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23 Juli 2023

Unstrut: Von Gorsleben nach Naumburg

Nach einem durchwachsenen Mittelteil zeigt der Unstrut-Radweg im Finale nochmal so richtig, was er draufhat (und das nicht nur in meteorologischer Hinsicht).

Morgens fand ich mich verpennt in einem Nebel wieder, in dem ich kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Ich erkannte gerade so den Rasenrand der Flutmulde gegen Hochwasser. Und die Steinbrücke, unter der ich gerade durchfuhr. Und die Hand, die das Fahrrad unter dieser Brücke hindurchlenkt. Mit Ach und Krach.

Die Hügel der Hohen Schrecke? Könnten genauso gut in Papua-Neuguinea stehen. Irgendwo da oben soll es eine Schlucht mit Hängebrücke geben. Aber jetzt da hinzufahren, wäre wahrscheinlich so sinnvoll, wie stocktaub ein Symphoniekonzert zu besuchen.

An dieser Stelle, sagt der Wegweiser, zweigt der Unstrut-Werra-Radweg ab. Ein Wegweiser, der Fragen aufwirft. Frage eins: Warum zur Hölle nach Norden? Wie soll man in die Richtung bitte an der Werra rauskommen? Frage zwei: Warum braucht es einen zweiten Unstrut-Werra-Radweg, wenn es mit dem Kanonenbahn-Radweg bereits eine perfekte Werra-Unstrut-Verbindung gibt?

Kurz vor der Grenze nach Sachsen-Anhalt bringt mich schon wieder ein kurzes Stück Bahntrasse in eine Stadt mit Kurtherme. Artern sieht aber deutlich trister aus als Langensalza. Die Wiedervereinigung war hier etwas schwieriger, aber hey, dafür hat die Stadt ihre eigene "ostdeutsche Truman-Show" (so einige Zeitungen) bekommen, wo alle genau sehen können, wie schwierig das doch für die Einwohner ist.

Sachsen-Anhalt begrüßt mich dann erstmal mit verstreuten Burgen und Gutshöfen, manche mehr, manche weniger beeindruckend.

Doch was ist das? Kann das wahr sein? Ist das möglich? Ist das... Licht? Die Sonne bricht sich einen Spalt durch die Wolken, und auf einmal sehe etwas vom Land, das ich durchquere.
Also, ein bisschen.

Puh, gerade noch rechtzeitig. Ich wollte gleich einen ganz speziellen Aussichtsturm besteigen, und da wär es doch nett, etwas mehr zu sehen als graue Suppe.
Es wurde knapp. Als ich in die Biegung des Tals reinfuhr, war der Berg mit dem Turm immer noch deutlich eingenebelt. Erst ganz kurz, bevor ich oben ankam, verzog sich der letzte graue Fetzen, als würde er vor meiner Kamera fliehen. (So furchteinflößend ist die nun auch wieder nicht.)

Neugierig radelte ich den Berg rauf und in den schlanken Birkenwald rein. Daneben müsste theoretisch ein steiler Abhang sein, und direkt darunter Radweg und Fluss unten im Tal, da, wo ich gerade langgefahren bin. Davon war leider nichts zu sehen, dafür wuchs der Wald einfach zu dicht.
Nach einer Weile bog ich ab auf einen Extraweg, den irgendwelche Künstler mit allen möglichen Extras dekoriert haben. Zum Beispiel ein Open Air Kino: Die Sonne sinkt herab und der Nachthimmel wird zur Leinwand. Der Mond und die Sterne sind die Akteure.
Mooment, nicht so schnell, ich bin doch froh, dass die Sonne überhaupt erst angekommen ist. Die kann ruhig erstmal bleiben, auch wenn der Film dadurch ein bisschen zur One-Sun-Show wird. Allzu viel von der Leinwand ist durch die Bäume eh nicht zu sehen, der Standort scheint mir nicht optimal gewählt.

Irgendwann kam ich dann oben auf einer Lichtung heraus. Im Jahr 1999 war das noch irgendein stinknormaler Wald in Sachsen Anhalt (ein sogenannter Sachsen-Anwald) ohne irgendwelche Himmelskinos und anderen Schnickschnack.
Bis zwei Grabräuber den Boden mit Metallsonden absuchten. Ohne Genehmigung, also illegal. In einer Mulde, wo heute eine riesige silbrige Scheibe liegt, piepste es. Sie gruben ein rundes Stück Metall aus und dachten, das sei ein Schild. Obwohl sie es erfolgreich verticken konnten, sprach sich auf dem Schwarzmarkt schnell herum, dass da so ein komisches Dings mit Sternen drauf im Umlauf ist und dass es eigentlich dem Land Sachsen-Anhalt gehört. Ein verdeckter Ermittler behauptete, er wolle die Scheibe ankaufen, die Hehler wurden verhaftet und endlich konnte die Sensation ganz offiziell zelebriert werden.
Der Fundort der Scheibe ist heute eine riesige Sonnenuhr. Betonlinien am Boden sind das Zifferblatt, und der Zeiger ist ein riesiger Aussichtsturm in Sonnengelb. Auf so was muss man auch erstmal kommen. In eigentümlichen Winkeln windet sich die Betontreppe aufwärts, während vor dem tiefen Sturz ins Treppenhaus kein Geländer, sondern nur ein durchsichtiges Netzt schützt - mein Gleichgewichtssinn war nicht direkt begeistert, fand sich aber damit ab.

Als Himmelsscheibe von Nebra ging das Ding in die Geschichte ein. Wobei die Stadt Nebra eigentlich noch ein Stück entfernt liegt und weitgehend abgewrackt aussieht. Das Dorf, über dem die Scheibe wirklich gefunden wurde, heißt Wangen. Vor dem Fund hielt da nicht mal die Bahn an, bis die Bewohner bei mehreren Radsternfahrten ihren eigenen Bahnhof durchsetzten, auch, damit da Touristen aussteigen können. Die können dann direkt die Arche Nebra besichtigen. Dieses Museum thront über den Dorf wie ein gestrandeter Goldbarren. Auf den ersten Blick hat es nicht wirklich Ähnlichkeit mit einer Arche oder einem Schiff. Aber wenn man weiß, dass auf der Scheibe auch ein Schiff zu sehen ist, das ganz ähnlich aussieht (wobei ich mich frage, wie die Forscher dann überhaupt mit Sicherheit wissen, dass es ein Schiff ist), dann ergibt das natürlich Sinn.
Die Scheibe hat sogar ernsthaft ihren eigenen Himmelsscheiben-Radweg, der von hier bis zur Original-Scheibe im Landesmuseum Halle führt. Bisschen enttäuschend für die Arche Nebra, aber man kann so ein wertvolles Stück ja nicht wirklich in einem Kaff wie Wangen verstecken.

Das Museum entstammt der häufigen Kategorie: Modern, großzügig, anschaulich gemacht, aber für den Preis halt doch nicht soo groß. Die Ausstellung dreht sich vor allem darum, wie die Menschen zur Bronzezeit so gelebt haben. Und wie andere Völker die Sterne erforscht haben.
Und welche nicht ganz so ernstgemeinten Theorien es über die Himmelsscheibe von Nebra gibt.

Aber wer sich mit den ernstgemeinten Theorien beschäftigen will, der muss entweder eine VR-Brille aufsetzen und in einem virtuellen Sachsen-Anhalt-Stonehenge, das irgendwo in der Gegend liegt, die Himmelsscheibe aufheben. Oder aber, wenn ihm all die Knöpfe zu kompliziert sind, setzt er sich einfach ins Planetarium.
Die Scheibe wurde 1600 v. Chr. geschmiedet. Damit ist sie die älteste Darstellung des Himmels auf diesem Planeten. Das allein würde ja für eine Sensation reichen, selbst wenn das Bild einfach nur Deko oder für irgendeine religiöse Zeremonie gedacht gewesen wäre. Aber die Wahrheit ist anscheinend eine ganz andere.
Die Wissenschaftler sind sich bei vielem, was die Platte angeht, immer noch nicht einig, weil es ganz einfach kein vergleichbares Fundstück gibt. Nur weil im selben Grab ein paar Waffen lagen, konnten sie überhaupt ungefähr die Zeit bestimmen. Es ist noch nicht mal klar, ob der Kreis nun die Sonne oder den Vollmond darstellt. Andere Sachen sind überraschend klar. Zum Beispiel, dass es drei Versionen der Scheibe gab, weil sie zweimal umgeschmiedet wurde. Und, dass der Sternhaufen da drauf die Plejaden sind. Das ist eine Art Sternenkindergarten, eine helle Wolke voller frisch geschlüpfter Sonnen.
Von den Plejaden aus kamen die Forscher also auf folgende Vermutung: Die Himmelsscheibe 1.0 war für die Bronzezeit ein hochwissenschaftliches Gerät. Die Menschen konnten auf ihr ablesen: Wenn Mond und Plejaden eine bestimmte Position haben, dann muss man das Getreide aussäen (sagen die einen) oder das Jahr um so und so viele Tage (nämlich die Anzahl der restlichen Sterne) verlängern, damit das astronomisch mit den Schaltjahren hinkommt (sagen die anderen).
Die Himmelsscheibe 2.0 hat am Rand sogenannte Horizontbögen dazubekommen, mit denen man sie waagerecht halten und so die Bewegung der Sonne das Jahr über ablesen kann, eventuell mithilfe des Brockens am Horizont oder auch nicht. Und erst bei der Himmelsscheibe 3.0 kam etwas Religiöses dazu, nämlich ganz unten ein göttliches Sonnenschiff (oder noch eine Mondsichel, sagen andere).
Wenn Aliens die Scheibe finden, würden sie also schlussfolgern, die Menschen hätten sich im Laufe ihrer Geschichte von der Wissenschaft weg und hin zur Religion entwickelt.

Die freundlichen Fliesen auf dieser Wand verraten: Der Schluss wird fahrradfreundlich!

Naja, zugegeben, die Städte am Schluss sind irgendwie seltsam. Eine graue Leere zum Durchfahren mit einem Namen, der klingt, als hätte jemand auf die Ortsschilder geniest.

Aber die Strecke dazwischen ist 1A! Hinter Nebra musste ich an der ersten rotbraunem Felswand vorbeischieben, ab da konnte ich bequem an Fels- und Pflanzenwänden vorbeirasen. Besonders nah kam ich dem Felsen an einer Klippe namens Glockenseck.
Auch bei Kanufahrern ist das Tal sehr beliebt.

Manchmal enthalten die Fels- und Pflanzenwände zusätzlich Alkohol - das Land der Weinberge beginnt! Der erste Wein wächst auf dem Hahnenberg. Der heißt angeblich so, weil die Winzer frühmorgens gemeinsam mit den Hühnern aufstehen - seit 800 Jahren. Dann ist es aber dringend an der Zeit, dass sie auch mal ausschlafen.
Weil der im Kalkboden so gut gedeiht, baut man hier seit 1000 Jahren Rotwein an, am meisten die Zisterziensermönche vor der Reformation. Bei denen sollen die Weinberge eine "heute unvorstellbare" Ausdehnung gehabt haben. Noch viel mehr als heute? Wie kann ich mir das vorstellen, waren die Berge doppelt so hoch? Ja, okay, ich weiß, was unvorstellbar bedeutet.
Hmm, dieses Hin und Her der grauen Weinmauern erinnert mich doch an irgendwas...

Jedes Dorf hat irgendein Weingut. Hm, wenn der Unstrut-Wein so beliebt ist, dann nehme ich mir auch eine Flasche mit. Die ersten Weingüter waren aber (noch) geschlossen.

Woran ich das gemerkt habe?
Wenn hängt der Strauß, schenken Wein wir aus, stand überall dran. Es hing kein Strauß, also auch kein Wein - ebenso eindeutig und energiesparender als ein rotes OPEN-Display.
Aber schließlich stieß ich auf ein größeres Weingut. Die hatten sogar ein Museum eingerichtet mit alten Geräten und vergilbten Listen, auf denen jemand handschriftlich den Tagesablauf eines Weinbauers und einer Bäuerin vor 1945 notiert hatte. Wenig überraschend hatten sie viel zu arbeiten, eigentlich war immer irgendwas. Interessant wäre da jetzt zum Vergleich eine Liste mit dem heutigen Tagesablauf. Was läuft automatisiert, und wie viel Zeit kostet es, stattdessen die Social-Media-Präsenz des Weinguts zu pflegen (etwas, mit dem sich die Bäuerin vor 1945 nicht herumschlagen musste)? Aber vielleicht setzt der Hof auch vollständig auf andere Methoden, um junge Menschen anzusprechen: Neben Wein kann man auch Hanflikör und Hanfkuchen erwerben.
Der mitgebrachte Wein stieß jedenfalls zu Hause auf großes Lob.

Freyburg (wo übrigens auch Turnvater Jahn herkommt, falls den noch jemand kennt) hat einen besonders hübschen Herzoglichen Weinberg mit Fachwerktürmchen. Die Mauern sehen alt aus, sind sie auch, aber anders als die Burg nebenan stammen sie nicht aus dem Mittelalter. Solche Wein-Terrassen werden erst seit dem Barock gebaut. Vorher musste der Wein vermutlich waagerecht aus dem Berg rauswachsen.
Anfang des 20. Jahrhunderts ereignete sich eine Katastrophe. Also, klar, Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Katastrophen, aber schlimmer noch als irgendwelche Weltkriege war für die Winzer ein Insekt: Die Reblaus zerstörte zusammen mit dem Mehltau den Großteil der Pflanzen. Erst amerikanische Anti-Reblaus-Unterlagen brachten die Rettung.

Die letzten Unstrut-Weinberge sind dann noch einmal ungewöhnlich künstlerisch. Einen kaufte der Bildhauer Max Klinger, um mittendrin in seinem Haus Skulpturen zu klopfen.
Und gleich nebenan haben die Bürger ihre Steinfiguren direkt in den Weinberg reingeklopft. Das Ding heißt aus irgendeinem Grund Steinernes Album, obwohl ein Fotoalbum doch ziemlich anders aussieht.
Die Reliefs sind von 1722 und standen die ganze Zeit draußen im Regen rum, kein Wunder, dass die Gesichter und eigentlich auch sonst alles etwas verwaschen aussehen. Zum Glück stehen die Erklärungen am Wegesrand, sonst käme ich gar nicht klar (wobei die Bilder auf den Infotafeln auch keine wirklich höhere Bildqualität haben).

Die meisten Bilder stammen aus der Bibel, mache zeigen auch versoffene Fürsten aus der Region. Die Hauptsache ist, dass das Motiv irgendetwas mit Wein zu tun hat.

Unter diesem Hang zum Alkohol erreicht die Unstrut schließlich den Blütengrund. Der ist fast so idyllisch, wie es klingt, auch wenn eventuell vorhandene Blüten um diese Jahreszeit schon fertiggeblüht haben und grasgrün glühen. Und auch die Unstrut ist nun verblüht und am Ende, denn sie fließt in die Saale rein. Wobei es eigentlich eher so aussieht, als würde die Saale von der Seite in die Unstrut münden und nicht umgekehrt - aber die Saale ist trotzdem länger und breiter.
Direkt dahinter pendelt ein kleines Fährboot zur anderen Seite. Fahrräder passen rein, auch wenn es nicht direkt angenehm ist, das volle Rad mit Taschen die Stufen ins Boot runterzutragen. Außerdem ist der Fahrpreis vergleichsweise hoch. Im Prinzip spricht also nichts dagegen, die Fähre Blütengrund rechts liegenzulassen und noch zwei Kilometer weiter zur Brücke zu fahren. Es sei denn, man hat es eilig oder möchte der Mündung möglichst nahe kommen - denn der Blütengrund ist dermaßen grün zugewachsen, dass der Zusammenfluss sonst nur aus einem bestimmten Blickwinkel mit etwas Abstand zu erkennen ist.

Am anderen Ufer beginnt Naumburg an der Saale, eine eindrucksvolle Stadt aus Arkaden und rotweißen Prachtbauten -  und verdammt alt: Im Jahr 1000 Jahren beschloss ein Bischof, in die Naumburg zu ziehen, die, wie es der Zufall wollte, im heutigen Naumburg stand. Kurz darauf zogen Kaufleute aus dem Unstruttal dazu, denn sie fanden es praktischer, wenn sie einen zentralen Umschlagplatz für leckere Dinge wie Alkohol, Gewürze und (Farb)Stoffe hatten. König Konrad schenkte ihnen ein paar Handelsprivilegien. Das war die älteste urkundliche Stadtgründung Deutschlands. Mit anderen Worten: Es gibt vielleicht ältere Städte in Deutschland, aber die können es nicht beweisen.
Nach der Gründung gab es eine Situation ähnlich wie in Höxter: Einer Doppelstadt im Kalten Krieg, der eine Teil kirchlich, der andere bürgerlich. Erst nach 500 Jahren sorgte ausgerechnet ein Mönch namens Luther aus Versehen dafür, dass die Kirche in den Wirren der Reformation verlor. Heute kann ich nur rätseln, wo die Trennlinie verlief.
Und was passt zu einem Kalten Krieg? Wettrüsten! Als eine der allerersten deutschen Städte schaffte sich Naumburg Feuerwaffen an, weil sie gehört hatten, dass eine Saaleburg durch eine komische, Pechpfeile schließende Wunderwaffe gefallen war.

Naumburg war Friedrich Nietzsches Kindheitsstadt und hat das kleinste Straßenbahnnetz Deutschlands.

Tatsächlich kenne ich die Stadt auch über den Nahverkehr, weil ich dort im 9-Euro-Sommer einmal nachts mit der Bahn gestrandet bin. Und ich muss sagen, es war eine ganz gute Stadt zum Stranden im Sommer. Gut beleuchtet führte eine bequeme Straße als Rampe hinauf in die hübsche Altstadt und sogar ein Restaurant war bis spät geöffnet. Auch wenn der Rest vom Marktplatz trotzdem etwas leer schien.

23 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Hirschberg nach Oberzech

Die Bergbayerngrenze IV

Länge: 34,5 km (+12,5 km Saale +20 km nach Aš)
Grenzquerungen: 6
Bundesländer: Bayern/Thüringen/Sachsen/Tschechien (Karlsbader Region)
Seite: etwas mehr Ost als West
Erkenntnis: Die letzte Etappe wird aktuell noch fertiggebaut.

Finale! Mal sehen, was es auf den letzte Kilometern des Grünen Bands noch so zu entdecken gibt. (Verdammt viel, wie sich herausstellt.)
Erst einmal gibt es die Saale zu entdeckenden letzten großen Grenzfluss des Grünen Bands.

Hinter der Saalegrenze geht Deutschlands Rückgrat weiter - auf und ab wellt sich die Straße, wenn auch etwas weniger auf und ab als gestern. Diese Region nennt sich Vogtland und ragt in drei Bundesländer hinein. Ach, guck an, da ist ja doch noch eine Kaserne.

Doch das ist nichts gegen die Überraschung, die hinter der nächsten Hügelkuppe wartete. Durch das gesamte Tal zog sich wie ein klaffender, verrosteter Strich, ein gewaltiger Zaun. Ist das... der Grenzzaun? So lang? Moment mal, da hinten geht er ja immer noch weiter, bis ins Dorf rein.

Das Dorf heißt Mödlareuth, die Amerikaner nannten es allerdings Little Berlin. Dieser Spitzname passt hier sogar noch besser als in Zicherie-Böckwitz, schließlich ist das wirklich ein einziges, einheitliches Dorf. Es hat sogar denselben Namen, ganz ohne Bindestrich.
Trotz dieser Einheitlichkeit wurden 1810 Grenzsteine am Tannbach verlegt, die das Dorf zwischen Thüringen und Bayern aufteilten. Seitdem hat Mödlareuth zwei Postleitzahlen, zwei Bürgermeister, zwei Landkreise und zwischendurch sogar zwei Wirtschaftssysteme.

Und heute hat das Dorf den längsten, aufwendigsten Nachbau der Grenzanlagen an der kompletten innerdeutschen Grenze. Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht, dass auf den allerletzten Kilometern noch die Anlage in Hötensleben getoppt wird.
Ich konnte mir das Ganze jedoch nur aus der Ferne ansehen, denn: An der Anlage wurde noch gebaut, Arbeiter verlegten die letzten Steinplatten, alle Zugänge waren mit Bauzäunen versperrt. All die neuen Infotafeln und Wege sahen aus wie aus dem Ei gepellt. Das wunderte mich, denn die Grenzzäune schienen mir alles andere als neu zu sein. Wahrscheinlich stand da schon vorher eine Gedenkstätte und es war nur an der Zeit, alles von Grund auf zu sanieren. Die werden ja wohl kaum die alten Zäune 30 Jahre lang mitten im Dorf stehengelassen haben, um erst dann zu überlegen, was man draus machen könnte. Schließlich wollten die meisten Menschen diese dunklen Erinnerungsstücke am liebsten direkt verschwinden lassen. Auch deshalb finde ich diese gigantisch geratene Gedenkstätte überraschend - ist das denn schön für die Einwohner, wenn sie morgens aus dem Fenster gucken und alles sieht fast so aus wie damals?

Über die Grünanlagen hinweg erspähte ich praktisch all das Zeug, das ich bisher am Grünen Band gesehen hatte, an einem Ort versammelt, sogar alte Panzer und Mauern. Mit einer Ausnahme: Es fehlt der typische rechteckige Grenzturm. In die Grenzmauer ist ein komischer halber Beobachtungsturm eingebaut. Ansonsten hatten die Soldaten von Mödlareuth anscheinend bloß die dünnen, runden Billigtürme ohne Heizung. Zumindest bekamen sie im Winter mobile Elektroheizkörper, damit für "Frostsicherheit" gesorgt war.


In Mödlareuth stehen also die letzte große Outdoor-Gedenkstätte und das letzte Indoor-Museum. Als nächstes folgen das letzte innerdeutsche Dreiländereck und das letzte Bundesland. Dazu verlässt die Radroute die Straße und folgt einem Pfad entlang eines Bachlaufs.
Auf dem Bächlein wurde eine imposantes Dreieck aus Pflastersteinen installiert. Obendrauf thront der Dreifreistaatenstein, ein altes Stück Grenzmarkierung in neuer Umgebung. Dieses Gestaltungskonzept hat bei einem Studentenwettstreit gewonnen - zu Recht, diese dreieckige Mischung aus Natur und Pflaster hat was.
An diesem Stein treffen die einzigen drei Bundesländer aufeinander, die sich als Freistaaten bezeichnen. Warum Sachsen, Thüringen und Bayern das machen, weiß keiner so richtig - Freistaat ist einfach nur ein anderes Wort für Republik, in der Weimarer Republik haben sich die meisten Reichsländer so genannt. Manche Sprachpuristen bevorzugen das Wort, weil Republik aus dem Lateinischen kommt und diese verdammten Latinismen unsere schöne deutsche Sprache verhunzen. Aber eine solche Begründung ist vermutlich nicht mal aus Sicht der CSU zeitgemäß.
Sachsen und Bayern hatten hier schon lange eine gemeinsame Grenze. Zumindest ungefähr hier. Wo genau, war umstritten. Um dieses Problem zu lösen, stellte man 1840 den Grenzstein auf, der damals noch Dreiherrenstein genannt wurde.

Anschließend bin ich auf einem gut befahrbaren, sächsischen Kolonnenweg zwischen Windrädern zur Straße zurückgekehrt. Der zweisprachige Wegweiser übersetzt bereits das Wort Kolonnenweg ins Tschechische (Signálka).
Das Grüne Band besteht hier aus einem sogenanntem Offenlandbiotop. Würde man das einfach wachsen lassen, entstünde daraus irgendwann ein Wald. Dann kämen die gefährdeten Arten des Offenlands, die im Kalten Krieg eingezogen sind, aber nicht mehr so gut klar. Deswegen werden die Pflanzen ab und zu vorsichtig gemäht. Das Grüne Band wurde sogar nachträglich verbreitert, nachdem der Vogtlandkreis ein paar private Feldflächen aufgekauft hat.
Auch der KfZ-Sperrgraben hat in diesem Biotop eine wichtige Funktion: Füchse und Dachse verstecken sich darin.

Hm, wenn das hier Sachsen ist, dann grenzen ja ausnahmslos alle neuen Bundesländer an den ehemaligen Eisernen Vorhang. (Sogar Ostberlin grenzt ja an die Berliner Mauer.) Der sächsische Abschnitt ist aber echt kurz, gerade mal 3 % des Grünen Bands (wobei allein auf diesen 3 % mindestens 11 Menschen starben) bzw. etwa 26 Kilometer Radweg verlaufen an der sächsischen Grenze.
Selbst die grausamste Grenze der Welt scheint Berührungsängste mit diesem Bundesland zu haben.

Okay, okay, ich will jetzt keine 26 Kilometer Sachsenbashing betreiben. Aber wie soll ich das hinkriegen, wenn das erste sächsische Dorf verflixt nochmal Grobau heißt?
Vielleicht, indem ich zugebe, dass Grobau echt nett aussieht. Vor allem die Eisenbahnbrücke quer durchs Dorf ist ein prächtiger Anblick. Ich freue mich schon, darauf nachher mit der Bahn heimzufahren.

In Gutenfürst passieren die Züge dann den letzten Grenzbahnhof der Innerdeutschen Grenze. Allerdings fuhren hier bloß Interzonenzüge von München nach Westberlin. In der DDR durfte niemand aussteigen, nur die Grenzer verließen in Gutenfürst den Zug.
Auf dieser Strecke düsten auch die Sonderzüge nach Hof für jene 4500 Flüchtlinge, welche die Westdeutsche Botschaft in Prag besetzt hatten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Die DDR war am Ende eingeknickt und ließ sie raus - aber nur, wenn die Züge noch einmal den Bogen über DDR-Gebiet machen, schließlich könne ja nur die DDR die Menschen aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen.

Noch etwas Letztes gefällig? Wie wäre es mit dem letzten Grenzturm? Moment mal, ist da etwa die Tür offen? Ungeduldig biege ich auf einen miesen Kies- und Kolonnenweg ab. Kann das wahr sein - auf den letzten Kilometern Innerdeutsche Grenze gibt es doch noch einen Grenzturm, wo ich so richtig reingehen kann?
Nö, kann es nicht.
Jedenfalls noch nicht. Aus der offenen Tür ertönten fröhliche Popmusik, im ersten Stock wurde lautstark gebohrt, Werkzeug und Steinstaub lagen herum. Dieser Turm wird erst noch besucherfertig gemacht. Hoffentlich ist er dann auch allgemein zugänglich, zumindest über ein Drehkreuz wie der Bayernturm.

Gleich nebenan verläuft eine Autobahn. Ein Flüchtling versuchte sich an ihrem Verlauf zu orientieren. Gegen die tödlichen Selbstschussanlagen half das allerdings nicht.

Der Weg kurvt auf und ab durch grüngelbe Felder, versteckte Täler und Schluchten. Es ist alles superidyllisch, und doch wäre ich allmählich gern am Ziel, denn meine Waden sind nach vier Tagen intensivem Gestrampel allmählich nur noch so mittemäßig motiviert.
In einem verlassenen Löwenzahntal entdeckte ich den letzten Streckmetallzaun der Strecke - im Wasser. Reste des Eisernen Vorhangs dienen heute als Fischzaun.

Zum Schluss bin ich nochmal ganz kurz nach Bayern hinübergefahren. Ah, da vorne muss es eigentlich schon sein, auf dieser Hügelkette... verdammt, die Kette! Muss die Fahrradkette ausgerechnet jetzt abspringen? Aua, warum ist das Ding auch noch so messerscharf?
Gut, jetzt aber: Da oben muss es sein. Auf der letzten Hügelkette warten die Holzscheunen des Dorfes Oberzech.

Ich entschied mich für eine Abkürzung durchs Dorf, die mir meine App vorschlug. Als ich an der Seite der Dorfstraße herauskam, sausten plötzlich gleich fünf E-Biker auf der Zielgeraden vorbei. Nanu, die ganze Zeit waren die Straßen leer - wo kommen die auf einmal her? Und muss ich jetzt eine La-Ola-Welle für die machen?
An der nächsten Ecke wies mich der Wegweiser Dreiländereck in den Sumpf. Doch bis zu besagtem Eck sind noch ein paar Hindernisse zu überwinden. Heutzutage zwar keine tödlichen, aber doch welche, die einen Radfahrer effektiv ausbremsen: Ein hölzernes Drängelgitter, ein Weg aus Rindenmulch, vorbei am Grab eines unbekannten deutschen Soldaten, dann eine hölzerne Brücke, noch mehr Rindenmulch, noch eine Brücke...
Das komplette Dreiländereck ist durchzogen von den klaren Windungen der Südlichen Regnitz (die später in die Saale mündet), und im Frühling findet man kaum einen besseren Ort für einen sonnigen Spaziergang. In diesem Bach gab es früher den größten Bestand an Flussperlmuscheln in Mitteleuropa. Im extrem heißen Sommer 1947 starben viele Muscheln ab, aber ein paar überlebten, und die Kinder und Enkel (immerhin können sie 50 Jahre alt werden) der Muscheln wuscheln noch heute durch den Grenzbach. Es sieht hier ganz anders aus als an der Ostsee, aber zumindest die Muscheln haben der Anfang und das Ende der Innerdeutschen Grenze als gemeinsamen Nenner.

Aber gehen wir noch ein Stück in der Zeit zurück: Vor langer Zeit galt das schwer zugängliche Terrain als Niemandsland, und die Grenze war eher ein breiter Streifen als eine Linie. Als das Land immer weiter besiedelt wurde, schrumpfte der Streifen zusammen, bis man 1844 die Grenze endgültig festlegte und die Muscheln zum ersten Mal gestört wurden. Sie lagen jetzt im Grenzgebiet von Österreich-Ungarn (zu dem Tschechien damals gehörte), Sachsen und Bayern (die noch eigene Staaten waren). Zu der Zeit war im Eck ordentlich was los, es gab regen Grenzverkehr zwischen den drei Staaten.
Vom Kalten Krieg kann man das natürlich nicht sagen. Auf einmal lag in diesem friedlichen Tälchen das Dreiländereck zwischen BRD, DDR und ČSSR (die Tschechoslowakische Sozialistische Republik). Die Grenzanlagen der DDR gingen in die tschechoslowakischen über. Ob es wohl leichter war, den Bogen über Tschechien zu schlagen und statt einer scharf gesicherten Grenze zwei etwas weniger scharf gesicherte zu überwinden? Ein DDR-Bürger probierte es 1986 auf diesem Weg und hatte Erfolg.
Heute ist der Punkt, international gesehen, nur noch ein Zweiländereck aus Tschechien und Deutschland (Bayern/Sachsen). Ohne Zweifel jedoch ist es ein Eck: Dies ist die Stelle, an der die Spitze Tschechiens weit nach Deutschland hineinragt, der vielleicht auffälligste Punkt, wenn man Deutschlands Umriss auf einer Landkarte anguckt.
Wie markiert man einen solchen Punkt? Die Tschechen haben ihr obligatorisches, ovales Česká-Republika-Schild hingestellt, das man überall an der tschechischen Grenze findet. (Hier ist es deutlich sauberer als am Elberadweg.) Die Deutschen machen es etwas nüchterner mit STAATSGRENZE auf einem weißen Rechteck. Doch das echte Dreiländereck befindet sich in einem grünlichen Ausläufer des Bachs. Ein neuer, dreieckiger Stein ragt aus den Algen und zeigt zweisprachig und übersichtlich an, dass zum Beispiel die Kühe dort hinten zu Sachsen gehören (und vermutlich Müh machen). Daneben stehen noch historische Grenzsteine mit rätselhaften Ziffern, deren Bedeutung ein tschechischer Grenzstein-Nerd auf einer eigenen Infotafel erläutert.

2013 flutete ein schweres Hochwasser das Eck, nur die Bäume und die Spitzen der Grenzsteine guckten hilflos aus den Wassermassen.
Am Ende eines langen Stegs musste ich das Rad schließlich die Schieberinnen einer Treppe hinaufhieven. Erst dann hieß mich der gelbe Wegweiser so richtig in Tschechien willkommen.

Zugegeben, die Tschechen machen es den Radlern nicht zu leicht, ihr Land zu betreten. Aber sie belohnen sie auch gebührlich für die Mühe, und zwar mit hölzernen Schränkchen. Im ersten verbergen sich ein Gipfelbuch und Stempel für Reisetagebücher, im zweiten eine Minibar mit verschiedensten Getränken.
Die E-Radler von e-ben luden mich an ihren Tisch ein, und wir tauschten die Ereignisse unserer Iron Curtain Touren aus. Sie hatten die Strecke in zwei Touren absolviert und in Eschwege unterbrochen. Ich staunte, wie kühl die Getränkedose war, und spekulierte über die übernatürlichen Kühlfähigkeiten des Schränkchens. Die anderen klärten mich auf, dass gerade eben ein Auto weggefahren sei, dessen Fahrer das doch nicht so magische Schränkchen vermutlich aufgefüllt hatte.

Und so erreichte ich im Frühling 2023, als das Grüne Band gelb vom Löwenzahn und meine Finger schwarz und rot von meiner störrischen, scharfen Fahrradkette waren, das Ende der Innerdeutschen Grenze.
Und jetzt? Man muss nicht googeln, um zu wissen, dass Nahverkehr in Oberzech praktisch nicht existiert. Wer zum nächsten Bahnhof will, soll die 17 Kilometer nach Hof an der Saale runterfahren.
Doch irgendwann, als ich diese Tour plante, kam mir auf einmal die Idee: Wenn ich sowieso noch weiterfahren muss, warum soll ich mir dann nicht anschauen, wie die Grenze in Tschechien aussieht? Nur 20 Kilometer entfernt wartet ein tschechischer Bahnhof auf mich, und 20 und 17, och, das ist doch quasi dasselbe.