NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

04 Mai 2025

Eger: Von Žatec nach Litoměřice

Weiter ging unser Abstieg über die böhmischen Terrassen. Die aktuelle Terrasse heißt Saazer Becken und besteht zur Abwechslung mal nicht aus Raps, sondern aus Hopfen. Guck an, so wird der also angebaut - an hohen Stangen mit Seilen dran. Hopfen ist eine Kletterpflanze aus der Familie der Hanfgewächse (lassen Sie das nicht Markus Söder hören, sonst wird kommt demnächst in Bayern das Bierverbot). Aber so richtig motiviert zum Klettern war der Hopfen im Mai noch nicht.
Hinterm Hopfenfeld ragt das Schloss Stekník auf. Das Hopfendorf ist zusammen mit Žatec sogar Weltkulturerbe weil Hopfen.

So zickzackten wir eine Weile auf Nebenstraßen von Dorf zu Dorf.
Die Störche der Eger sind im Vergleich zu den Störchen der Elbe ein klein wenig regloser und bestehen nicht aus Proteinen, sondern aus Plastik. Soll das Deko sein oder richtige Vögel abschrecken?

Die nächste Stadt heißt Louny. Der Name klingt, als hätte man die Worte lonely und loutky (Puppen) verschmolzen, was insofern passt, als das Louny das älteste ständige Puppentheater Tschechiens hat. Ah, das ist bestimmt dieses schöne bunte Bauwerk da am Fluss, oder? Nope, das ist bloß die Jirásek-Mühle. In dieser Stadt sind sogar die Gebäude der Industrialisierung bunt gestreift im Stil der Neorenaissance.

Wir schlossen unsere Räder an der Stadtmauer an und stiegen ein paar Stufen hinauf zum Marktplatz, um Proviant nachzukaufen. Der Platz ist vergleichsweise stark zugeparkt, dafür predigt dort ein gewisser Jan Hus von seinem Sockel. Und was predigte der Mistr hier wohl im Jahre 1410? Bevor ich in dem altertümlichen Tschechisch durchblicken konnte, hatte mein Begleiter schon seine App gezückt und seine KI die Botschaft entschlüsselt: Ich beschwöre euch, meine Teuersten, steht vereint, liebet euch alle miteinander und gebt acht, dass unter euch kein Streit, Neid und Groll aufkommen.

Die Sonne ballerte vom Himmel, und weder Berge noch Wälder warfen ihren Schatten über uns. Da waren wir mehr als froh, als wir hinter der 12. Dorfbrücke (eins der Dörfer hieß übrigens einfach nur Pátek=Freitag) in der App eine Badestelle eingezeichnet war, mit Sonnenschirm-Symbol. Hinter diesem Symbol kann sich alles mögliche verbergen. Ist das wirklich öffentlich, da hinter den privaten Gartenzäunen? Sieht so aus. Der Sonnenschirm entpuppte sich als grüne Wiese mit kurzem, hohen Badesteg. Nur wenige Leitersprossen später berührten unsere Füße auch schon das Wasser der Ohře und... brr...
Tief, schwarz (um nicht zu sagen tiefschwarz) und eiskalt umfing uns der Fluss. Mit anderen Worten: Genial. Trotzdem brauchte es ein wenig Überzeugung, bis auch mein Mitreisender dazukam und seinen Körper auf eine vernünftige Betriebstemperatur schockfrostete. Danach reichte der Sportsgeist sogar noch aus, um in die Flussmitte zu schwimmen.

Enge tschechische Brücken mit gelben Markierungen kenne ich ja schon von der Elbe, aber dieses Teil hier ist nochmal ein ganz neues Level.

Zwischenzeitlich bekamen wir doch noch Schatten, als ein Kleewald das Ufer säumte. Es handelt sich laut Reiseführer um das Naturschutzgebiet Myslivna und den Budyňský-Wald, aber fragen Sie mich bloß nicht, was von beidem das jetzt auf dem Bild ist oder ob nicht vielleicht doch beides ein und derselbe Wald ist.

Dort stand nicht nur eine der wenigen Rasthütten, auch eine kleine Wassermühle aus Blech plätscherte vor sich hin.

Auch auf dieser Seite der Grenze werden zum 1. Mai anscheinend lebensgroße Hexenfiguren aufgestellt. Nicht unbedingt auf den Scheiterhaufen. Tschechische Hexen verfolgen lieber griesgrämig auf einem weißen Holzstuhl kauernd den Straßenverkehr und belegen Temposünder mit Flüchen.

Vor dieser Dorfbücherei ist das Fantasy-Regel komplett explodiert, und so krabbelt auch eine Riesenspinne herum, und eine Hexe reitet auf einem Heudrachen. Es scheint fast, als sei diese Jahreszeit das tschechische Halloween.

Und die Ganze Zeit über stiegen Rapsterrasse um Rapsterrasse abwärts, während Autos an uns vorbeirasten. Schon seit gestern Abend war links am Horizont ein Gebirge zu erkennen. Diese spitzen Gipfel sehen irgendwie vulkanisch aus, fand ich. Kann das schon das Böhmische Mittelgebirge sein? Tatsache, jetzt sind wir schon viel näher dran, und die Richtung stimmt. Irre, dass wir das schon gestern am Stausee sehen konnten, der Blick reicht wirklich, wirklich weit über diesen Rapsfeldern. Besonders ein markanter Gipfel mit Burg drauf begleitete uns heute den ganzen Tag über.
Die Grenze nach Sachsen verlief ja die ganze Zeit parallel zu unserer Strecke, nur ein bisschen weiter nördlich, und an den Bergen immer gut zu erkennen. Doch statt des Erzgebirges drängten sich immer die Vulkane in den Vordergrund.

Und dann, endlich, endlich, sausten wir die letzte Steigung abwärts und waren auf dem tiefsten Rapsfeld angekommen - im Elbtal. So. Nun mussten wir nur noch ein bisschen geradeaus. Aber halt, da ist noch eine kleine Stadt im Weg. Von Bäumen und Büschen getarnt, schafft sie es außerordentlich gut, sich in dieser flachen Landschaft zu verstecken. Als würde sie sich für das schämen, was in ihr passiert ist.
Aber die Karte ist eindeutig: Das dort ist Terezín, früher Theresienstadt genannt. Wir radelten über Wassergräben und Wälle aus Wiesen und Ziegelsteinen. Und sofort wusste ich, woran mich diese Stadt erinnert.

Diese breiten Straßen und hohen Kasernenhäuser, zum Teil mit echt abgerockten Wänden? Das hier war eine österreichische Festungsstadt, genau wie Josefov an der Elbe, oder?
Richtig geraten. Kaiser Josef II. wollte mit dieser Festungsstadt eigentlich die Handelswege sichern, stattdessen wurde sie nur wichtig als Soldaten-Aufbewahrungs-Tupperbox.

Es ist eine ganz merkwürdige Stadt. Mittendrin befindet sich auf einmal eine gewaltige unbebaute Wiese, wahrscheinlich zum Exerzieren oder so. Die Kirche (rechts) sieht eher aus wie ein eckiger Tempel in Rom, der nachträglich christianisiert wurde.
Auch wenn Terezín an dieser Stelle sogar ganz freundlich aussieht: Niemand kennt diese Stadt wegen ihrer Grünanlagen oder Josef II. Am ehesten kennt man den Namen Theresienstadt, weil die Nazis 1942 alle Einwohner rausschmissen und ein Ghetto einrichteten. Was eigentlich als Durchgangslager für tschechische Juden gedacht war, wurde zum "Altersghetto" für Juden aus ganz Europa, im Westen wie im Osten.

Am anderen Ufer ducken sich die schäbigen Mauern der Kleinen Festung über dem Wasser. Diese Festung war sozusagen der Vorläufer der Verbrechen von Theresienstadt, denn schon die Österreicher richteten dort ein Gefängnis für kriminelle Soldaten und Gegner der Habsburger-Monarchie ein. Eine gefallene Republik später folgte das Polizeigefängnis der Prager Gestapo.

Die Karte wollte uns geradeaus an der Straße direkt zum Ziel lotsen, aber die Wegweiser schickten uns auf einen Pfad durch die Hecken am Ufer. Der war zwar etwas holprig, aber sicherlich die landschaftlich schönere Wahl.
Und ganz am Anfang auch historisch wichtigere. Auf einer Steinplatte erhebt sich ein eher abstraktes Denkmal. Ich weiß nicht, ob die Statue wirklich einen weinende Figur ist und welche Bedeutung dieser eckige Stein hat. Doch die Tafel erklärt zumindest auf Tschechisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch, was hier geschehen ist. Im November 1944 kippten die Nazis die Asche von 22 000 Menschen in die Ohře und machten den Fluss zum Mittäter wider Willen an ihren Verbrechen. Insgesamt kamen 87 000 zu Tode erschöpfte Menschen in Theresienstadt an.
Überlebt haben weniger als 4000.

Von da aus war es nur noch ein Stückchen, bis... so da vorn muss doch jetzt die Ohře in die Elbe münden, oder? Man sieht ja gar nix.
Ich holperte über die Wiese ans Wasser, wo ich die Mündung zumindest erkennen, aber nicht vernünftig vor die Linse bekommen konnte. Erst auf der großen Straßenbrücke nach Litoměřice war sie richtig zu sehen. Sieht aus, als würde einfach nur eine Linie aus Bäumen in der Elbe wachsen. Mann, die Flüsse sind beide überraschend breit, dabei sind wir doch noch ziemlich weit oben.

Die Eger/Ohře hat sich erfolgreich dem Trend widersetzt: Sie fließt als einziger größerer Fluss von Deutschland nach Tschechien rein statt umgekehrt. Doch nun ist sie in der tiefsten Region Tschechiens angekommen und muss feststellen: In diesem von Bergen eingekesselten Land gibt es kein Meer. Und so bleibt ihr keine andere Wahl, als mit der Elbe doch wieder nach Deutschland zurückzukehren.

Wir zwei Knaben an der Eger fuhren zu dem Ende hin.
Nüchtern war noch unsre Leber, nachdenklich war unser Sinn.
Fragt die Eger beide Knaben: "War's zu wenig? War's zu viel?"
"Nun, man kann nicht alles haben. Ganz egal: Reise vor Ziel."

Eger: Von Karlový Vary nach Žatec

Guten Morgen, wir sind raus aus Karlový Vary und das hier sieht doch sehr wie der klassische Egerradweg von gestern aus.
Aber nicht lange.
Die ersten Steigungen konnten wir noch umgehen, indem wir auf der Landstraße am rechten Ufer fuhren.

Die brachte uns schnurstracks zum Mattoni-Wasserfall. Die kleine Otto-Quelle stürzt hier moosige Kaskaden runter, was an den "berühmten Wasserfall in Gastein" (noch nie von gehört) erinnern soll. Sieht künstlich aus? Ist es auch, dieser Wasserfall sollte Touris anlocken.

Aber nicht nur er: Um 1885 baute ein gewisser Heinrich Mattoni hier ein Theater, Konzertsaal, Restaurant, Grotte, Wetterstation und Säulengänge in die Höhe. Das war das Dorf Kyselka, das damals noch den eher unsexy Namen Bad Gießhübl-Sauerbrunn trug.
Was ist vom Dorfe übriggeblieben? Ein Lost Place. Die Häuserzeile guckt traurig und verfallen aus der Wäsche (und zum Teil aus Baugerüsten). Das Einzige, was noch läuft, sind der Wasserfall und die letzte Heilwasserquelle an der Ohře, nämlich

Quelle Nr. 10: Gießhübler Säuerling

Na Gott sei Dank, meine Flasche mit Karlsbader Quellwasser ist schon wieder leer! Aber warte mal, was steht da auf dem Pfosten? Das Wasser nicht... was? Trinken? Die Schrift war verwischt, doch auf der anderen Seite stand es vollständig: Nicht abdrehen, trinken geht klar.
Dennoch ist Kyselka ein trauriger Anblick. Wieso ging das touristische Konzept nicht mehr auf, obwohl es ja quasi nichts anderes ist als Karlsbad als Dorf? Die Kurgäste in der Stadt haben wohl echt keine große Reichweite.

Und was wollte der Mattoni dann ausgerechnet hier? Weitaus mehr als Tourismus. Darum schlossen wir Touristen unsere Räder an und spazierten durch ein süßes Tälchen den hellen Wald hinauf.
Dort oben startete Heinrich Mattoni sein wichtigstes Unternehmen und ließ die Löschner-Quellen einfassen (vom selben Ingenieur, so was auch im deutschen Bad Ems gemacht hat), was ziemlich knifflig war. Rundherum baute er ein Haus, in dem er das Mineralwasser abfüllte und die Kästen per Standseilbahn runter ins Tal schickte. Heute ist in dem Haus das Mattoni-Museum, das ich echt gern gesehen hätte, doch leider war es trotz anderer Informationen geschlossen. Zumindest erzählt der Mattoni-Lehrpfad ein bisschen was. Sogar in Comic-Form: Die Kinder entdecken im Museum einen Ballon, starten ihn aus versehen und durchbrechen nicht nur das Dach des Museums, sondern auch den Bilderrahmen. ("Mir ist schlecht! Ich will zurück in den Comic!")
Das Häuschen hat außen so Deko-Holzschnitzereien im norwegischen Stil und war, wie alle von Mattonis Bauwerken, ziemlich ausgefeilt. Wer würde eine Mineralwasserfabrik heute noch so schön bauen? Und so klein?

Niemand!
Der sprudelnde Beweis brummt unten im Tal vor sich hin. Lost Place hin, Museum her, auch heute wird in Kyselka eine Limonade abgefüllt, die eigentlich Mattoni heißt, aber von jedem einfach nur Kyselka genannt wird - umgangssprachlich ist der Name des Dorfes sogar zum Wort für Limonade ganz allgemein geworden. Das ist doch ein kleiner Trost für die Trostlosigkeit dort unten.
Tschechische Zitruslimonaden werden prinzipiell in grüne Flaschen gefüllt und schmecken nicht so pappsüß wie die heilige Dreifaltigkeit Cola/Fanta/Sprite, sondern sanfter, eher in Richtung 7Up. Lange war die Kyselka von Kyselka ganz klar die beliebteste, aber dann sind sie von Glas- auf Plastikflaschen umgestiegen und haben vermutlich auch irgendwas an der Rezeptur verändert, und plötzlich fanden sich vermehrt andere Marken in den Einkaufskörben wieder. Eine kurze Geschmacksprobe nach dem nächsten Supermarkteinkauf ergab: Inzwischen schmeckt es wieder besser. Und vor allem nach Kindheit.

Die nächsten Felswände waren in Netze gepackt und sahen irgendwie aus, als wären sie für einen Zoo aus Beton gegossen.
Auf dieser Straße verliefen die letzten leichten Kilometer.

Dann wurde es heftig. Hoch und runter und hoch und runter und hoch und runter... boah, das hatte ich beim Blick auf die Karte massiv unterschätzt. Ich dachte, die Moldau wäre der anstrengende tschechische Nebenfluss und die Ohře noch eher der entspannt-familienfreundliche. Aber in Wahrheit sind beide nicht ohne. Das Tal sieht zwar immer noch herrlich aus, aber unten am Fluss gab es einfach keinen Weg mehr. Irgendwann nahmen wir die Schönheit nur noch während der Trinkpausen oben auf den Hügel wahr, ansonsten verschwammen die endlosen Dörfchen und Weghecken ineinander.
Diese Landschaft heißt Doupovské hory (Duppauer Gebirge). Von den vielen, vielen tschechischen Gebirgen ist es wahrscheinlich das unbekannteste, denn man darf in den allergrößten Teil gar nicht rein. Nur die Ränder sind ein bisschen besiedelt, der Rest gehört zum Truppenübungsplatz Hradiště. Das Tal wird auch Schlangental genannt, weil da drin bedrohte Äskulap-, Schling-, Glatt- und Würfelnattern leben.

Der Weg wurde auch nicht gerade leichter, als wir einen Wegweiser übersahen und uns unversehens auf dieser Wandertreppe wiederfanden. Es war ein Kraftakt, die Räder da hochzuhieven, ohne im Staub abzurutschen. Aber immer noch besser als viele Kilometer zurückzufahren.

Auch ziemlich bergig, aber bei Weitem nicht so wild, war der Park in Klášterec nad Ohří. Eine sächsische Adelsfamilie hat sich hier ein rotes Schloss namens Klösterle gebaut und rundherum einen englischen Landschaftspark voller exotischer Bäume angelegt. Der Bildhauer Jan Brokoff hat darin Statuen der sechs Kontinente (Afrika, Amerika, Odysseus, Asien, Europa, Unbekannte Allegorie) und der sechs Jahreszeiten (Winter, Frühling, Erde, Herbst, Venus und Merkur) aufgestellt. Thematisch ein bisschen sprunghaft, der Gute.

Nur eins gibt's in Klösterle nicht: Ein Klöster.
Das thront erst ein paar Kilometer später in Kadaň auf einem Felsen und setzt die Panorama-Prachtpauten-Parade fort. Die Franziskaner mussten es an die Wehrmacht abgeben und probierten es nach der Wende nochmal für einem Comeback für vier Jahre, was aber nicht so recht klappte. Rund um den Klosterfelsen besteht der Egerradweg aus einem ebenso gewundenen wie sehenswerten Gitter. Dieses Stück Radweg ist vermutlich nicht gerade das verkehrssicherste (zumindest würde ich da nicht mit vollem Karacho runterrasen), aber dafür das blickfangiste.

Dort unten beginnt dann eine Uferpromenade, die auf Englisch den stolzen Namen Embankment of Maxipes Fík trägt. Und für alle Kulturbanausen, die nicht wissen, wer das ist, steht auch eine Skulptur eines riesigen weißen Hundes und eines sehr viel kleineren Mädchens herum (leider habe ich kein Foto gemacht). Das ist eine der bekanntesten tschechischen Zeichentrickfiguren, und ihr Erfinder kommt aus einem Dorf bei Kadaň. Mehrere Generationen haben dem sprechenden Maxi-Hund namens Fík zugesehen, wie er zum Beispiel das Auto der Familie entwendet und damit gegen so viele Verkehrsvorschriften verstößt, wie in eine 10-Minuten-Folge passen. ("Haben Sie einen Führerschein?" - "Nein" - "Haben Sie denn Geld dabei?" - "Nein" - "Haben Sie überhaupt irgendwas?" - "Ja. Flöhe.") Und nein, wir hatten damals keine Ahnung, dass der Name des Hundes irgendwie anrüchig sein könnte.

Egal, wo man hochguckt, in diesem Bereich türmt sich über dem Fluss immer etwas Altes, Spitztürmiges und frisch Saniertes auf.
Wir steuerten gerade inmitten von Wohnblocks und Tankstellen auf einen Kreisverkehr zu, da begann zu unserer linken plötzlich einfach so eine Wiese. Mitten in der Stadt. Kein Park, einfach eine völlig freie Fläche mit Gras. Das sieht man auch selten. Und dahinter stand auf dem Hügel die Altstadt von Kadaň. Der Name erinnert an den tschechischen Namen für Kopenhagen, Kodaň. Eigentlich müsste Kadaň dann eingedeutscht Kapenhagen heißen. Tut es aber nicht, es hieß Kaaden, laangweilig. Als freie königliche Stadt hatte Kapenhagen eine besonders starke Stadtmauer. Als sich die Stadt ausdehnte, wurde sie ganz pragmatisch wieder abgebaut, aber genau über der Wiese ist noch was übrig. Doch suchten wir nach Phantomrestaurants - von außen waren die Gäste an den Tischen auf der Mauer zu sehen, doch im Inneren fanden wir den Eingang nicht.

Was verbirgt sich Inneren dieser mittelalterlichen Mauern? Ein mittelalterlicher Marktplatz, ganz klassisch tschechisch - aber technisch hochgerüstet! Die Bänke haben Handy-Ladebuchsen, und auf dem Touchscreen konnten wir nicht nur auf der Landkarte an die Sehenswürdigkeiten der Stadt ranzoomen, sondern auch die neusten Beschlüsse des Stadtrats als PDF öffnen. (Wir erinnern uns, vorgestern in Bayern hingen die noch in Papierform aus.)
Schweißüberströmt machten wir uns im Schatten der Arkaden über ein paar wirklich gute Burger her. Kadaň ist doch schön, sollen wir heute wirklich noch weiter? Aber nein, jetzt sind wir gestärkt. In Žatec ist ein Hotel, wo man bis 22 Uhr einchecken kann, das schaffen wir schon. Jetzt haben wir den schlimmsten Teil ja überwunden.

Also fast.
Eine letzte steile Steigungsstraße kam noch, und die war brutal.
Und dann sah auf einmal alles komplett anders aus.
Wir hatten das Ende des tschechischen Grenzgebirges erreicht. Aber dieses Ende sieht komplett anders aus als an der Elbe - keine Pforte aus dem Gebirge heraus, und dahinter kein Flachland, stattdessen: Rapsterassen. Hohe, endlose Flächen aus Raps. Ausnahmsweise ist Die Berge sind zu Ende und sie können die Blicke weit schweifen lassen keine Beschönigung - es ist fast noch untertrieben!
Die erste Rapsterasse besteht zusätzlich aus Elektrizität. Links erstreckte sich der große Stausee von Nechranice (wortwörtlich heißt das Nichtbeschützingen, und ich hoffe, dass das keine Rückschlüsse über die Sicherheit der Staumauer zulässt). Der See ist umgeben von Ackerland, nur in einem kleinen Wald gibt's ein paar Campingplätze und eine Badestelle. Hinter dem See dampfen fossile Kraftwerke vor sich hin, und Hochspannungsleitungen umspannen das hochspannende Land, um all den frischen Wasser- und Fossilstrom abzutransportieren.
"Können wir nicht einfach dieser Straße bis Žatec folgen?"
Könnten wir, aber gleich gibt es wieder einen Radweg am Ufer.

Wenn der Stausee mal überläuft, landet das Wasser in einem Abflusstrichter. Auf der Staumauer verläuft eine absurd lange gerade Straße, die aussieht, als würde im nächsten Moment Forrest Gump darauf angelaufen kommen. Mein Mitreisender war enttäuscht, dass wir auch auf dieser Straße nicht weiterfahren würden. Für uns ging es hinter der Staumauer abwärts, und wir bauten all die angestauten Höhenmeter gleich wieder ab.

Wenn der Stausee mal überläuft, dann hat das überschüssige Wasser aus dem Trichter einen wilden Ritt vor sich. E rauscht eine steile, breite Betonpiste runter und springt anschließend über diese Rampen. Auch wenn sie verlockend aussehen mögen, wird Wasserski-Fahrern dringend davon abgeraten, diese Sturzflut auszunutzen.
Im Moment war sowieso alles trocken, daher konnten die Rampen höchstens Skateboardfahrer mit Lust auf ein Bad in Versuchung führen.
Der Uferweg, den ich versprochen hatte, bestand leider erst einmal aus Stock und Stein (überwiegend Stock).

Später wurde er dann doch noch frisch asphaltiert, und dann erschien am Horizont auch schon das žagenumwobene Žatec. Auch diese Stadt liegt auf einem Hügel. Das einzige übriggebliebene Stück Stadtmauer heißt Husitská bašta (Hussitenbollwerk) und gibt damit einen dezenten Hinweis, wer sich in dieser Stadt wohl verschanzt haben könnte.

Trotz aller Ähnlichkeiten und Arkaden ist Žatec ein bisschen ausgestorbener und nicht ganz so beeindruckend wie Kadaň.
Mitten im Kreisverkehr steht ein gewaltiges Bierfass und gibt damit einen dezenten Hinweis, wofür diese Stadt bekannt ist. Also Bier, oder?
Fast. Aus Žatec (früher Saaz) kommt Saazer Hopfen, die (laut den Žatecern) wichtigste Zutat für Pilsner Urquell und viele andere Biere. Die Stadt hat den größten Hopfenspeicher in Europa und insgesamt drei Hopfenmuseen: Der Hopfen- und Biertempel verfüht über einen 40 Meter hohem Leuchtturm (den wir irgendwie nicht gesehen haben), und im Hussitenbollwerk wird das Thema eher satirisch mit dem Homo Lupulus (Hopfenmensch) aufgegriffen.
Viel deftiges Essen verlangt auch entsprechend viel Alkohol, schreibt der Reiseführer - okay, okay, schon klar, ist alles sehr lecker in diesem Land - aber ist es wirklich eine gute Idee, die Menschen in einem Reiseführer für Radfahrer so sehr zum Saufen zu animieren?

03 Mai 2025

Eger: Von Cheb nach Karlový Vary

Tag zwei (beziehungsweise drei, wenn man den Weißmain mitzählt) begann mit einer absonderlichen Allee. Links Kies, rechts Kies, und ein Asphaltstreifen in der Mitte? Da heißt es hoffen, dass kein Radfahrer entgegenkommt. Auf diesem Weg radelten wir vorbei an Kynšperk, das oben auf einem Berg aufragt und das tschechische Pendant zu Hohenberg zu sein scheint.


In Tisová raucht das älteste Braunkohlekraftwerk Tschechiens vor sich hin und ist schon von Weitem sichtbar. Eigentlich nur von Weitem, denn von Nahem stehen Bäume im Weg. Aus der Ferne dagegen sorgen die Hügel für Panorama.

Der Tag begann im Egerer Becken, aber Tschechien wäre nicht Tschechien, wenn nicht bald das nächste Gebirge folgen würde. Der Slavkovský Les (Kaiserwald) rückt näher...

...und treibt Gleise und Fluss zusammen. Aber der Radweg ist weiterhin richtig gut.

In der Mitte liegt Sokolov (früher Falkenau), die Bergbaustadt der Region - hier kam also die Kohle für das Kraftwerk her. Hinter Röhren, einer gelben Brücke und zartrosa Wohnblocks ragt der Zwiebelturm von Sv. Jakub Větší (St. Jakob der Größere) auf. Auch das scheint noch eher eine funktionale Stadt zu sein.

Damit beginnt das Herzstück des Egerradwegs, das klassische Egertal, eben das, was beim Rhein in Bingen und an der Weser in Hann. Münden beginnt.
Und das sieht so aus: Der grünbraune Fluss bleibt ganz ruhig, und alles andere wird auch ruhig, also im Vergleich. Wir radelten auf einem guten Kiespfad durch jede Menge Grün, gleich neben ein paar Raufaser-Felswänden. Ja, so kann es doch sehr gern weitergehen bis heute Abend! (Tut es auch.)

Was gehört noch in ein klassisches Flusstal? Burgen und Schlösser - manche verfallen, manche Privatbesitz und manche ein Bezirksmuseum. Und eine der Burgen hatten wir uns bereits vorgemerkt.

In einer ganz engen Flussschleife ragt die Altstadt von Loket (früher Elbogen) in die Höhe und ist aus jedem möglichen Blickwinkel (und es gibt wirklich, wirklich viele mögliche Blickwinkel) sehr pittoresk.

Wir radelten also durch die Flussschleife und über die Gleise, die gerade in einem kurzen Bahntunnel verschwanden, als... nanu, was kommt denn da raus? Das war aber kein Zug! Es sah vielmehr nach einem Einheimischen aus, der eine verbotene Abkürzung nimmt. Wir nahmen uns kein Beispiel an ihm, nicht zuletzt, weil wir ja sonst die Burg abgeschnitten hätten.

Wir schlossen die Räder unten an und stiegen die Treppe rauf direkt zur Burg. Dachten wir. Die Innenstadt sehen wir dann nicht, aber es muss ja auch nicht alles, dachte ich.
Doch die direkte Treppe war dann doch wegen Bauarbeiten gesperrt (ebenso ein Teil der Burg), und wir stiegen eine ganze Weile  kreuz und quer über die grauen Wehrmauern der Stadt, die mehr oder weniger fließend in die Burg übergehen. Dabei sahen wir doch noch genug von den leeren Sträßchen der Altstadt sahen, wenn auch aus eher ungewohnter Perspektive. In diesen Häuschen verbergen sich das Buchbinderei- und das Geheimbund-Museum, diese Themen interessierten meinen Mitreisenden aber eher weniger. Mittelalterliche Burgen, also so richtig von 1300irgendwas, kannte er dagegen bisher nur wenige. Und nun befand er sich im perfekten Land, um das zu ändern! 

Auch nachdem wir den Eintritt bezahlt hatten, ging es im Inneren der Burg so labyrinthisch weiter wie draußen. Oder noch mehr. Einen eindeutigen Rundweg gibt's nicht, und wirklich durchsehen tut hier auch niemand. Wir konnten nur kreuz und quer rumgehen und hoffen, dass man am Ende alles gesehen... ach, warte, wieso sind wir denn jetzt auf einmal hier rausgekommen?

Im ersten Zimmer lernten wir erstmal etwas über die Egerländer. Angeblich sind die fleißig, aufrichtig, bescheiden und haben einen subtilen Humor. Was erstmal sehr untschechisch klingt: Sie trinken nur Säuerling (also das Zeug aus den Heilquellen), falls nicht vorhanden, Wasser, und nur (!) die wohlhabenden abends Bier, Branntwein mögen sie gar nicht.
Hinter Glas guckten wir, was sich diese Menschen so anziehen. Bei der Tracht ist der wichtigste Bestandteil der reich verzierte Huas'n-oan-thou-tra. Das ist ein sieben Zentimeter breiter Knopf, der Hose mit Hosenträger verbindet. Mit dem Aufschwung des Deutschtums Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Knopf nochmal ein Comeback, da aber schon mehr als Deko-Anstecker als Zeichen Zusammenhalts der deutschen Bevölkerung. Und natürlich, um beim Scrabbeln zu gewinnen.

Die Burg wurde bis 1520 immer weiter ausgebaut, also kein Wunde, dass das noch nicht alles renoviert ist. Die Burgkapelle war geschlossen, aber wir konnten über dem Gewölbe herumlaufen. Die Kapelle wurde in einen alten Burgsaal reingebaut, und so gucken hinter den Gewölbesteinen noch ältere Wandbilder der Stadt hervor. Gegenüber hängen etwas neuere alte Werbeplakate der Stadt Elbogen.

Unvermeidlich wie in den meisten Burgen (besonders den tschechischen) ist natürlich die Porzellansammlung. Und welches Porzellan könnte dieses Land besser repräsentieren als eine schneeweiße Skifahrerin?

Aber unter den endlosen und teilweise interessanten Obergeschossen hat Burg Loket eben auch einen Keller. Und der ist, wie auch jede Menge Schilder warnen, nichts für schwache Nerven.
So weit, so gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass sogar der Weg zum Klo nichts für schwache Nerven wird. Ich folgte nur dem Wegweiser nach unten, okay, dann noch eine Treppe tiefer, na gut, hm, Mann ist das tief und kühl hier, nanu, hier geht es noch tiefer weiter... längst waren alle Ausstellungsstücke oder Schilder verschwunden, nur noch weiß gekalkte Wände und ab und zu eine verschlossene Tür. Ich musste mich tief im Fels befinden, fast schon wieder auf dem Niveau der Eger. Keine Spur von einem Klo. Noch ne Treppe, ernsthaft? Wie viele Unterschosse hat dieses Ding bitte?! Ich kehrte doch lieber um und stellte fest, dass sich das Klo im Erdgeschoss befand und der Wegweiser nur irreführend aufgestellt war.
Nebenan beginnt der ganz offizielle Nicht-für-schwache-Nerven-Keller, der sich rund um die allseits beliebten Themen Folter und Hinrichtung dreht. In jeder vergitterten Zelle kann man eine lebensgroße Menschenfigur, zumeist recht blutig, bestaunen, die eine neue Methode praktisch vorführt. Aus Lautsprechern ertönen passende Schreie. Wer einmal gesehen hat, wie genau das Rad funktioniert, wird sich zweimal überlegen, ob er sich nach einer durchzechten Nacht wirklich schon "gerädert" fühlt.

Drei Sprachen erklären den Besuchern die genaue Methode und vergessen auch nicht zu erwähnen, welche davon noch heute von der CIA eingesetzt wird. (Die, bei der man so viel trinken muss, dass die Organe nicht mehr können.)

Zum Schluss trampelten wir in den Bergfried, um auch noch den Aussichtsturm zu besteigen, aber... huch, da haben wir wohl gerade den grimmigen Untermieter der Burg aufgeschreckt. Sein Name ist Scharkan, und wenn er fliegt, erkennt man ihn an Feuer, Rauch und seinem schrillen Pfiff, anscheinend eine Art reptiloide Lokomotive. Der schuppige Scharkan guckt zwar grimmig und könnte theoretisch ein Pferd verschlingen, aber der Sage nach ist er gutmütig, denn die Hausfrauen von Loket haben sich bei ihm immer Feuer für ihr Unterzündholz im Ofen geholt. (Nicht ganz so nett ist der Strakakal, ein zotteliges Männchen, das angeblich ungekämmte Kinder sucht, mit einem Buch schlägt und dann mit einer Bürste brutal durchkämmt.)

Ich wollte meinem Mitreisenden ein Stück echte tschechische Rad- und Esskultur nahebringen, und dazu gehören auf jeden Fall einfache hölzerne Imbisshäuser am Wegesrand im Grünen. Hoffentlich haben Anfang Mai schon ein paar von denen geöffnet.
Na, so ein Glück, gleich hinter Loket kommt schon der erste offene, mit herrlichem Blick auf die Campingplatzwiese, das Wasser der Ohře und Paddelboote.
Ganz so ein Glück war es dann doch nicht, denn der Imbiss war mehr so theoretisch geöffnet. Praktisch unterhielt sich die Dame lieber mit ihrer Kollegin und teilte mit, es gebe exakt gerade nur 1 Sorte Bier und panierten Käse. Immerhin ein sehr authentisches Menü, wenn auch in der lieblosesten Tiefkühlvariante.

Hinter einer Hängebrücke tauchte noch die spektakulärste Stelle im klassischen Egertal auf, der Hans-Heiling-Felsen. Ursprünglich war das mal eine komplette Granitwand, aber Erosion und Frost haben sie gesprengt. Deswegen stechen jetzt lauter steinerne Zacken und Spitzen aus dem Wald, was sogar noch mehr hermacht als einfach nur ne Wand. Die einen erkennen darin Säulen und Pyramiden (naja), die anderen einen versteinerten (Zwergen)Hochzeitszug inklusive Braut, Priester, Trauzuge und Musiker (najaaa). Das mit dem Hochzeitszzug hat immerhin die Phantasie der Menschen angeregt, deswegen kursiert dazu die Sage von Jan Svatoš alias Hans Heiling. Der Typ war ein Erdgeist, der sich in eine sterbliche Frau namens Anna verliebt und sie zur Verlobung überredet hat. Als sie dann doch einen anderen wollte, war er stinksauer und wollte sich mit seiner Erdgeisterarmee rächen. Bei den zig sehr verschiedenen Versionen (Roman von Christian Spieß, Kurzfassung der Brüder Grimm, Heinrich Marschners Oper, Eduard Dietrichs Gedicht) lässt aber gar nicht mehr wirklich sagen, wie viel davon jetzt wirklich böhmische Volkssage war.

Dann weitete sich das Tal ein wenig (nicht so sehr, wie ich es bei einer Stadt dieser Größenordnung erwartet hätte), Wohnblocks, Bahnhöfe und Hotels wuchsen am anderen Ufer in die Höhe, auf unserer Seite rauschte eine fette Autobahn, und immer mehr Brücken überspannten kreuz und quer das Tal. Ist es ein Wunder, dass wir da die richtige Brücke verpasst haben? Und dass wir uns bei dem Krach nicht gegenseitig gehört haben? Mit einem unnötigen Umweg erreichten wir also die zweite große Stadt an der Ohře. Nur dass unser Fluss diesmal gar nicht durch das Zentrum fließt, sondern bloß am Rand entlang. Hier mündet die Teplá (wörtlich einfach die Warme) in die Ohře, und der folgten wir rein ins Herz des böhmischen Bäderdreiecks nach Karlový Vary alias Karlsbad.
Die Teplá sieht eher aus wie ein kleiner, gemauerter Kanal mit grauem Wasser, der aber immerhin manchmal laut strömt und plätschert. Anfangs standen an ihrem Ufer noch normale tschechische Wohnblocks und Spätis. Dann verschwand die Straße unter einem Hochhaus. Plötzlich furzte das Hotel eine Wolke aus, und ein intensive Wolke aus Chlorgeruch hüllte uns ein, als würden wir geradewegs in ein Schwimmbecken reinsteuern.
Taten wir nicht.
Als wir auf der anderen Seite rauskamen, standen wir in einer tschechischen Stadt, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

1370 hieß die Stadt bloß Vary (Warmbad), aber schon da war bekannt, dass da heißes Wasser aus dem Boden kommt, in dem man gesund baden kann. Karl IV. badete anscheinend ganz gern, denn er machte die Stadt zur Königsstadt, im Gegenzug musste sie bloß seinen Namen in ihren Namen integrieren. Aus der Zeit ist fast nichts mehr übrig, alles in Großbränden abgefackelt oder in Hochwassern abgesoffen (muss wirklich wahnsinnig erholsam gewesen sein damals). Die typischen barockbunten Kurhäuser und Hotels, die heute hier stehen, sind aus dem 18. und 19. Jahrhundert, und das war auch die Blütezeit der Stadt, denn da hatte man rausgefunden, dass man - Trommelwirbel - das gesunde Wasser ja auch trinken kann.
Zum Beispiel rechts im Bild in der

Quelle Nr. 7: Mlýnská kolonáda (Mühlenbrunnenkolonnade)

Dort wurde am nächsten Morgen sogar irgendein Film gedreht, Kameras und Scheinwerfer und schwarz gekleidete Menschen wimmelten herum.

Zwischen Marmorboden, Sandsteinstatuen und einem Wald aus Säulen sprudeln Tag und Nacht fünf Mineralwasserquellen aus Mineralwasserhähnen. Vom Prinzip her kannte ich das ja schon aus Františkový Lázně: Man schlendert da halt rum und trinkt draus, und das soll dann gesund sein. 
Im Prinzip sind die Kolonnaden kostenlos, die Stadt verdient Geld daran, indem sich alle so hübsche Porzellantassen zum Trinken kaufen. Nö, nicht mit mir, ich halte einfach die Hand drunt... AAAU! Das Zeug ist ja kochend heiß! Damit hatte ich nicht gerechnet, die Quellen in Františkový Lázně waren normal temperiert. Aber hier, nur wenige Kilometer weiter, heizt Mutter Natur ihr Wasser zum Zwecke des Diebstahlschutzes und zum Wohle der heimischen Tassenindustrie auf.
Und noch ein Unterschied: Während die Quellen in Františkový Lázně sehr lecker oder sehr eklig waren, geht Karlový Vary geschmacklich weniger in die Extreme, hier fand ich die Quellen alle irgendwie mittel.

Weitere metallene Wasserhähne sprudeln in den Parks der

Quelle Nr. 8: Sadová kolonáda (Gartenkolonnade)

wo ich am nächsten Morgen mit neu gewonnener Weisheit meine Trinkflasche drunterhielt.
Das klare Highlight der Stadt liegt aber weiter hinten: Die

Quelle Nr. 9: Vřídelní kolonáda (Sprudelkolonnade)

Das Gebäude ist schon von Weitem ein Blickfang: Ein Betonklotz mitten im Tal, aus dem ein Glastürmchen ragt, das oben offen ist - und aus dem es dampft?
(Vor dem Gebäude auf der Teplá läuft gerade Wasser an einer Test-Trinkfontäne, wo Geschwindigkeit und Technik der Metallverkrustung herausgefunden werden. Mit diesen Erkenntnissen soll dann nächstes Jahr draußen eine neue Fontäne installiert werden.)

Das Gebäude der Sprudelkolonnade ist von 1975, und so sieht es auch aus. So fremdartig der funktionalistische Stahlbeton auch ist, so eindrucksvoll ist das Innere. Wir irrten erstmal ins Gebäude, bis sich eine Schiebetür für uns öffnete. Im ersten Raum befand sich eine Theke und natürlich ein Stand mit Porzellantassen. Im hinteren Raum ein weiteres Zimmer mit Quellen zum Trinken (hinten im Bild hinterm Fenster). Aber dann tat sich eine weitere Schiebetür auf, und...
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Warme Salzluft und nasse Geräusche hüllten uns ein.
Dieser Raum gehörte einzig und allein einer Fontäne, die unablässig bis zu 12 Meter hoch spritzt. An sich ist sie gar nicht mal so dick, trotzdem dominiert sie den ganzen Raum. Das Wasserbecken reicht ihr bei Weitem nicht, Dampf und Tröpfchen breiten sich aus, auch über unsere Haut und Kleidung, wenn wir zu nah rankamen. Ja, dieses Glastürmchen oben wird definitiv gebraucht, sonst würde der Sprudel ständig volle Kanne gegen die Decke knallen. Und nun weiß ich auch, warum es nichts macht, dass dieses Türmchen oben offen ist - dieser Raum muss selbst im Winter warum genug sein. Nach dem Geysir von Andernach ist das die beeindruckendste Fontäne, die ich kenne.

Natürlich gab es auch in Karlový Vary wieder so einen Laden mit angewärmten Oblaten, schließlich kommen die ursprünglich von hier (heute werden sie in Marienbad hergestellt). Die andere Köstlichkeit der Stadt macht betrunken: Jan Becher baute 1867 eine Fabrik, um seine Kräuterlikör in die ganze Welt zu vertreiben. Sein Nachname dürfte die Vermarktung erleichtert haben.

Dieses Teplá-Tal ist... wie soll ich das beschreiben? Einerseits so friedlich und auch seltsam eindrucksvoll durch die zighundert Hotels, und gleichzeitig so komisch - unten alles künstlich, und oben eine Berglandschaft mit Gipfelkreuzen und Aussichtspunkten zum Hochwandern. Als hätte jemand einen Erlebnispark für Omas angelegt. Diese Architektur hat zum Beispiel Wes Andersons Film Grand Budapest Hotel inspiriert, das aber nicht hier gedreht wurde - Karlsbad hatte "alle richtigen Elemente, aber nicht an den richtigen Stellen". Das änderte nichts daran, dass bei diesem Anblick gleich der Soundtrack in meinem Kopf loslegte.
"Das ist hier für die Touristen, das richtige Zentrum muss woanders sein.", mutmaßte mein Mitreisender. Kann sein, aber vielleicht waren die Wohnblocks mit den Spätis da vorn auch schon das "richtige Zentrum".
Noch weiter hinten, hinter der Sprudelkolonnade, begann ein besonders breites Hotel. Wir wanderten abends am Ufer entlang, landeten auf dem Parkplatz, fragten uns, ob dieser Gebäudekomplex jemals aufhören würde, und kamen uns trotz mangelnder Verbotsschilder vor wie Eindringlinge. Auch wenn das alles aus der Habsburgerzeit stammt, war Karlový Vary bis vor Kurzem vor allem bei Russen extrem beliebt. Als die 2022 wegblieben, war das ein echtes Problem, und seitdem bemüht sich die Stadt, stattdessen Deutsche und andere Westeuropäuer anzulocken. Anscheinend mit mäßigem Erfolg: Bei mehreren Hotels habe ich in den Bewertungen noch immer Beschwerden gelesen, wonach alle, die nicht Russisch oder Ukrainisch sprechen (seltsame Kombi eigentlich), unfreundlich abgekanzelt werden.
 

Aber zum Glück gibt es auf den Hügeln auch Hotels zu moderateren Preisen und ohne Vorurteile, sodass wir uns eine authentische Karsbader Übernachtung in einem der 7428 Grand Budapest Hotels gönnen konnten. Wobei das Zimmer an sich eher normal aussah, aber zumindest von außen und im Treppenhaus ging der Soundtrack im Kopf direkt wieder los.
Ich fragte beim Check-In, ob es auch einen Abstellplatz für Fahrräder gäbe. Die Dame zögerte, anscheinend hörte sie diese Frage nicht oft. Doch obwohl sie uns deutsch sprechen gehört hatte, versuchte sie, eine Lösung zu finden - es mag an meinen halbwegs brauchbaren Tschechischkenntnissen liegen, aber sie erlaubte uns, die Räder durch die Lobby zu schieben hinein in... lol, ist das ein Wellnessraum? Jap, diese Nacht verbrachten unsere Räder zum ersten Mal zwischen Sauna, Dampfbad und einer künstlichen Felswand.
Die Gäste störte das nicht, denn der Bereich wird anscheinend sowieso nur auf Anfrage gegen gepfefferten Aufpreis geöffnet.

Hm, wenn wir im Hotel nicht baden, dann gibt es hier doch sicher eine schöne Therme, oder?
Nope.
Nur Kur.
Hier ist nichts, was mit der Kurhessentherme Kassel oder gar Therme Erding vergleichbar wäre. Das einzige Bad, was weder hoteleigenes Bad noch einfache Sportschwimmhalle noch medizinische Einrichtung ist, ist eine kleinere öffentliche Therme mit tollem Blick über die Stadt, aber die Bewertungen kritisieren dort recht einhellig die Sauberkeit und das eher unterwältigende Angebot.
Ernsthaft? Ich dachte, das hier soll die Thermalstadt schlechthin sein oder so?
Was zum Geier machen die Leute dann hier? Trinken die echt den ganzen Tag nur das heiße Quellwasser?
Nicht ganz. Bei meiner eiligen Recherche während der Reise kam ich schließlich zu folgendem Schluss: Anscheinend badet man hier typischerweise einfach nur in Badewannen, in denen irgendein Zeug drin ist. Zum Beispiel Bier. Ja, sie haben richtig gelesen, man kann sich hier ein Beer Spa buchen. Das schien mir aber eher ein Touristengag zu sein. Aber warte Mal, im Alžbětiny Lázně haben die so was ähnliches im Angebot, ein Hemp Bath. Das klingt schon besser.

Also buchten wir uns einen Termin und suchten am nächsten Morgen das Gebäude auf. Es liegt in einem Park, hat hinten anscheinend auch noch eine Sportschwimmhalle drin und sieht auf den ersten Blick ganz schick aus. Als wir dann allerdings auf dem Flur rumsaßen und überall Menschen in Kitteln rumliefen, erkannten wir den Fehler: Das ist keine Therme, sondern ein Krankenhaus. Rückblickend betrachtet hätte uns misstrauisch machen sollen, dass auf der Website auch Elektroschocktherapie und so Gedöns angeboten wurde.

In dem alten gekachelten Raum schießt das Wasser aus fetten Röhren in die Metallwanne, und es ist ungefähr so gemütlich wie in... einem Krankenhaus halt. Was das Hemp im Bath angeht, so besteht dieses aus einem winzigen Becherchen mit Kräuteröl, das da reingekippt wird und beim Baden praktisch null zu merken ist.
Da wird man dann reingerufen und sitzt 15 Minuten allein im Wasser, mit einem komischem Gitter im Rücken.
Hm.
Also eine authentische Erfahrung ist es auf jeden Fall. Jetzt weiß ich endlich ungefähr, wie genau sich all die Mitschüler und Großeltern, die auf mysteriöse Weise für Wochen "auf Kur" verschwanden, zu Tode gelangweilt haben. Ich hatte ja keine Ahnung. Möge es noch bis zur Rente dauern, bis ich so was machen muss.
Und doch: Für mich als Menschen über 1,90 m hatte die Erfahrung einen sehr beglückenden Aspekt: Zum ersten Mal seit über 10 Jahren befand ich mich wieder in einer Badewanne, in die ich bequem reinpasste.