NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

09 November 2023

Harz: Von Sangerhausen nach Niedersachswerfen

Harz VII: Der Ostsüdosten (mir gehen die Himmelsrichtungen aus)

Auf zum letzten Akt! Nur noch 47 Kilometer sind übrig, aber zuu leicht macht es mir der Weg nicht. Erstmal muss ich wieder bergauf, und als es runtergeht, kommt alle paar Meter so eine komische Bremsschwelle oder Rinne für Regenwasser, keine Ahnung.
Rumms!
Und dann: Schrapprupprupprupp... Diesen Schwellen gelang es zielsicher, mein hinteres Schutzblech nervtötend ans Rad zu pressen, sodass mein Fahrzeug Geräusche von sich gab wie ein grenzdebiles Moped. Soll ich jetzt alle paar Minuten absteigen, allen Schwung verlieren und das Blech richten, oder soll ich meinen Mantel abschleifen lassen und diese Geräuschkulisse ertragen?
Wieder einmal taucht der Harzrundweg in die Berge ein, diesmal aber nur ein kleines Stückchen. Hinter den ersten Kuppen ist der Harzrand noch ganz gut zu erkennen. Dort erstreckt sich das flache Tal der Helme, und dahinter...

...gleich das nächste Gebirg...chen. Der obskure Name Kyffhäuser beschreibt einen kleinen Klecks Mittelgebirge, den man im Prinzip im Vorbeifahren mit einem Blick überschauen kann. Auf dem höchsten Berg steht ein Fernsehturm (rechts), und auf dem, äh, anderen Berg das drittgrößte Denkmal Deutschlands (links). Es handelt sich um eins dieser steinernen Riesendinger für Kaiser Wilhelm I., wie auch an der Porta Westfalica oder der Wacht am Rhein.
Ganz nah dran befindet sich übrigens auch schon Artern an der Unstrut.

Hoch über den Niederungen des Harzvorlands zieht eine Landstraße über die Felder, inzwischen zum Glück ohne Bremsschwellen. Das Seltsame war: Auf den echten Straßen herrschte stets gähnende Leere, während auf den kleinen Feldwegen andauernd ein Sportwagen an mir vorbeiwollte.
Aber wo sind denn nun endlich die Karstfelsen? Ich müsste doch jetzt schon im Biosphärenreservat Gipskarstlandschaft Questenberg sein.

Diese Scheune in Hainrode passt nun schon über 150 Jahre lang auf Heu, Getreide und Stroh auf. Sie hat die Kollektivierung im Sozialismus und dann wieder die Privatisierung heil überstanden. Genau genommen wurde sie erst durch die Privatisierung so richtig heil, denn in den 90ern folgte erstmal eine umfassende Sanierung.

Ich knirschte über den Kies (ist mir recht, Hauptsache keine Schwellen mehr) ins Tal des Dinsterbachs. Ein Schild erklärte mir ganz genau, welche Gesteine unter mir so im Harz drinstecken. Leider ist die Erklärung - im Gegensatz zu den Gesteinen - sehr trocken. Aus dem Boden guckt ein extrem kleiner Eingang zu einem Stollen. Da sollte Kupfer abgebaut werden, also quasi. Eigentlich war das rote Gold viel zu gering konzentriert und wäre den Aufwand gar nicht wert gewesen. Der kurze Stummelstollen sollte einfach nur beweisen, dass theoretisch möglich ist, in diesem instabilen Tal einen 100 Meter langen Stollen zu bauen. Einfach, weil man es kann. Und damit war er erfolgreich. Aber da es nichts abzubauen gab, war die Erkenntnis weitgehend nutzlos. Vielleicht war der Stollen einfach die Außenwette bei einer Ausgabe von Wetten, dass im 19. Jahrhundert. Immerhin freuen sich Amphibien und Fledermäuse über den damals geschaffenen ländlichen Wohnraum.

Daneben plätschert der Dimsterbach unter dem Waldweg hindurch und dann irgendwo links am Rande des Tals.
Noch.
Denn hier kann sich schnell mal was ändern. Der Boden ist voller Gips und Kalk, sodass ständig etwas Wasser darin versickert. Ein Teil des Dimsterbachs kam früher im Nessetal raus, inzwischen vermutlich im Helmetal, bei anderen Bächen ist es nach wie vor ein ungelöstes Rätsel, wo das Versickerte überhaupt landet.

Bei so viel wässrigen Löchern passiert es ständig, dass etwas abbricht. Immer wieder löst sich Gips auf, bildet Hohlräume, verstopft den Bach, vertieft den Bach oder leitet das Wasser um.
Kurz darauf wies mich ein Wanderwegweiser zur Dinsterbachschwinde. Es sah nicht weit aus, also wanderte ich mal eben kurz über die Wiese. Die mir an ihrem Ende überraschend das gab, worauf ich schon seit der letzten Etappe gewartet habe: Gipsfelsen. Na endlich! Weiß und schartig guckt der Karst zwischen dem Herbstlaub hervor. Das Weiß hat einen Stich ins Gräuliche, es ist nicht so rein wie der Gips, der später noch im Südharz zu sehen ist. Die Klippen sind höher, als es zunächst den Anschein hat, aber der Blick wird immer wieder von den Bäumen unterbrochen und verdeckt. Tja, näher heran traue ich mich trotzdem nicht. Der Pfad endet auf einer kleinen Fläche, und tief unter mir plätschert das unschuldige kleine Bächlein. Unschuldig? Von wegen, hier gilt: Stille Wasser sind lebensgefährlich!
Einst befand sich eine Höhle in diesen Felsen. Ein Höhlenforscher namens Wolfgang Graf widmete sein Leben ihrer Erforschung, die Höhle konnte diese Liebe aber nicht so richtig erwidern und stürzte über seinem Kopf zusammen. Gerade noch rechtzeitig wurde der Mann ausgegraben und beendete seine toxische Beziehung zum Gestein.
2013 dann brach ein Hohlraum genau unter dem Bach zusammen, und es entstand auf einmal ein riesiges, kreisrundes Wasserbecken von tiefschwarzer Farbe. Nach wenigen Wochen hatte der Bach aber wieder alles zugemacht und das Tal sah aus wie vorher.

Am Wegesrand entdeckte ich gleich das nächste Einsturzloch, eine sogenannte Doline. Für gewöhnlich läuft das Regen- und Bachwasser hinein und verschwindet im Karst. Ab und zu kommt aber so viel Wasser, dass das Schlupfloch nicht alles schlucken kann, und das Becken füllt sich rasant. Durch den häufigeren Starkregen in den nächsten Jahrzehnten werden wir also vielleicht öfter in den Genuss dieses spontanen Sees kommen. Ich werde allerdings den Teufel tun und mich bei solchem Extremwetter ausgerechnet in diesem instabilen Tal aufhalten.

Zentrum und Auslaugkessel dieser höchst zerbrechlichen Landschaft ist Questenberg. Okay, die erste Straße sieht erstmal nicht so besonders aus... aber warte mal, was ragt denn da hinten über den Dächern auf? Na also, so habe ich mir das vorgestellt mit der Gipskarstlandschaft!

Vor dem Rathaus hebt der Roland von Questenberg sein Schwert und reckt dem Volk stolz seine kleine Wampe entgegen. Solche einen Roland kannte ich bisher nur aus Bremen, aber anscheinend wurden sie in Mitteldeutschland einst in vielen Orten aufgestellt. Sie wiesen auf das Marktrecht und die niedere eigene Gerichtsbarkeit von Questenberg hin, und zwar ganz speziell darauf, dass die Gerichte hier den Sachsenspiegel benutzen.
Das wäre doch auch mal eine Idee für die heutige Justiz, jedem Gericht sein eigenes buntes Maskottchen zu geben, statt immer nur dieselbe Dame mit Waage. Vor dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt trägt die Justizia eine Arbeiter-Schiebermütze, das Bundesfinanzgericht kann sich bei der Statue des Steuerzahlers in Quakenbrück Inspiration holen, das Bundesverfassungsgericht bei diesem französischen Gemälde Die Freiheit führt das Volk, und die kleinen Amtsgerichte geben ihren Figuren landestypische Trachten (in Bayern ein Dirndl, in Frankfurt Anzug, in Mecklenburg FKK, in Berlin eine Punkfrisur).

Ein Haus würde in dieser Stadt im Auslaugkessel eher nicht bauen, aber für Wanderausflüge im Harz ist Questenberg ein echter Geheimtipp. Im Buch Vergessene Pfade hatte ich zum Beispiel gelesen, dass es hier irgendwo periodisch erscheinende Seen gibt. So einen wollte ich unbedingt finden, ach nein, warte, diese Quest habe ich längst abgeschlossen. Also suchte ich mir eine andere Questenberge Quest, die da lautete: Ich will da hoch.
Mein Spaziergang nach oben begann an den Gletschertöpfen. Das Wasser hat skurrile Löcher in den Fels gespült. Ein ebenso skurriler Privatmann namens August Schröter setzte sich an dieser Stelle eine anspruchsvolle Quest: Er wollte die Questenhöhle freilegen und sich darin wohnlich einrichten. Davor baute auch noch ein Haus, und als er gerade den Grundstein legte, entdeckte er die Gletschertöpfe. Die fand er faszinierend, kochen tat er dann aber doch lieber in der Hexenküche (einem der Höhlenräume). 1944 stürzte die Höhle leider wieder ein.

Habe ich Spaziergang gesagt? Von der Entfernung mag das stimmen, aber was die Höhenmeter und die Schwierigkeit angeht, ist das schon eine keine Bergwanderung. Unter den Blättern lauert rutschiger Schlamm, der sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ich die Treppe in die entgegengesetzte Richtung wieder verlassen würde - und zwar mit einem Tempo, das deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegt. Das Geländer war keine große Hilfe. Zum einen neigte es sich besorgniserregend weit nach außen, wenn ich mich darauf stützte, und zum anderen lagen zwischen mir und dem Geländer gerade die schlimmsten Schlammstellen.

Trotzdem bin ich oben angekommen, und das war die Verschmutzung meiner Schuhe allemal wert. Willkommen auf dem Gipfel der Queste! (Wieso packen die Questenberger das Wort Berg in den Namen ihrer Stadt, aber nicht in den Namen ihres Berges?) Heidekraut bedeckt den weißgrauen Stein, und als Gipfelkreuz fungiert eine rätselhafte Konstruktion aus Holz, auf dem Kränze hängen, welche die Zahl 101 bilden.
"Mamaa, kann ich hier hochklettern?", fragte ein Mädchen. Ui. Was ich bei Walkenried noch als Witz gebloggt hatte, wird hier Realität: Kinder, auf die ein Kletterbaum derart große Anziehungskraft ausübt, dass der Abgrund daneben plötzlich unsichtbar wird.
Als sie eine Abfuhr erhielt, versuchte sie es mit einem recht überraschenden Argument: "Aber wenn man erwachsen ist, darf man hier raufklettern." Dabei blieb offen, woher sie diese Information überhaupt hatte, und vor allem, für wie alt genau sich dieses Kind hielt.
Der Ausblick ist großartig, das T-förmige Tal wird eingerahmt von diesen weißgrauen Klippen. Wer mehr davon entdecken will, für den führt hier ein Karstwanderweg weiter.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist die Burgruine Questenberg zu erkennen. Neben unförmigen Mauerstücken ist auch noch ein einsamer Torbogen übrig.

Anschließend blieb mir nur noch die Restquest, welche darin bestand, den Harz vollständig abzuschließen. In Breitungen wurde der Kupferbergbau etwas ernsthafter betrieben. Drei Hüttenmeister scheiterten daran, das Kupfer zu finden, doch Konrad Klermond schaffte es und hielt im 18. Jahrhundert immerhin 60 Jahre lang durch. Die heißen Kupferscheiben wurden in so einen Löschtrog runtergekühlt.
Als die Dörfler die 250 Jahre alte Steinschale entdeckten, dachten sie zuerst, das sei eine Viehtränke oder ein Taufbecken. ("Ich lösche dich im Namen des Kupfers, des Tones und des heiligen Erzes, pffftsch!")
Nun steht sie am Ortseingang zusammen mit einem uralten Grenzstein, mit dem die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt ihren Wald von dem der Gemeinde trennten. Also keine soo wichtige Grenze, aber sie kündigt schon mal an, dass gleich eine weitere Grenze folgt.

Tuut! Nanu, bin ich schon so kurz vorm Ziel? Hier fahren doch noch gar keine Züge.
Doch, aber nur Güterzüge. Nach all dem Auf und Ab erreichte ich das Tal der Thyra, wo ich endlich mal zügig und flach nach Norden rasen konnte, immer neben den Gleisen und der Straße entlang.
Links guckt noch mehr Gips aus dem Wald, diesmal wird er aber professionell abgebaut, im Industriegebiet zu Armen, Beinen oder sonstwas verwurstet und anschließend per Bahn abtransportiert.

Dann wurde es noch einmal eng, und ich zwängte mich durch Täler, wo... huch, aufpassen, ich sollte lieber mal rechts auf die kleine Brücke rauf. Hin und wieder kamen mir ältere Spaziergängerpaare entgegen. Oder war das dasselbe Paar wie vorhin? Gar nicht so leicht zu sagen, denn im Vorbeifahren unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Farbe ihrer Funktionsjacke.
Enttäuscht zischte ich vorbei am Rosenteich, der seinem Namen überhaupt nicht gerecht wurde - so eine rosenlose Unverschämtheit.

Letzter Zwischenstopp: Neustadt im Harz. (Oder am Harz? Die schreiben das alle nur mit Schrägstrich, also Neustadt/Harz.) Das Alte Tor zeigt, dass diese Stadt aus allen möglichen Steinsorten zusammengepuzzelt wurde. 

Rhyolith, Pyolith, Abendlied... Schließlich liegt Neustadt auf der Grenze zwischen den Gipskarstlandschaften und dem festen Gestein im Harz. Aber die Neustädter dachten sich "Wenn schon, denn schon" und importierten auch noch so fancy Zeug wie Alabaster, um ihre Steinsammlung noch weiter zu vergrößern. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Die Kirche ist jederzeit geöffnet, jedoch ohne Licht. Trotz größtmöglicher Kerzenleuchter bleibt sie in Düsternis gehüllt. Die Kirchgemeinde spart Energie, und nach Einbruch der Dunkelheit wird die Besichtigung zum besonderen Abenteuer.

Auf der letzten Straße steuerte ich die letzten (und größten) Gipsklippen an, und dann stand ich auch schon am Bahnhof Niedersachswerfen. Fast rechtzeitig, bevor die ersten Tropfen fielen. Schau an, das ging ja doch ziemlich schnell.
Die Etappen zwischen Niedersachswerfen und Bad Sachsa sowie zwischen Bad Sachsa und Herzberg bin ich schon vor Jahren gefahren, damals allerdings in umgekehrte Richtung. Das heißt, ich habe mein erstes Gebirge umrundet. Ein zweites wird wohl erst mal nicht dazukommen - komplette Gebirgsrundwege für Radfahrer sind wohl einfach nicht so verbreitet und gut ausgebaut.

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