NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

03 Dezember 2023

Nordsee: Von Nordstrand nach Tønder

Am nächsten Morgen radelte ich einmal quer über die Ex-Insel Nordstrand. Aus der Dunkelheit schälten sich Gruppen von Backsteinhäusern und Bäumen, die alle so ziemlich gleich aussahen. Nun, schließlich gehören sie auch alle zur selben Gemeinde namens, Sie ahnen es, Nordstrand.
Nur ein weißes Haus stach heraus (das ich gar nicht gefunden hätte, wäre ich nicht einmal falsch abgebogen.) Scheinwerfer strahlten seine Wände an. Zu recht, denn es gab etwas zu sehen. Die ganze Fassade war vollgehängt mit Karikaturen, ausnahmslos alle mit irgendwatt Regionalem. Manche wurden auch politisch. ("Aber gehen Sie nicht zu weit raus, die Flut kommt!" - "Das ist Ihre Meinung, ich sehe hier kein Wasser.")

Am meisten gefühlt habe ich in dem Moment jedoch dieses Meisterwerk. Zum Glück sollte diese Karikatur heute nicht Wirklichkeit werden.
Erst morgen wieder.

Ausgerechnet ein Teil von Nordstrand, an dem praktisch keine Menschen wohnen, hat den großartigsten norddeutschen Namen, den man sich denken kann: Strucklahnungshörn. Damit ist im Grunde nur eine Betonkante gemeint. Sie dient als Fähranleger nach Pellworm und zur Hallig Gröde.

Für mich hat Strucklahnungshörn aber noch eine andere Bedeutung: Hier bin ich in jungen Jahren zum ersten Mal wirklich im Watt gewandert. Natürlich nur ein kleines Stückchen raus. Eben nur so weit raus, dass die Eltern brüllen können, dass man nicht weiter raus soll.

Wenn ich das mit dem Cuxwatt vergleiche, ist der Boden schon extrem schlickig - das Schild gestern hatte also recht. Was auf einer 10-Kilometer-Wanderung ziemlich heftig wäre, ist bei einem 10-Minuten-Spaziergang eher ziemlich witzig. Vor allem für 10-Jährige.

Achtung: Im Schlamm lauern wabblige Würmer und blutrünstige Egel. Der Egel ist gelandet, ich wiederhole, der Egel ist gelandet.

Verlassen habe ich Nordstrand zwischen zwei Wassern. Links die Nordsee, rechts eine Salzwasserlagune, dazwischen ein Deich und ein Radweg. Die Lagune wurde da quasi als Kompromiss gelassen, als der ganze Bereich eingedeicht wurde. An der Stelle konnte ich mir am allerbesten vorstellen, dass Nordstrand mal eine Insel war.

Zweimal am Tag fließt das Nordseewasser immer noch durch ein Rohr rein und raus, und der Wasserspiegel der Lagune schwankt immerhin 40 Zentimeter im Takt der Gezeiten. Auf einer sehr, sehr simplen Plattform kann man dem Wasser beim rein- und rausrauschen zusehen.
Eine umgekippte Friedhofskerze und ein umgekipptes Foto eines Gleitschirms erinnern an einen Sportler, der hier verunglückt sein muss. Der Wind kann wirklich gnadenlos sein und lässt nicht mal die Toten ruhen.

Nun war ich im Herzen Nordfrieslands. Hinter dem Deich erstreckt sich der Hauke-Haien-Koog, der von Theodor-Storm-Fanboys nach der Deiche bauenden Hauptfigur aus dem Schimmelreiter benannt wurde. Auf dem Meer reiht sich ein Hügel mit Häusern drauf hinter den nächsten. Da sind sie, die Halligen Oland, Gröde, Hooge, Langeneß und wie sie alle heißen. Winzigkleine, aber bewohnte Inseln - was in Niedersachsen mit Neuwerk die absolute Ausnahme war, ist hier an der Tagesordnung. Wobei diese Inseln ein bisschen anders aufgebaut sind als Neuwerk.
Was mir völlig neu war: Nicht für alle Halligen muss man in ein Schiff steigen. Eine ist sogar zu Fuß erreichbar - ganz ohne Wattwanderung. Ein Damm führt hinüber zur Hamburger Hallig, die sich in der Ferne gut erkennbar in einem seltsamen Zwischenreich von Land und Meer duckt. Laut Google ist die einzige Attraktion der Hallig ein Restaurant, das aber noch längst nicht geöffnet hat.

Alles in allem hat mir diese Etappe sehr gefallen und ich kann sie auch als Tagesausflug weiterempfehlen, dann vielleicht auch in Verbindung mit der Hamburger Hallig. Ich durfte richtig lange am Meer fahren - meine Idee aus Niedersachsen, den ganzen Tag nebenher vom Rad die Veränderung der Gezeiten zu beobachten, wurde so doch noch ein bisschen Wirklichkeit. Morgens war alles grau, doch Stunde um Stunde stieg das Wasser, und das Meer und der Himmel wurden immer blauer.
Deshalb war ich fast gar nicht sauer, als mir irgendwann doch eine Deichbaustelle den Weg blockierte...

...und mich auf die windumtoste Landstraße wies.

Unterbrochen wird der Deich ab und zu von solchen Sielhäusern. An diesem kleinen Sielhafen legen auch Fähren auf die Inseln ab, aber eher unregelmäßig und für die Einheimischen - besser ist es wohl, wenn man sich als Tourist an die größeren Häfen Strucklahnungshörn und Dagebüll hält.

Nanu? Sind das etwa Gleise? Moment mal, gibt es etwa Halligen mit Bahnanbindung? Hier will mich doch irgendwer veräppeln. Die schmalen Gleise ziehen sich einmal schräg den Deich rauf und wieder runter (das heißt, der Deich wird für sie nicht unterbrochen), quer über den Radweg, auf einen Asphaltdamm und... verschwinden im Meer. In eine Richtung, wo gleich mehrere Halligen hintereinander aufgereiht sind wie Perlen auf einer Schnur. Es scheint, als hätte ich soeben die Schnur entdeckt. Aber das kann doch unmöglich... Sicherheitshalber gab ich in den DB-Navigator den Namen  der Insel, Nordstrandischmoor, ein - nein, nichts. Natürlich nicht. Ich habe ja wohl nicht ernsthaft erwartet, dass auf diesem dürren Gleislein gleich der RE von Hamburg zur Hallig Nordstrandischmoor vorbeizischt. Nein.
Die Wahrheit ist noch viel abgefahrener.

Kurz vor Dagebüll entdeckte ich eine zweite Bahntrasse im Schatten eines Leuchtturms. Hier löste ein Schild das Rätsel auf: Auf diesen Gleisen wurde gesegelt!
1900 baute man erstmal nur einen Damm zur Insel zum Zwecke des Küstenschutzes. 29 Jahre später waren dann auf Ebay Kleinanzeigen gebrauchte Gleise (von der Baustelle der großen Eisenbahn nach Sylt) günstig zu haben. Die Insulaner ergriffen ihre Chance: Ab jetzt fuhren die Bewohner mit ihren eigenen Segel-Loren (nicht zu verwechseln mit Segelohren) auf ihre Inseln. Eine Zeit lang war das die einzige Möglichkeit, zum Festland zu kommen, sodass auch Gäste und die Post einstiegen. Eine besondere Ikone wurde Magda Mathiesen alias Käpt'n Marvel Magda. Sie übernahm die Lore von ihrem Onkel und segelte damit bis 1968 hin und her. Dass alle anderen inzwischen irgendwelche neumodischen Loren mit Motor benutzten, juckte sie nicht im Geringsten.

Das wirft bei mir drei Fragen auf:
1. Wie cool ist das denn bitte?
2. Wie funktioniert das? Ich bin kein Experte fürs Segeln, aber bei Gegenwind muss man doch irgendwie im Zickzack hin und her kreuzen - wie geht das bitte auf Schienen?
3. Warum wird das nicht mehr gemacht? Eine Segeltörn auf Schienen würde sicher mindestens so viele Touristen anziehen wie eine gewöhnliche Wattwanderung oder Ausflugsschifffahrt!

Eine Online-Recherche beantwortet zumindest Frage 3: Die Insulaner fahren hier zwar immer noch mit ihren privaten Loren, aber das wird nur geduldet und streng geregelt. Zur Hallig Langeneß dürfen sie nur Angehörige mitnehmen, zur Hallig Oland auch angemeldete Feriengäste - aber auf keinen Fall spontan Fahrgäste mitnehmen, sonst ist der Lorenführerschein direkt futsch.

Der Leuchtturm daneben leitete einst Schiffe in den Hafen. Er wurde sogar zusammen mit dem Deich extra um einen Meter erhöht. Was ihm aber auch nichts nützte, als die Kräfte der Natur das Fahrwasser verschoben.

Dagebüll ist ein liebenswertes Seebad, klein und kühl, sauber und still. Wirklich bemerkenswert fand ich, dass hier endlich mal genau dann eine dieser Fahrradreparaturstationen aufgetaucht ist, als ich sie brauchte. Und außerdem konnte ich hier fast alles nachkaufen, was ich brauchte, obwohl das Ende des Örtchens bereits in Sichtweite war.

Am Föhrhafen legen die Schiffe nach Amrum und Föhr ab. Die Inseln nehme ich mir vielleicht ein andermal föhr.
Markenzeichen von Dagebüll sind die Rampen mit blauen Geländern, die sich in einem überaus langen, barrierefreien Umweg über die Dünen schlängeln, nur um die Gäste dann über eine extrabreite Wattrampe in die Wellen rollen zu lassen. Oder je nach Uhrzeit auch mal ins Watt, nehme ich an.

Nichts fährt ewig. Nördlich von Dagebüll hört der schöne Abschnitt am Meer endgültig auf. Und das ziemlich abrupt.
Mit endgültig meine ich: Das ist der letzte Meter direkt an der deutschen Nordseeküste.

Kurz darauf rumpelte ein Zug voller Autos den Horizont entlang. Hier bin ich definitiv richtig!
Noch etwas hat sich mittlerweile geändert: Die dänische Sprache wandert ein. Ihr Motto: Auf sie mit Gebüll! Um das zu erkennen, musste ich nur die Ortsschilder lesen:
Dagebüll, Galmsbüll, Emmelsbüll-Horsbüll (Doppelbüll!), Maasbüll, Deezbüll, Klanxbüll, Wimmersbüll, Bütjebüll (Wie ging noch das Märchen mit dem Fischer? Meine Frau die Ilsebüll, wüll nicht so, wie ich wohl wüll...), Sterdebüll, Mönkebüll, Efkebüll, Seebüll... gut, das reicht erstmal. Die Orte müssen alle unbedingt auf -büll enden. Andere Namen sind den nördlichen Nordfriesen einfach zu büllig.
Aber erst, als heute Nachmittag in Tønder der grenzüberschreitende Zug nach Niebüll einfuhr und dort Niebøl statt Niebüll dranstand, kapierte ich, dass das ganze Gebüll in Wahrheit die eingedeutschte Version vom dänischen Wort für... Blase ist? Warum habe ich das nicht gleich erkannt, bin ich etwa so ungebülldet... schon gut, ich hör ja auf. Hm, Blase... Wo ist eigentlich die nächste Toilette?

Die einzigen drei relevanten Bülls sind für mich ohnehin Dage-, Nie- und Klanxbüll.
Das verschlafene Klanxbüll besteht aus Vorgärten mit violetten Blumen und einigen enormen Parkplätzen. Die Menschen nehmen hier entweder schmerzlichen Abschied von ihrem geliebten Kraftfahrzeug, oder nehmen es mit auf den Autozug nach Sylt. Diese ganz spezielle Insel steht auch auf meinem Plan, aber noch nicht jetzt. Ich bin ja mit dem Festland noch nicht ganz durch.

Also geht es weiter im Zickzack auf windigen Dorfstraßen. Allerdings nicht der Zickzack, den der Nordseeradweg vorsieht, denn der ergibt für meine Tour keinen Sinn - auf einem Riesenumweg zuerst zur Grenze, aber nicht rüber, und dann wieder südwärts nach Klanxbüll? Nee, ich mache es andersrum.
Nette Kirche, aber wo ist der Turm geblieben?

Nachdem ich zweimal falsch abgebogen und von einem Hund lautstark darauf hingewiesen wurde ("Können Sie mal bitte kurz stehen bleiben, während wir unsere Bestie zähmen?"), schoss ich dann endlich auf der Zielgeraden dahin. Am Wegesrand kam mir ein kleiner Deich immer näher. Auf ihm beginnt das schöne Königreich Dänemark.

Radfahrer queren die Grenze aber erst auf dem Damm von Rosenkranz nach Güldenstern Rudbøl. Ein ausgesprochen schicker Übergang: Die Häuser haben Reetdächer, im Wind wiegen sich die Flaggen und das Schilf am Ufer des Grenzflusses Vidå.

Auf einem Parkplatz prangt eine Karte des dänischen Nordseeradwegs und stimmt schon mal auf den nächsten Abschnitt ein. Mooment, eigentlich wollte ich ja nur Schleswig-Holstein machen. Andererseits - wie weit gilt eigentlich das 49-Euro-Ticket? Bingo, bis zum Grenzbahnhof Tønder, der ersten dänischen Nordseestadt. Dann nehme ich die auch noch mit.

Tønder hat mich sehr an Nykøbing/Falster erinnert. Neben einem Springbrunnen hat es seinen Marktplatz mit seltsamen Holztieren, Holzschiffen und einem Sandkasten ausgestattet. Sehr hübsch alles, aber wo sind die Menschen?

Ach, die dänischen Gässchen haben nach wie vor ihren Charme. Dänemark sieht so friedlich aus. Selbst die Hooligans auf den Fußballaufklebern klingen nicht sonderlich furchteinflößend: Wer hat schon Angst vor den Brøruphus Ultras?
Tønder hat auffallend viele weiße Häuser mit solchen achteckigen Erkern vornedran. 

Sogar das Rathaus ist eins dieser Häuser. Ich dachte mir, ich könnte ja noch in die Kirche schauen, doch soeben hatte ein Gottesdienst begonnen. Damit wäre auch das Rätsel gelöst, wo die Menschen sind: Entweder bei Gott oder beim Essen. Erst weiter hinten im Labyrinth der Gässchen beginnt das Refugium der Außengastronomie, in Tønder muss man sich sein Mahl eben noch verdienen.

Und begrenzt wird diese Altstadt von einem Park an der Vidå (die hier noch kein Grenzfluss ist) mitsamt Wasserfall und Wasserturm (hinten links). Der Fluss ist übrigens auch der Grund, warum die Stadt überhaupt existiert: Geschützt, aber doch mit direkter Verbindung zur Nordsee war das ein Top-Standort, um ganz Europa mit Klöppelspitze zu versorgen. Deswegen bekam Tønder schon 1243 eigene Rechte und ist eine der ältesten Kleinstädte Dänemarks. Für mehr Informationen auf dem Stadtrundgang muss man QR-Codes scannen - bin ich etwa aus Versehen in den Niederlanden gelandet?

Alles schön und gut, aber wo ist jetzt eigentlich die Nordsee? Und wo trifft die Grenze auf das Meer?
Antwort: Nicht am Nordseeradweg.
Sondern in einem Netz aus Kühen und Salzwasserseen im Nationalpark Vandehavet, wo sich gar nicht so leicht sagen lässt, ab wo genau das Meer denn nun anfängt. Also im Prinzip so ähnlich wie heute schon den ganzen Tag. In dem Bereich bin ich nicht mit dem Rad gefahren, sondern mit der Bahn auf dem Weg zum Inselfinale der Schleswig-Holstein-Tour. Wäre doch schade, wenn ich nach einem Tag voller Meergleise nicht auch selbst mit der Bahn auf eine Insel fahren könnte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen