstraße durch Dransfeld ist kürzer, aber auch steiler. Der Weser-Harz-Heide-Radweg verläuft mit Abstand im Bogen um die Stadt herum. Von dort aus sieht Dransfeld so aus wie auf diesem Bild - die gelben Klötze sind auch aus der Ferne zu erkennen. Wer in der Stadt nicht essen oder schwimmen will, muss entscheiden, ob er lieber mehr Strecke oder mehr Höhenmeter zurücklegen will. Ich glaube, ich würde tatsächlich die Höhenmeter empfehlen.
Auf den Bergen hinter Dransfeld steht der Gaußturm. Er erinnert an den Mathematiker und Landvermesser Carl Friedrich Gauß, der in Göttingen gewirkt hat. Der Aussichtsturm ist jedoch dauerhaft geschlossen.

Im Wald bei Ossenfeld beginnt dann der zweite Bahntrassen-Abschnitt. Der besteht zwar nur aus Kies, macht aber wirklich Spaß, vor allem in Richtung Göttingen. Denn dann hat der Weg ein leichtes, unsichtbares, aber doch spürbares Gefälle, sodass es sich fast wie von selbst fährt. In der Gegenrichtung fühlt es sich eher wie ein normaler ebenerdiger Weg an, vielleicht mit einem minimal Widerstand als sonst.
So tauchten wir ins Leinetal ein, und zwischen den Hecken öffneten sich weite Blicke auf die Göttinger Vororte.

Dann wurde es schattiger, und wir drehten eine Schleife um ein Dorf und unterquerten die Straßen in merkwürdigen Tunneln aus Wellblech, die an übergroße Abwasserkanäle erinnerten.
Von der Luftlinie her wäre es eindeutig kürzer, die Bahntrasse zu verlassen und quer durchs Dorf zu radeln. Aber ich bezweifle, dass man dadurch auch nur eine Minuten Zeit spart - es ist so viel unkomplizierter, sich einfach immer weiter durch den Kies abwärts ziehen zu lassen.

Schnurgerade zieht der WHH-Radweg zwischen aktiven Bahngleisen und dem Friedhof hindurch, überquert zwei Hauptstraßen und kommt schließlich am Ufer der Leine in Göttingen raus.

23 Juli 2023

Unstrut: Von Gorsleben nach Naumburg

Nach einem durchwachsenen Mittelteil zeigt der Unstrut-Radweg im Finale nochmal so richtig, was er draufhat (und das nicht nur in meteorologischer Hinsicht).

Morgens fand ich mich verpennt in einem Nebel wieder, in dem ich kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Ich erkannte gerade so den Rasenrand der Flutmulde gegen Hochwasser. Und die Steinbrücke, unter der ich gerade durchfuhr. Und die Hand, die das Fahrrad unter dieser Brücke hindurchlenkt. Mit Ach und Krach.

Die Hügel der Hohen Schrecke? Könnten genauso gut in Papua-Neuguinea stehen. Irgendwo da oben soll es eine Schlucht mit Hängebrücke geben. Aber jetzt da hinzufahren, wäre wahrscheinlich so sinnvoll, wie stocktaub ein Symphoniekonzert zu besuchen.

An dieser Stelle, sagt der Wegweiser, zweigt der Unstrut-Werra-Radweg ab. Ein Wegweiser, der Fragen aufwirft. Frage eins: Warum zur Hölle nach Norden? Wie soll man in die Richtung bitte an der Werra rauskommen? Frage zwei: Warum braucht es einen zweiten Unstrut-Werra-Radweg, wenn es mit dem Kanonenbahn-Radweg bereits eine perfekte Werra-Unstrut-Verbindung gibt?

Kurz vor der Grenze nach Sachsen-Anhalt bringt mich schon wieder ein kurzes Stück Bahntrasse in eine Stadt mit Kurtherme. Artern sieht aber deutlich trister aus als Langensalza. Die Wiedervereinigung war hier etwas schwieriger, aber hey, dafür hat die Stadt ihre eigene "ostdeutsche Truman-Show" (so einige Zeitungen) bekommen, wo alle genau sehen können, wie schwierig das doch für die Einwohner ist.

Sachsen-Anhalt begrüßt mich dann erstmal mit verstreuten Burgen und Gutshöfen, manche mehr, manche weniger beeindruckend.

Doch was ist das? Kann das wahr sein? Ist das möglich? Ist das... Licht? Die Sonne bricht sich einen Spalt durch die Wolken, und auf einmal sehe etwas vom Land, das ich durchquere.
Also, ein bisschen.

Puh, gerade noch rechtzeitig. Ich wollte gleich einen ganz speziellen Aussichtsturm besteigen, und da wär es doch nett, etwas mehr zu sehen als graue Suppe.
Es wurde knapp. Als ich in die Biegung des Tals reinfuhr, war der Berg mit dem Turm immer noch deutlich eingenebelt. Erst ganz kurz, bevor ich oben ankam, verzog sich der letzte graue Fetzen, als würde er vor meiner Kamera fliehen. (So furchteinflößend ist die nun auch wieder nicht.)

Neugierig radelte ich den Berg rauf und in den schlanken Birkenwald rein. Daneben müsste theoretisch ein steiler Abhang sein, und direkt darunter Radweg und Fluss unten im Tal, da, wo ich gerade langgefahren bin. Davon war leider nichts zu sehen, dafür wuchs der Wald einfach zu dicht.
Nach einer Weile bog ich ab auf einen Extraweg, den irgendwelche Künstler mit allen möglichen Extras dekoriert haben. Zum Beispiel ein Open Air Kino: Die Sonne sinkt herab und der Nachthimmel wird zur Leinwand. Der Mond und die Sterne sind die Akteure.
Mooment, nicht so schnell, ich bin doch froh, dass die Sonne überhaupt erst angekommen ist. Die kann ruhig erstmal bleiben, auch wenn der Film dadurch ein bisschen zur One-Sun-Show wird. Allzu viel von der Leinwand ist durch die Bäume eh nicht zu sehen, der Standort scheint mir nicht optimal gewählt.

Irgendwann kam ich dann oben auf einer Lichtung heraus. Im Jahr 1999 war das noch irgendein stinknormaler Wald in Sachsen Anhalt (ein sogenannter Sachsen-Anwald) ohne irgendwelche Himmelskinos und anderen Schnickschnack.
Bis zwei Grabräuber den Boden mit Metallsonden absuchten. Ohne Genehmigung, also illegal. In einer Mulde, wo heute eine riesige silbrige Scheibe liegt, piepste es. Sie gruben ein rundes Stück Metall aus und dachten, das sei ein Schild. Obwohl sie es erfolgreich verticken konnten, sprach sich auf dem Schwarzmarkt schnell herum, dass da so ein komisches Dings mit Sternen drauf im Umlauf ist und dass es eigentlich dem Land Sachsen-Anhalt gehört. Ein verdeckter Ermittler behauptete, er wolle die Scheibe ankaufen, die Hehler wurden verhaftet und endlich konnte die Sensation ganz offiziell zelebriert werden.
Der Fundort der Scheibe ist heute eine riesige Sonnenuhr. Betonlinien am Boden sind das Zifferblatt, und der Zeiger ist ein riesiger Aussichtsturm in Sonnengelb. Auf so was muss man auch erstmal kommen. In eigentümlichen Winkeln windet sich die Betontreppe aufwärts, während vor dem tiefen Sturz ins Treppenhaus kein Geländer, sondern nur ein durchsichtiges Netzt schützt - mein Gleichgewichtssinn war nicht direkt begeistert, fand sich aber damit ab.

Als Himmelsscheibe von Nebra ging das Ding in die Geschichte ein. Wobei die Stadt Nebra eigentlich noch ein Stück entfernt liegt und weitgehend abgewrackt aussieht. Das Dorf, über dem die Scheibe wirklich gefunden wurde, heißt Wangen. Vor dem Fund hielt da nicht mal die Bahn an, bis die Bewohner bei mehreren Radsternfahrten ihren eigenen Bahnhof durchsetzten, auch, damit da Touristen aussteigen können. Die können dann direkt die Arche Nebra besichtigen. Dieses Museum thront über den Dorf wie ein gestrandeter Goldbarren. Auf den ersten Blick hat es nicht wirklich Ähnlichkeit mit einer Arche oder einem Schiff. Aber wenn man weiß, dass auf der Scheibe auch ein Schiff zu sehen ist, das ganz ähnlich aussieht (wobei ich mich frage, wie die Forscher dann überhaupt mit Sicherheit wissen, dass es ein Schiff ist), dann ergibt das natürlich Sinn.
Die Scheibe hat sogar ernsthaft ihren eigenen Himmelsscheiben-Radweg, der von hier bis zur Original-Scheibe im Landesmuseum Halle führt. Bisschen enttäuschend für die Arche Nebra, aber man kann so ein wertvolles Stück ja nicht wirklich in einem Kaff wie Wangen verstecken.

Das Museum entstammt der häufigen Kategorie: Modern, großzügig, anschaulich gemacht, aber für den Preis halt doch nicht soo groß. Die Ausstellung dreht sich vor allem darum, wie die Menschen zur Bronzezeit so gelebt haben. Und wie andere Völker die Sterne erforscht haben.
Und welche nicht ganz so ernstgemeinten Theorien es über die Himmelsscheibe von Nebra gibt.

Aber wer sich mit den ernstgemeinten Theorien beschäftigen will, der muss entweder eine VR-Brille aufsetzen und in einem virtuellen Sachsen-Anhalt-Stonehenge, das irgendwo in der Gegend liegt, die Himmelsscheibe aufheben. Oder aber, wenn ihm all die Knöpfe zu kompliziert sind, setzt er sich einfach ins Planetarium.
Die Scheibe wurde 1600 v. Chr. geschmiedet. Damit ist sie die älteste Darstellung des Himmels auf diesem Planeten. Das allein würde ja für eine Sensation reichen, selbst wenn das Bild einfach nur Deko oder für irgendeine religiöse Zeremonie gedacht gewesen wäre. Aber die Wahrheit ist anscheinend eine ganz andere.
Die Wissenschaftler sind sich bei vielem, was die Platte angeht, immer noch nicht einig, weil es ganz einfach kein vergleichbares Fundstück gibt. Nur weil im selben Grab ein paar Waffen lagen, konnten sie überhaupt ungefähr die Zeit bestimmen. Es ist noch nicht mal klar, ob der Kreis nun die Sonne oder den Vollmond darstellt. Andere Sachen sind überraschend klar. Zum Beispiel, dass es drei Versionen der Scheibe gab, weil sie zweimal umgeschmiedet wurde. Und, dass der Sternhaufen da drauf die Plejaden sind. Das ist eine Art Sternenkindergarten, eine helle Wolke voller frisch geschlüpfter Sonnen.
Von den Plejaden aus kamen die Forscher also auf folgende Vermutung: Die Himmelsscheibe 1.0 war für die Bronzezeit ein hochwissenschaftliches Gerät. Die Menschen konnten auf ihr ablesen: Wenn Mond und Plejaden eine bestimmte Position haben, dann muss man das Getreide aussäen (sagen die einen) oder das Jahr um so und so viele Tage (nämlich die Anzahl der restlichen Sterne) verlängern, damit das astronomisch mit den Schaltjahren hinkommt (sagen die anderen).
Die Himmelsscheibe 2.0 hat am Rand sogenannte Horizontbögen dazubekommen, mit denen man sie waagerecht halten und so die Bewegung der Sonne das Jahr über ablesen kann, eventuell mithilfe des Brockens am Horizont oder auch nicht. Und erst bei der Himmelsscheibe 3.0 kam etwas Religiöses dazu, nämlich ganz unten ein göttliches Sonnenschiff (oder noch eine Mondsichel, sagen andere).
Wenn Aliens die Scheibe finden, würden sie also schlussfolgern, die Menschen hätten sich im Laufe ihrer Geschichte von der Wissenschaft weg und hin zur Religion entwickelt.

Die freundlichen Fliesen auf dieser Wand verraten: Der Schluss wird fahrradfreundlich!

Naja, zugegeben, die Städte am Schluss sind irgendwie seltsam. Eine graue Leere zum Durchfahren mit einem Namen, der klingt, als hätte jemand auf die Ortsschilder geniest.

Aber die Strecke dazwischen ist 1A! Hinter Nebra musste ich an der ersten rotbraunem Felswand vorbeischieben, ab da konnte ich bequem an Fels- und Pflanzenwänden vorbeirasen. Besonders nah kam ich dem Felsen an einer Klippe namens Glockenseck.
Auch bei Kanufahrern ist das Tal sehr beliebt.

Manchmal enthalten die Fels- und Pflanzenwände zusätzlich Alkohol - das Land der Weinberge beginnt! Der erste Wein wächst auf dem Hahnenberg. Der heißt angeblich so, weil die Winzer frühmorgens gemeinsam mit den Hühnern aufstehen - seit 800 Jahren. Dann ist es aber dringend an der Zeit, dass sie auch mal ausschlafen.
Weil der im Kalkboden so gut gedeiht, baut man hier seit 1000 Jahren Rotwein an, am meisten die Zisterziensermönche vor der Reformation. Bei denen sollen die Weinberge eine "heute unvorstellbare" Ausdehnung gehabt haben. Noch viel mehr als heute? Wie kann ich mir das vorstellen, waren die Berge doppelt so hoch? Ja, okay, ich weiß, was unvorstellbar bedeutet.
Hmm, dieses Hin und Her der grauen Weinmauern erinnert mich doch an irgendwas...

Jedes Dorf hat irgendein Weingut. Hm, wenn der Unstrut-Wein so beliebt ist, dann nehme ich mir auch eine Flasche mit. Die ersten Weingüter waren aber (noch) geschlossen.

Woran ich das gemerkt habe?
Wenn hängt der Strauß, schenken Wein wir aus, stand überall dran. Es hing kein Strauß, also auch kein Wein - ebenso eindeutig und energiesparender als ein rotes OPEN-Display.
Aber schließlich stieß ich auf ein größeres Weingut. Die hatten sogar ein Museum eingerichtet mit alten Geräten und vergilbten Listen, auf denen jemand handschriftlich den Tagesablauf eines Weinbauers und einer Bäuerin vor 1945 notiert hatte. Wenig überraschend hatten sie viel zu arbeiten, eigentlich war immer irgendwas. Interessant wäre da jetzt zum Vergleich eine Liste mit dem heutigen Tagesablauf. Was läuft automatisiert, und wie viel Zeit kostet es, stattdessen die Social-Media-Präsenz des Weinguts zu pflegen (etwas, mit dem sich die Bäuerin vor 1945 nicht herumschlagen musste)? Aber vielleicht setzt der Hof auch vollständig auf andere Methoden, um junge Menschen anzusprechen: Neben Wein kann man auch Hanflikör und Hanfkuchen erwerben.
Der mitgebrachte Wein stieß jedenfalls zu Hause auf großes Lob.

Freyburg (wo übrigens auch Turnvater Jahn herkommt, falls den noch jemand kennt) hat einen besonders hübschen Herzoglichen Weinberg mit Fachwerktürmchen. Die Mauern sehen alt aus, sind sie auch, aber anders als die Burg nebenan stammen sie nicht aus dem Mittelalter. Solche Wein-Terrassen werden erst seit dem Barock gebaut. Vorher musste der Wein vermutlich waagerecht aus dem Berg rauswachsen.
Anfang des 20. Jahrhunderts ereignete sich eine Katastrophe. Also, klar, Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Katastrophen, aber schlimmer noch als irgendwelche Weltkriege war für die Winzer ein Insekt: Die Reblaus zerstörte zusammen mit dem Mehltau den Großteil der Pflanzen. Erst amerikanische Anti-Reblaus-Unterlagen brachten die Rettung.

Die letzten Unstrut-Weinberge sind dann noch einmal ungewöhnlich künstlerisch. Einen kaufte der Bildhauer Max Klinger, um mittendrin in seinem Haus Skulpturen zu klopfen.
Und gleich nebenan haben die Bürger ihre Steinfiguren direkt in den Weinberg reingeklopft. Das Ding heißt aus irgendeinem Grund Steinernes Album, obwohl ein Fotoalbum doch ziemlich anders aussieht.
Die Reliefs sind von 1722 und standen die ganze Zeit draußen im Regen rum, kein Wunder, dass die Gesichter und eigentlich auch sonst alles etwas verwaschen aussehen. Zum Glück stehen die Erklärungen am Wegesrand, sonst käme ich gar nicht klar (wobei die Bilder auf den Infotafeln auch keine wirklich höhere Bildqualität haben).

Die meisten Bilder stammen aus der Bibel, mache zeigen auch versoffene Fürsten aus der Region. Die Hauptsache ist, dass das Motiv irgendetwas mit Wein zu tun hat.

Unter diesem Hang zum Alkohol erreicht die Unstrut schließlich den Blütengrund. Der ist fast so idyllisch, wie es klingt, auch wenn eventuell vorhandene Blüten um diese Jahreszeit schon fertiggeblüht haben und grasgrün glühen. Und auch die Unstrut ist nun verblüht und am Ende, denn sie fließt in die Saale rein. Wobei es eigentlich eher so aussieht, als würde die Saale von der Seite in die Unstrut münden und nicht umgekehrt - aber die Saale ist trotzdem länger und breiter.
Direkt dahinter pendelt ein kleines Fährboot zur anderen Seite. Fahrräder passen rein, auch wenn es nicht direkt angenehm ist, das volle Rad mit Taschen die Stufen ins Boot runterzutragen. Außerdem ist der Fahrpreis vergleichsweise hoch. Im Prinzip spricht also nichts dagegen, die Fähre Blütengrund rechts liegenzulassen und noch zwei Kilometer weiter zur Brücke zu fahren. Es sei denn, man hat es eilig oder möchte der Mündung möglichst nahe kommen - denn der Blütengrund ist dermaßen grün zugewachsen, dass der Zusammenfluss sonst nur aus einem bestimmten Blickwinkel mit etwas Abstand zu erkennen ist.

Am anderen Ufer beginnt Naumburg an der Saale, eine eindrucksvolle Stadt aus Arkaden und rotweißen Prachtbauten -  und verdammt alt: Im Jahr 1000 Jahren beschloss ein Bischof, in die Naumburg zu ziehen, die, wie es der Zufall wollte, im heutigen Naumburg stand. Kurz darauf zogen Kaufleute aus dem Unstruttal dazu, denn sie fanden es praktischer, wenn sie einen zentralen Umschlagplatz für leckere Dinge wie Alkohol, Gewürze und (Farb)Stoffe hatten. König Konrad schenkte ihnen ein paar Handelsprivilegien. Das war die älteste urkundliche Stadtgründung Deutschlands. Mit anderen Worten: Es gibt vielleicht ältere Städte in Deutschland, aber die können es nicht beweisen.
Nach der Gründung gab es eine Situation ähnlich wie in Höxter: Einer Doppelstadt im Kalten Krieg, der eine Teil kirchlich, der andere bürgerlich. Erst nach 500 Jahren sorgte ausgerechnet ein Mönch namens Luther aus Versehen dafür, dass die Kirche in den Wirren der Reformation verlor. Heute kann ich nur rätseln, wo die Trennlinie verlief.
Und was passt zu einem Kalten Krieg? Wettrüsten! Als eine der allerersten deutschen Städte schaffte sich Naumburg Feuerwaffen an, weil sie gehört hatten, dass eine Saaleburg durch eine komische, Pechpfeile schließende Wunderwaffe gefallen war.

Naumburg war Friedrich Nietzsches Kindheitsstadt und hat das kleinste Straßenbahnnetz Deutschlands.

Tatsächlich kenne ich die Stadt auch über den Nahverkehr, weil ich dort im 9-Euro-Sommer einmal nachts mit der Bahn gestrandet bin. Und ich muss sagen, es war eine ganz gute Stadt zum Stranden im Sommer. Gut beleuchtet führte eine bequeme Straße als Rampe hinauf in die hübsche Altstadt und sogar ein Restaurant war bis spät geöffnet. Auch wenn der Rest vom Marktplatz trotzdem etwas leer schien.

16 Juni 2023

Berliner Mauer: Von Sacrow nach Spandau

Die Waldseemauer

Länge: 27 km
Grenzquerungen: 9
Bundesländer: Berlin, Brandenburg
Seite: ausnahmsweise etwas mehr West als Ost (wobei der politische Westen hier im geographischen Osten liegt)
Erkenntnis: Eine Schülerausrede hätte rein theoretisch eventuell vielleicht den Dritten Weltkrieg auslösen können, und das wäre auch kein dümmerer Grund als manch anderes.

Weil Spandau komplett zu Westberlin gehörte, schlägt die Mauer an dieser Stelle einen großen Waldbogen rund um das westliche Westberlin. Erst dann kehrt sie zur Havel zurück. Erst einmal bezwinge ich den Luisenberg. Er ist 74 Meter hoch und gehört damit nicht mal in Berlin zu den höchsten Gipfeln. Allerdings ist er (glaube ich) das höchste, was ich an der Berliner Mauer bezwingen musste. Kein Vergleich zum Hoel und zum Brocken! Jedenfalls nicht, was die Höhe angeht. Was die Schönheit des Waldes angeht, schon eher.

In diesen Wäldern verstecken sich noch mehr Seen, quasi eine zweite Seenreihe, die nicht von der Havel verbunden wird, sondern bloß von irgendwelchen Bächlein. Entsprechend geht es hier deutlich ruhiger zu. Den Sacrower See verfehlt die Mauer knapp, aber über den Groß Glienicker See geht sie einmal quer rüber. Ach, schön! Darf ich dann auch ans Ufer?

Äh, ich würde mal sagen, das ist ein klares Nein.
Die Karte sagt, der Radweg ist gesperrt. Da frage ich mich, vor wie vielen Jahr(zehnt)en der bitte geöffnet gewesen soll. Eine derart dicke Buschwand wächst ja nicht gerade über Nacht. Und auch später, als es einen Pfad am Ufer gibt, ist der nur für Fußgänger erlaubt, und die Abzweigung habe ich obendrein übersehen.

In Groß Glienicke herrschten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert die Ritter auf dem Rittergut - am bekanntesten ist die Familie Ribbeck (ihr bekanntester Vertreter aus einem gewissen Gedicht kam aber aus dem Ort Ribbeck, das ist woanders). Ihr Gutshof brannte nach Kriegsende ab, nur ein einsames Tor und ein paar Wirtschaftsgebäude blieben übrig.

Im Grenzgebiet verwilderte ihr Garten, und heute ist nicht mehr zu erkennen, dass das mal ein aufwendiger gepflegter Park war. Schön anzusehen ist es trotzdem, nur halt auf andere Art. Und an der Nordspitze darf ich sogar nochmal ans Seeufer.
Der Pfarrer von Groß Glienicke kümmerte sich um seine Schäfchen auf beiden Ufern. Eines Tages war der Steg über den Grenzgraben weg. Am nächsten Tag hatten die Menschen Bretter drübergelegt, dann waren die auch weg. Dann lagen da Trittsteine, auch die entfernten die Grenzsoldaten. Das Katz-und-Maus-Spiel zog sich durch die ganzen 50er bis zum Mauerbau.
Sogar mitten im See stand auf einmal Stacheldraht. Am Nordufer kommt auch heute noch ein Zaun aus dem Wasser. Der Streckmetallzaun, der an der Innerdeutschen Grenze meistens die endgültige Version darstellte, war in Groß Glienicke bloß eine Zwischenstufe. An dieser Stelle lässt sich das sandige Ufer aber nur schwer bebauen.

Deswegen machten die Mauerbauer eine kleine Abkürzung, als der Zaun (hinten rechts) 1970 durch eine Betonmauer (links) ersetzt wurde. Ihrer Faulheit ist es zu verdanken, dass ich zwei verschiedene Mauer-Generationen nebeneinander besichtigen kann (die einzige Stelle in Berlin, wo das geht, glaube ich). Damit es die Landschaft aber nicht zu sehr verunstaltet, sind nur zwei Segmente der Mauer komplett, und der Rest wird durch kleine Betonstücke angedeutet. Die Wurst obendrauf (hinten links) - der Fachbegriff lautet Abweisrolle - verhinderte, dass sich irgendwer mit Händen, Füßen oder Kletterhaken festhalten konnte.

Ich passierte eine Fahrradampel, die einen etwas... verschlossenen Eindruck machte, und fuhr dann immer neben der Bundesstraße lang.
Die Aliierten hatten vereinbart, dass jede Besatzungsmacht einen Berliner Flughafen bekommen soll. Die Briten hatten ihren hier in Gatow und tauschten sogar Gebiete ein, damit sie auch ohne sowjetische Unterbrechung da hinkommen konnten. An dieser Straße erschoss ein DDR-Volkspolizist einen sowjetischen Soldaten, nicht gerade die typische Täter-Opfer-Konstellation. Es wurde an dem Tag nämlich nach einem abtrünnigen Sowjet gefahndet, aber das war ein anderer.
Außerdem sollen sich hier Rieselfelder befinden. Och, das klingt ja idyllisch, was das wohl sein mag? Weinberge, auf denen Riesling angebaut wird?
Äh, nicht ganz. Auf den Rieselfeldern entsorgten die Berliner Ende des 19. Jahrhunderts über ein System aus Pumpen und Rohren ihre Abwässer. Damals totaler Hightech, bis jemand die sogenannte Kläranlage erfand. Für Notfälle werden aber immer noch ein paar Becken freigehalten (etwa, falls die Regierung zu viel Mist machen sollte).

An diese Bundesstrecke grenzt auch, welche Überraschung, schon wieder ein Friedhof. Der verfügt über den wahrscheinlich gigantischsten KfZ-Sperrgraben des gesamten Eisernen Vorhangs.

Ein bisschen bergig wurde es wieder, als ich den Hahneberg umrundet habe. Der besteht im Prinzip aus Bauschutt, ist aber trotzdem bei Schmetterlingen wie dem Schwalbenschwanz und bei rodelnden Kindern beliebt. Der Bauschutt wird immer grüner, was dem Steinschmätzer gar nicht gefällt, denn dieser Vogel brütet lieber in kuscheligen Steinhaufen. Aber keine Sorge, die Menschen haben ihm ein paar Extrasteine dafür hingelegt. Sogar die Russische Kamille wächst dort - auf Westberliner Gebiet! Vermutlich hat die Stalin heimlich bei der Potsdamer Konferenz ausgesät, um zu stänkern.
Gleich nebenan bauten die Spandauer 1882 ein Fort. Sie hatten gerade erst für Bismarck gegen Frankreich gekämpft und dabei festgestellt, dass ihre Zitadelle im Zentrum gar nicht mehr zeitgemäß ist gegen all die dicken Kanonen und den Sprengstoff, der inzwischen erfunden wurde. Aber bevor das Fort Hahneberg überhaupt fertig war, upsi, war die Militärtechnik schon wieder ein Stück weiter. Die Spandauer hinkten der Zeit hinterher, und das Fort Hahneberg blieb unbewaffnet.

Am Rewe von Staaken treffe ich auf die Bundesstraße nach Lauenburg, die einzige Verbindung der beiden Deutschlands, die Radfahrer nutzen konnten (mehr dazu hier).
1972 schlossen beide Deutschlands ein Transitabkommen. Damit wurde vieles einfacher: Wenn Sie an dieser Stelle als Westbürger von Westberlin nach Hamburg fahren wollten, durften Sie fortan nur noch in begründeten Einzelfällen durchsucht werden (zum Beispiel, wenn das Heck besonders tief lag - vermutlich ein Flüchtling im Kofferraum). Und Sie mussten keine Gebühr abdrücken, das erledigte die BRD mit einer pauschalen Gebühr an die DDR jedes Jahr für Sie. Dafür mussten Sie aber auch in einem westdeutschen Merkblatt (die Kurzfassung hängt noch heute aus) durchlesen, was alles verboten war: Die festgelegte Transitstrecke verlassen, Anhalter mitnehmen, andere Raststätten als erlaubt benutzen und natürlich irgendwelche Zeitschriften oder sonstwas liegenlassen, in denen eventuell irgendwas Kritisches über den Staat steht, den sie gerade durchqueren... ach ja, und ganz normale Verkehrsregeln gibt es ja auch noch. Falls Sie gegen irgendwas davon verstießen, passierte erstmal... nichts. Die Stasi guckte am Rand der Straße zu und gab die Infos an den Grenzübergang in Lauenburg weiter. Sobald Sie hunderte Kilometer später die DDR wieder verlassen wollten, kam die böse Überraschung.

Dieses Kreuz erinnert an Dieter Wohlfahrt. Er war zwar in Berlin aufgewachsen, aber österreichischer Staatsbürger. Dadurch hatte er den Vorteil, dass er deutlich einfacher nach Ostberlin einreisen konnte. Das wollte er nutzen, um möglichst vielen Menschen zu helfen. Er ging zu einer Fluchthilfegruppe, die Menschen durch Abwasserkanäle schleuste, und er öffnete für sie immer die Gullydeckel auf der Ostseite. 1961 probierte er es auch mal damit, den Grenzzaun durchzuschneiden, um die Mutter eines Kommilitonen rauszuschleusen. Doch an dem Tag hatte sie jemand verraten, und Wohlfahrt wurde hingerichtet. Westdeutsche wurden bedroht, als sie ihn versorgen wollten, und die Grenzsoldaten holten ihn erst ab, als er definitiv tot war.

Damit wäre ich in Staaken angekommen. Schon 1920 schlossen sich die Staakener begeistert Groß-Berlin an. Sie mussten vorher nur noch die skeptischen Spandauer dazwischen überzeugen, und schon wurde Berlin die drittgrößte Stadt der Welt nach London und New York.
Als ich an diesem grünen Graben herauskam, wunderte mich der Zusammenschluss nicht: Die Häuser da drüben sehen schon echt urban aus. Die Gartenstadt sollte eine grüne Mischung aus Stadt und Land werden und war Vorbild für den Siedlungsbau der Weimarer Republik. 1938 startete in Staaken der erste Nonstop-Flug von Berlin nach New York, den aus Versehen alle Medien übersahen (das würde heute wohl nicht mehr passieren). Der erfolgreiche Rückflug wurde umso mehr bejubelt.
Die Staakener Kirchgemeinde war in beiden Unrechtsregimen rebellisch eingestellt: Zuerst taufte hier ein Pfarrer der Bekennenden Kirche Juden, um ihr Leben zu retten, und in der DDR wurde die Kirche zum Zentrum des Widerstands im Havelland. Interessanterweise riss die DDR sie trotzdem nicht ab, sondern verlieh ihr im Gegenteil sogar Denkmalschutz.
Der Westteil von Staaken war das Gebiet, das die Briten den Sowjets im Gegenzug für die Zufahrt zu ihrem Flughafen überließen. Der alliierte Kontrollrat fand den Tausch nicht okay, die Sowjets besetzten das Gebiet trotzdem über Nacht. Am nächsten Tag rannten viele Staakener überstürzt in Richtung Westen (also politisch, eigentlich in Richtung Osten).
So viel Geschichte sieht man den Wohnklötzen echt nicht an, oder?

Abgesehen vom Gasthaus Grenz-Eck gibt's in Staaken nicht viel zu sehen, es geht einfach am Stadtrand entlang über viele, viele Brücken und viele, viele Gleise unter den Brücken. Eine davon benutzten die Westberliner illegal, obwohl sie kurz vorm Einstürzen war und dringend saniert werden musste.  Westberlin brauchte die Brücke als Umleitung, weil sie ihre eigene Brücke noch dringender und länger sanieren mussten. Deswegen liehen sie sich die Brücke von der DDR aus (Kann man Territorium völkerrechtlich ausleihen? Egal.) und hinterließen sie der DDR gratis hübsch saniert.
Der Lokführer Harry Deterling und sein Schwager, der Heizer, hatten 1961 beide so gar keine Lust mehr auf ihre sogenannte Republik. Als sie hörten, dass ihre Eisenbahnstrecke bald woandershin umgeleitet wird, luden sie 14 Familienmitglieder auf und ballerten mit vollem Karacho über die Grenze - eine etwas stumpfere Eisenbahnflucht als die im tschechischen Aš, aber ebenso erfolgreich. Insgesamt saßen da 32 Passagiere drin, auch Soldaten und Polizisten. Nur sieben kehrten freiwillig zurück. Gerade mal zwei Jahre später wurde die Flucht schon verfilmt (Durchbruch Lok 234 gibt's auch auf Youtube), vermutlich nicht am Originalschauplatz. Eine andere Flucht erfolgte ähnlich branchial per Planierraupe.
Die Brücke wurde übrigens extra für einen Transrapid verlängert, der niemals fuhr.

Uiuiui... an der nächsten Straße hat irgendwer einen regelrechten Wald an Informationstafeln aufgestellt, endlos fächern sich die Infos, Bilder und Zitate der Zeitzeugen neben dem Radweg auf. Aber hm, eigentlich bin ich total gut in der Zeit. Wozu beeilen? Ich lese mir das jetzt alles ganz in Ruhe durch.
Hier draußen in Falkensee wurden schon in den 50ern Straßen und Buslinien dichtgemacht und das Überqueren knifflig, denn schließlich war das hier die Außengrenze und nicht die innerstädtische Sektorengrenze. Dennoch hingen viele an ihrem Haus und fuhren immer nur kurz in den Westen, um Waren einzukaufen und besser zu verdienen.
Als dann der 13. August eintrat, waren viele gerade mit der S-Bahn unterwegs, die auf einmal nicht weiterfuhr. Zwar bekamen sie ihr Fahrgeld zurück, aber wie sollten sie nach Hause kommen? Beim Umweg außenrum mussten sie so oft umsteigen, dass sie erst acht Stunden später zu Hause waren. Eine Tante schickte ihre Nichte an der Grenze zu ihren Eltern zurück, die Zehnjährige tapste völlig ungerührt durch die Sperranlagen.
Falkensee gehörte nun komplett zur Sperrzone. Jeden Freitagnachmittag verteilte ein Soldat in der Gaststätte die Besuchsgenehmigungen, die man vier Wochen vorher beantragen muss.
Eine West-Familie durfte ihre Großmutter in Falkensee nicht besuchen. Sie konnten ihr zwar durchs Fenster winken, zurückwinken war der Oma aber streng verboten. Stattdessen hängte sie als Wink-Ersatz ein Taschentuch raus.

In einer Lücke im Wald verbirgt sich der Eiskeller. Der heißt so, weil a) im Gutshof Eis im Keller gelagert wurde und b) hier die höchsten und niedrigsten Temperaturen Berlins herrschen. Der Eiskeller war eine Westberliner Exklave, aber immerhin mit einer vier Meter breiten Zufahrt. Im Eiskeller gab es wiederum ein Ministück DDR, also eine Exklave in der Exklave, und andere Stücke DDR ragten von der Seite rein. In diesem Chaos lebten drei Familien. Eines ihrer Kinder wurde 1952 weltberühmt. Erwin erzählte, die Grenzsoldaten hätten ihn auf dem Weg zur Schule gestoppt. Die Briten reagierten sofort, schickten 30 Soldaten in die Exklave und begleiteten den Zwölfjährigen jeden Tag mit einem Panzerspähwagen auf dem Schulweg (zu sehen im Foto oben auf der vordersten Infotafel, das mittlere Bild). Erst Jahre später gab er zu: Er hatte die Schule geschwänzt und eine Ausrede gebraucht.
Auf der sowjetischen Seite wurden die Gutsbesitzer von den Sowjets enteignet, andere Bauern hauten ab - darum gab es viele neue Bauern, die noch nicht so gut eingearbeitet waren. Zum Beispiel waren sie mit den Kartoffelkäfern überfordert. Aber die Lösung ist ganz einfach: Erzähl den Schulkindern, dass die Amis die Käfer aus Flugzeugen abwerfen, und schick die empörten Kleinen dann in der Schulzeit zum Sammeln aufs Feld.

Das wars auch schon mit der Stadt, jetzt geht's wieder richtig ins Grüne. Bunte Skulpturen säumen den Weg. Eine erinnert an drei junge Männer, die einen eher skurrilen Fluchtplan ausgeheckt haben: Sie nahmen weiße Klamotten und eine weiße Leiter, um vor der weißen Mauer nicht aufzufallen. Das allein reichte aber nicht, die drei müssen zusätzlich Glück gehabt haben: Entweder haben die Grenzposten gepennt oder den Schießbefehl verweigert.

Die Steinerne Brücke ist im Prinzip ein schräger Betonklotz (hinten in der Mitte) und erinnert an diejenigen, die es nicht geschafft haben.
Willi Block verfing sich dermaßen im Stacheldraht, dass er nicht mehr aufstehen konnte. Nicht mal, als ihn die Soldaten dazu aufforderten. Da er sich scheinbar nicht ergeben wollte, schossen sie. Dietmar Schwitzer floh aus dem eher ungewöhnlichen Grund, dass er als Hobby gerne funkte - zu gut, denn die Stasi wollte ihn unbedingt anwerben, aber er wollte da auf keinen Fall dienen. Ein Grenzer erschoss unter nicht ganz klaren Umständen seinen Kollegen Ulrich Steinhauer, der selbst auch kein begeisterter Grenzsoldat war, um fliehen zu können. Der Westberliner Adolf Philipp, der als Fluchthelfer regelmäßig das Niemandsland erkundete, versteckte sich in einem Bunker, brachte aber durch seine Fußspuren zwei Soldaten auf seine Fährte. Offenbar sah sich der Grenzsoldat bedroht und schoss in Notwehr, tatsächlich hatte Philipp nur eine Gaspistole dabei. Zwei Motorradfahrer verpassten ins Gespräch vertieft ihre Ausfahrt und wendeten erst, als sie sahen, dass sie aus Versehen die Grenzanlagen erreicht hatte. Der Torwächter schoss und traf nicht wie geplant den Reifen, sondern einen der Brüder.

Aus dem Westberliner Zollweg ist ein fabelhafter Radweg geworden, der sich zielstrebig durch den Spandauer Forst zieht. Zum Teil war das Gelände so sumpfig, dass es nur für einen Stacheldrahtzaun reichte.
Vor allem am Laßzinsee leben viele seltene Arten. Als ich auf die Aussichtsplattform stieg, bekam ich leider weder einen Bekassinen noch einen Flussregenpfeifer zu Gesicht. Aber der See allein war den Aufstieg schon wert - er funkelt fast so blau wie ein Bergsee in den Alpen!

Diese Etappe endet, wie sie begann: Mit einem kleinen Hügel im Wald. Dann bin ich auch schon zurück an der Havel am äußersten Rand von Spandau, und es ist gerade mal früher Nachmittag.
Da kühle ich mich doch erstmal entspannt im Wasser ab und hole mir eine Riesencurrywurst. Vielleicht lenkt mich das ein bisschen ab von den grauenhaften Sachen, die ich in den letzten anderthalb Tagen gelernt habe.
Jetzt kommt noch ein Mauerstück an der Havel, das ich schon kenne und dessen grauenvolle Sachen ich mir schon während der Havelradtour durchgelesen habe. Tja, und dann werde ich wohl auch schon, überraschend früh, zurück nach Hause fahren. (Nein, werde ich nicht. Ich werde zwei Stunden in einem Oranienburger McDonalds ohne Stühle sitzen und versuchen, das Deutschlandticket für den neuen Monat irgendwie in die App zu laden.)