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23 September 2023

Malchiner See

Mitschrift vom Malchiner See

Verehrte Kollegen,
ich hatte versprochen, euch von unserer Expedition zum Malchiner See zu berichten. Auch wenn der Brief deutlich kürzer ausfällt als gedacht, will ich dieser Verpflichtung doch nachkommen. Es sollte eine Expedition in die Einöden Vorpommerns südöstlich von Teterow werden, weitab vom Mittelpunkt der Mecklenburgischen Seenplatte. Bedauerlicherweise war unsere Zoologin verhindert und unser Technikhistoriker erkrankte am Morgen der Abreise. So traten wir die Unternehmung in stark reduzierter Mannschaft an.
Unsere uralten Karten aus dem Jahre 2010 n. Chr. berichten von einem Schlösser-Rundweg von 75 Kilometern, welcher zahllose verfallene und erhaltene, vergessene und unerforschte Paläste rund um den See verbinden soll. Doch angesichts unserer späten Ankunft sahen wir uns gezwungen, die Expedition auf das absolute Minimum zu kürzen und möglichst nah am See zu bleiben, sofern wir rechtzeitig zurückkehren wollten. Hierdurch mussten wir auf die meisten Schlösser verzichten, nach wie handelt es sich also um ein vielversprechendes, unerforschtes Gebiet für weitere archäologische Untersuchungen.

Unsere Reise begann in Bristow. Kaum waren wir angekommen, fiel mir auf: Dies ist kein gewöhnlicher Dorfplatz. Zwar hatte ich bereits gelesen, dass sich hier ein alter Gutshof befinden soll, doch hatte gewiss keine derart umfangreiche Anlage erwartet. Ich konnte kaum das andere Ende des Dorfplatzes sehen. Zugegeben, daran hatten sicher auch die dichten Baumkronen ihren Anteil.
Neben der Dorfkirche stand eine Kapelle, fast ebenso groß und ungewöhnlich kunstvoll für ein Feldsteinbauwerk, vermutlich zu Bestattungszwecken. Ihre Pforten wollten sich für uns jedoch partout nicht öffnen. Dahinter erkannte ich einen Geflügelturm mit Pferdeschwemme und - ist das etwa eine dritte Kirche? Noch größer als die ersten beiden, aber ohne Dach? Die Form des großen Gebäudes lässt dies vermuten, jedoch fehlt jedes Zeichen von einem Kirchturm, und sei er noch so niedrig. Da diese Bauweise in Vorpommern nicht üblich ist und drei Kirchen an einem Ort unüblich wären, müssen wir andere Funktionen in Betracht ziehen. Reste von Getreidehülsen auf dem Erdboden verraten: Es handelt sich um den Gutsspeicher. Wie viele Kubikmeter Nahrungsmittel darin Platz gehabt haben müssen? Ich werde es später ausrechnen.
Weiterhin entdecken wir einen Marstall und ein Wirtschaftsgebäude. Ich untersuche die Ziegel auf ihr Alter und stelle fest, dass die meisten nicht so alt sind wie anfangs vermutet. Die Verzierungen, recht nüchtern und doch überdurchschnittlich verspielt für Mecklenburg-Vorpommern, machen es mir leicht, die Entstehungszeit genauer einzuordnen: Dies ist der Tudorstil aus der Mitte der 1860er. Die Briten waren wieder einmal Inspiration, selbst hier im hintersten Winkel Vorpommerns!
Doch welche Ironie: Ausgerechnet das Gutshaus selbst bleibt unauffindbar, in Frage kommende Gebäude sind deutlich zu jung. Nach längerer Suche entdecken wir schließlich Aschespuren im Erdboden, der Zerfall wir noch genauer untersuchen müssen. Vorerst begnüge ich mich mit der Hypothese, dass das Gutshaus selbst Anfang des 20. Jahrhunderts abgebrannt ist.
Im Zentrum der Anlage, zwischen Teich und Grünfläche, ragt pittoresk ein kleines breites Türmchen in die Höhle. Mir fielen sofort winzige weiße Überreste in seinen Mauern auf. Kein Zweifel: Vogelexkremente. Dies muss der Taubenturm gewesen sein, Zentrum der Nachrichtenübermittlung und gewissermaßen Vorläufer der späteren Trafotürme.

Nun wollte ich auch unseren See unter die Lupe nehmen. Dies gestaltete sich jedoch schwierig, denn er ist kaum zugänglich. Dies war mir bereits bekannt, weshalb ich umso mehr die einzige bekannte zugängliche Stelle in Bristow aufsuchen wollte. Das Wasser ist flach und von hoher Reinheit, der Sand am Grund nahezu weiß. Doch um diesen kurzen, aber angenehmen Strand überhaupt aufzusuchen, bedarf es großer Geduld. Endlos rüttelte mich eine Straße in erschütternd schlechtem Zustand durch, doch die wahre Gefahr stand mir erst noch bevor. Als nächstes kam ich an einer nicht enden wollenden Reihe an Strandhäusern vorbei, welche ihren Abschnitt des Ufers nur für sich gepachtet hatten. Erst wer alle dieser neuartigen Bauten lebend passiert hat, erhält die Möglichkeit, ein schmales Stückchen öffentliches Ufer aufzusuchen.
Ich meinte gerade, es sei nicht mehr weit, als ein haariger Schemen aus einer Gartenpforte schoss. Ein Untier - genau so eines wie das, das sich in Frankenberg an der Eder in meiner Tasche verbissen hatte! Nur deutlich kleiner, offenbar ein Jungtier oder eine kleinere Rasse desselben Monstrums. Nun, die geringe Größe hatte zwar den Vorteil, dass ich in Sicherheit war. Vorerst. Solange ich auf meinem Gefährt blieb, denn dann konnte es selbst meine Beine kaum erreichen. Doch offensichtlich herrscht bei diesen Wesen eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen Größe und Hartnäckigkeit. Das Biest versuchte mich mit misstönenden Lauten einzuschüchtern und folgte mir dichtauf. Offenbar waren wir in etwa gleich schnell. Ich nahm an, es würde irgendwann aufgeben. Doch es blieb. Ich konnte nicht bremsen oder anhalten, denn seinem Auftreten nach bestand tatsächlich die Möglichkeit, dass der kleine Teufel zubeißen würde, sollten meine Beine erreichbar sein. Auf keinen Fall durfte ich jetzt auf dem sandigen Grund ins Straucheln geraten! Mehr als einen halben Kilometer blieb es mir an den Fersen, bis ich es doch noch abhängen konnte.

Aus der Ferne versuchte die Herrin des Untiers es mit Befehlen unter Kontrolle zu bringen. Dabei gab sie mir gegenüber folgende Erklärung ab: Es habe dieses Verhalten zum ersten Mal gezeigt.
Es ist eigenartig. Wohin ich auch fahre, stets verhalten sich Untiere aller Rassen (nach Angaben ihrer Besitzer) zum ersten Mal derart aggressiv, obwohl sie zuvor stets so friedfertig waren wie das gemeine Hausschaf (welches sich am Malchiner See übrigens auch pudelwohl fühlt).
Warum löse ich diese Verhaltensänderung in den Tieren aus? Ist es reiner Zufall? Schicksal? Verströme ich irgendein Parfüm, dass diese Wesen nur bei mir zum Angriff reizt? Der Gestank der Angst? Unsinn - ich bemerke die Ungeheuer ja in der Regel erst, wenn die Attacke bereits begonnen hat, vorher hatte ich folglich auch keinen Grund, Angst zu empfinden.
Dies ist ein Mysterium, welches ich womöglich niemals aufklären werde.

Eine einfache, aber sauber verlegte Straße aus zwei Betonspuren brachte uns gen Norden. Oft säumen Hecken den Wegesrand. Und auf einer davon entdeckte die Botanikerin unserer Mannschaft eine echte Sensation.

Schlehen! Aber keine gewöhnlichen, sondern sage und schreibe viermal so groß wie daheim, beinahe so dick wie Pflaumen. Welch unverhoffte Entdeckung, welch ein Gewinn für sie, wo diese Pflanzen doch eines ihrer Spezialgebiete sind. Trotz unbehaglicher Enge bei vorbeifahrendem Verkehr investierte sie selbstverständlich viel Zeit, um ausreichend Proben dieses bis dato einmaligen Phänomens zu sammeln. Für ihr Fachgebiet hat sich die Expedition bereits voll und ganz gelohnt!
Welche besonderen klimatischen Verhältnisse am Malchiner See mögen diese Früchte derart anschwellen und üppig heranwachsen lassen? Schwer zu sagen. Der Boden scheint eher trocken, und die Felder sind bereits völlig abgeerntet, sodass sie kaum Rückschlüsse über die Erträge der Landwirtschaft zulassen.

Zumindest scheint der See für Hecken und kleinere Bäume ausgezeichnete Bedingungen zu bieten, denn diese umschließen sein Ufer nahezu vollständig, sogar mehr noch als das Schilf, das sonst äußerst dominant auftritt an Mecklenburger Seen. Der Boden bietet die ideale Balance aus Trockenheit und Feuchtigkeit für diese Fauna. Und die stark eingeschränkte touristische Nutzung des Gewässers verhindert, dass die jungen Triebe zertreten werden. Die weiteren Ursachen müssen wir noch ergründen.

Ein Einheimischer pflügt sein Feld mit einer farbenfrohen Maschine, während wir die Nordseite des Sees umrunden. Die Region mag dünn besiedelt sein, doch ist sie längst kultiviert und vom Menschen geformt.

Sogar die Peene wurde zum Dahmer Kanal begradigt. Dieser verbindet das Wasser mit dem Kummerower See und der Stadt Malchin, die unserem heutigen See immerhin ihren Namen geliehen hat. In der Hitze des frühen Herbstes dümpelt das grünliche Wasser träge vor sich hin, kaum eine Bewegung ist zu erkennen.

Es scheint, dass hier ein ungewöhnlich fleißiges Bauernvölkchen lebt - jedes einzelne Feld war restlos braun und leer. Oder werden hier Pflanzen ausgesät, welche besonders früh zum Sommerende geerntet werden?
Am Ostufer, nur ein kurzes Stück von der größeren Straße entfernt, stach uns ein eigenartiges Gebilde ins Auge. Was ist das für ein Turm?

Ein Turm, offenbar vollständig aus Metall errichtet, zu erreichen über eine freiliegende Treppe in rechteckigen Windungen.
Ich hatte eine uralte Karte des Gelehrtenzirkels von Esterbauer auf die Expedition mitgenommen, die einzige, die in unserem heimischen Archiv verfügbar war. Sie stammt aus uralten, längst vergangenen Zeiten, als die Welt noch eine andere war (2010). Ich werfe einen Blick darauf und tatsächlich: Ungefähr hier ist ein Aussichtsturm eingezeichnet.
Unser Aufstieg wird freilich sogleich von einer metallenen Kette verhindert. Warum nur sind uns die Pforten verschlossen? Ein Schild warnt vor Eisschlag, doch scheint mir, dass heute ein Hitzeschlag die weitaus größere Gefahr darstellt. Ist der Turm nicht so stabil, wie es den Anschein hat? Auch unser Architekturhistoriker weiß keine Antwort. Wir wagen es nicht, die Kette aufzubrechen, aus Furcht, dies könnte eine Kettenreaktion auslösen, welche all das aufeinandergetürmte Metall einstürzen lässt.

Das machte uns indes nur wenig aus, da hier sogleich der Höhepunkt unserer Expedition wartete: Basedow. Rinder blieben seelenruhig stehen oder stoben panisch davon, als wir immer tiefer in dieses wahrlich einzigartige Dorf hineinfuhren.
Ich zückte sogleich meine neuartige Filmkamera, um ihre Bewegungen in einem kurzen Streifen bewegter Bilder festzuhalten. Eine unglaubliche Technologie, nicht wahr?

Gasthäuser säumten den Wegesrand, dicht besucht von lachenden Menschen. So viel Gesellschaft kam völlig unerwartet nach der Leere der vergangenen Stunden, und leicht desorientiert blickte ich umher. Doch unsere Botanikerin kannte den Ort bereits und konnte uns zielstrebig zum einzigen Gasthaus weisen, in welchem sich die Zeche mit elektrischem Strom begleichen lässt. Die Speisekarte ist dort auf Milchkrüge gedruckt, welche zugleich als Behälter für Unrat dienen.
Basedow ist, so scheint es, ein Ort mit einer gewissen Anziehungskraft und eine Stätte der Stärkung in der sonst so einsamen Gegend. Man könnte das Dorf glatt Oasedow nennen.

Doch was ist es, was die Menschen überhaupt erst anzog, sodass die Gasthäuser entstanden oder bestehen blieben?
Erneut stehen ein Park und ein auffällig großer Teich im Mittelpunkt, doch was sich um sie herum gruppiert, ist noch ein ganzes Stück bemerkenswerter als in Bristow.
Eine steinerne Säule mit einem an Schlagsahne erinnernden Puschel an der Spitze erinnert an einen gewissen Herrn Lenné. Nanu? Was hat der Erfinder der systematischen Benennung von Tierarten in Vorpommern getrieben? Nein, der Garten spricht eine ganz bestimmte Formensprache: Hier muss ein anderer Lenné, der zweitberühmteste Träger dieses Namens: Der Landschaftsarchitekt und Gärtner Peter Joseph Lenné, welcher auch viele Parks in Berlin und Potsdam erschuf. Nur er könnte die Bauten derart kunstvoll in die Landschaft einbetten und die umgebende Feldflur derart planvoll aufschmücken.

Das Schloss von Basedow, ein Prunkbau in weiß und Backstein, erinnerte mich auf den ersten Blick offensichtlich an die nahen Paläste in Klink (Müritz) und Willigrad (Schweriner See). Doch scheint dieses Bauwerk noch ein ganzes Stück größer und prachtvoller geraten zu sein, die heimliche Königin der kleineren Mecklenburger Seenschlösser. Der älteste Turm scheint aus dem 16. Jahrhundert zu stammen, doch identifiziere ich auch Anbauten aus allen nachfolgenden Epochen. Hier müssen ganze Flügel abgerissen und völlig neu errichtet worden sein. Freilich sind diese Hinweise verwaschen und verwässert zugunsten eines neuen Stils. Irgendwann in den 1890ern muss das Bauwerk noch einmal im Stile der Neorenaissance umgebaut worden sein. Anders lässt sich das doch so einheitliche Erscheinungsbild nicht erklären. Dies deckt sich mit einer überlieferten Äußerung des Kunsthistorikers Udo von Alvensleben über das Schloss: "Es muss einmal sehr prächtig gewesen sein, im 19. Jhdt. wurde es verdorben." Nun ja, Ansichtssache.

Zu der Anlage gehört auch ein Marstall, welcher auch als Schloss für Pferde bezeichnet wird. Aber wer mag im Schlosse selbst leben? Das Portal an der Vorderseite blieb uns verschlossen, also umrundeten wir den Bau auf der Suche nach einem anderen Eingang. Die Rückseite des Palasts machte einen etwas anderen Eindruck: Die weiße Farbe blätterte allmählich ab, Teile des Mauerwerks lagen frei, dort erinnerte nur ein weißer Schimmer an den ehemaligen Anstrich. Zu unserer Verblüffung lag in solchen halbweißen Mauerbögen Heu. Und direkt davor grasten Hausschafe, ruhig und selbstbewusst und kein bisschen furchtsam, als gehöre all das Land ihnen. Schafe, die im Schloss leben! Haben Sie jemals etwas derartiges gesehen?
Kann es sein, dass das Märchen von der Farm der Tiere des Propheten Orwell in Basedow wahr geworden ist? Haben die Tiere die Adligen gestürzt? Doch sind, anders als bei Orwell, nicht die Schweine, sondern die Schafe zu den Anführern der Revolution aufgestiegen. Und sie üben ihre Macht derart raffiniert und heimlich aus, dass niemand begreift, was wirklich vor sich geht - die Basedower Menschen auf der anderen Seite des Schlosses sitzen ahnungslos im Gasthaus und haben offenkundig keinerlei Ahnung, wer in Wahrheit ihr Schicksal bestimmt. Kein Wunder, gelten Schafe doch gemeinhin als Symbol der Schwäche, Fügsamkeit und Ahnungslosigkeit, insbesondere bei Menschen, welche einer Wahrheit über Hintermächte auf der Spur zu sein glauben. Welch raffinierte Täuschung!
Was nun? Sollen die Menschen die Wahrheit verraten? Nein, wir sind nur als Beobachter hier. Es steht uns nicht zu, in den Verlauf der Basedower Geschichte einzugreifen und die bestehenden Machtstrukturen aus einer Laune heraus umzuwerfen.

Und überhaupt: Verstehen wir wirklich, was hier vor sich geht? Oder war doch alles ganz anders? Sind die Tiere in Basedow womöglich schon viel länger an der Macht?
In der Seitenwand waren deutlich Schriftzeichen zu erkennen, anscheinend handelte es sich um eine Art Ahnentafel. Der erste Schlossherr, welcher hier im 13. Jahrhundert sesshaft wurde, trägt den Namen Eckard Hahn! Er entstammt einem obotritischen Geschlecht aus der Nähe von Ratzeburg, erklärt die Tafel - es handelt sich also um einen slawischen Hahn und nicht um einen der Siedler aus dem Westen Deutschlands, welche damals das slawische Land eroberten und zumeist die ersten Bauten aus Stein errichtete. Faszinierend: Wenn er bereit ist, mit den neuen Machthabern zusammenzuarbeiten, kann in Zeiten des Umbruchs selbst ein einfacher Hahn aufsteigen. Seine Nachkommen, die Familie vom Hahn, baute das Schloss immer weiter aus. Zunächst gehörte das Schloss der gesamten Familie als Gesamthandseigentümer, doch dann, wie so oft, nachdem ein Umbruch abgeschlossen ist, konsolidierte und konzentrierte sich die Macht auf einen einzelnen männlichen Oberhahn.
Der letzte Spross der Hähne heißt Friedrich Franz vom Hahn. Ein rechteckiger Gedenkstein, aus dem ein völlig ausdrucksloses Gesicht ragt, erinnert in der hintersten Ecke des Parks an ihn. Laut der Tafel fiel der letzte Hahn 1941 im Krieg. Aber ist das wirklich wahr oder hatten womöglich die Schafe bei seinem Ableben die Hufe im Spiel?
Unter der Tafel stolziert ein grauer Hahn hin und her, eingezäunt wie in einem Gefängnis, plustert sich auf, und doch kann er seinen Bedeutungsverlust nicht verbergen.

Beinahe noch interessanter ist die Basedower Kirche. Auf dem Friedhof fiel uns sogleich das Grab einer gewissen Theresie Gräfin von Hahn-Basedow auf. Biologisch inkorrekt: Da Theresie weiblich war, müsste es natürlich Gräfin von Henne-Basedow heißen. Sie heiratete einen gewissen Graf Hencker-Donnersmark. Welch ehrfruchtgebietender Name! Ein Vorfahre des berühmten Künstlers von Donnersmark, bekannt für sein Bewegtbild Das Leben der Anderen?
demie Wächterin des Gotteshauses zurück: Fotografische Aufnahmen sind nur gegen eine Gebühr gestattet. Hätte ich nur genügend Münzgeld eingesteckt!
Der Chorraum stammt in seinen Fundamenten bereits aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, so viel ist unschwer zu erkennen. Damit ist er weitaus älter als die ältesten Teile des Schlosses. Der Rest der Kirche muss jedoch erst rund 200 Jahre später entstanden sein. Aus Berlin erkenne ich die Handschrift des Architekten Stüler, einem Weggefährten Lennés - ob er dann auch am Park beteiligt war?
Grabplatten säumen die Wände, die zweifellos ursprünglich im Steinboden steckten. Aber nicht nur dort sind Hähne verewigt, auch die kunstvollen Glasfenster zeigen Mitglieder dieser langen Dynastie. Der letzte Hahn war nicht der einzige, der einen gewaltsamen Tod starb. Den Abbildungen zufolge starben auch in den Kriegen davor Männer vom Hahn an Schussverletzungen. Nicht gerade ein Zeichen von Bescheidenheit (wie ja auch nicht gerade typisch für Hähne ist), dass sie ihr Martyrium gleich neben Jesus Christus präsentieren. Dennoch haben die christlichen Motive natürlich die Oberhand. Glasfenster, Epitaphe und kunstvoll bemalte Tafelbilder zeigen die bunte Bandbreite biblischer Begebenheiten. Das Ergebnis ist eine außergewöhnlich farbenfrohe und kunstvolle Kirche.

Doch unter all den schillernden Objekten ragt eines ganz besonders hervor: Die Orgel. Die Unesco-Gemeinschaft verlieh ihr den Status eines Kulturerbes, gilt sie doch als eine der schönsten in Norddeutschland.
Unter einer Kirchenbank entdecke ich eine geheimnisvolle Schriftrolle, laminiert und somit nach deutscher Tradition eine wirksame Urkunde. Anscheinend soll sie eine kurze Chronik des Gotteshauses darstellen. Den Aufzeichnungen zufolge stammt die Orgel aus dem Jahre 1860. Wenn das stimmt, wäre sie die älteste Barockorgel in Mecklenburg-Vorpommern - mindestens! Den Auftrag erhielt der Orgelbaumeister Samuel Gehrke (sein Nachkomme ist bekannt aus Frühstück bei Stefanie). Die Wünsche der Hähne waren derart umfangreich, dass sich Gehrke überfordert fühlte. Also griff er zum äußersten Mittel eines Mannes: Er bat seinen Schwager und seinen Schwiegervater, welche beide Heinrich Herbst trugen, aus Hildesheim. Gemeinsam rauchten die drei ein wenig Kraut in einer Orgelpfeife (vermutlich) und schraubten sodann ein wahrhaft wirres, kunterbuntes Monstrum von Musikinstrument zusammen. Rot, Gold, Blau und Weiß, üppige Ähren, bunte Streifen, verworrene Muster, schnauzbärtige Gesichter, teuflische Fratzen und Orgelpfeifen mit Zähnen starrten mir entgegen, und ganz unten die sogenannten Basedower Löwen, die beim Orgelspiel mit den Augen und Zungen rollen. Es muss ein Spektakel sein, dieses Gerät in Aktion zu erleben.
Die Anordnung der Orgelpfeifen scheint auf eine mitteltönige Stimmung hinzudeuten, und die Schriftrolle erwähnt, sie sei niederdeutsch gestimmt - es ist also möglich, dass die Töne etwas platt klingen. Damit wäre die Orgel besonders gut geeignet für Musikstücke Johann Sebastian Bachs und seiner Zeitgenossen.

Und woraus besteht das übrige Basedow? Aus einer weiteren Kirche, Tagelöhnerkaten (nebst ihren modernen Nachkommen, ein paar kleinen Plattenbauten aus dem Zeitalter des sowjetischen Imperiums), Wirtschaftsgebäuden und Wohnungen für Angestellte, auch diese zum Teil von historischem Wert. Am Straßenrand schrien uns zwei hölzerne Figuren in bunten Farben entgegen, die augenscheinlich Kinder darstellen sollten. Ihre Entstehungszeit konnte ich nicht bestimmen, und auch ihr Zweck bleibt unklar. Sie sehen jedenfalls keinen Heiligen des Christentums dar. Womöglich heidnische Kultbilder aus vorchristlicher Zeit?

Gleich hinter dem Dorf wurde wie ein grüner Klecks ein kleiner See am Waldrand platziert. Er verfügt über einen Steg und einen größeren Zugang, weshalb ihn die Einheimischen rege zum Schwimmen nutzten und ihre furchtsamen Kindern das Schwimmen lehrten. Genau genommen lehrten sie sie zunächst das Zuhören und Nicht-mehr-Kreischen, welches für das Erlernen jeglicher Fähigkeit Grundvoraussetzung ist.

Zunächst setzten wir die Reise auf einem überraschend angenehmen Waldweg fort. Dann jedoch zeigte sich die Auswirkung dessen, dass wir einer Abkürzung anstatt der Schlösser-Route folgten: Den nächsten Abschnitt legten wir gemeinsam mit den großen Schwerlastwagen auf demselben Weg zurück. Da es jedoch das einzige Wegstück dieser Art war, konnten wir dies verschmerzen. So verließen wir den lichten Laubwald erneut.

Nach einer Weile fiel unserem Architekturhistoriker ein Bauwerk einige Meter rechts ins Auge. Es schien eine Ruine eines gewöhnlichen Bauernhauses zu sein, das historische Reetdach halb eingestürzt. Doch in der Tat: Warum sollen denn die Wohnstätten des gemeinen Volkes nicht von weniger wissenschaftlichem Interesse sein als die des Adels? Mutig schritt er voran durch eine Bresche im Mauerwerk. Zögernd wich ich blutrünstigen Dornen der Schlingpflanzen aus und folgte ihm.
Die Mauern waren unvollständig, die einzelnen Zimmer ließen sich jedoch noch unterscheiden. Unbekannte hatten in bunter Farbe rätselhafte Botschaften hinterlassen, die wir noch entschlüsseln müssen. Unser Architekturhistoriker sah ein Kabel aus der Decke hängen und folgerte haarscharf, dass die Bewohner bereits über elektrischen Strom verfügt haben müssen. Doch eine andere Eigenheit machte ihn stutzig. Wie kann es sein, dass eine derart große Fensteröffnung (wenn auch ohne Fenster) das Mauerwerk unterbricht? Glasscheiben dieser Größe kann es zur Entstehungszeit des originalen Mauerwerks noch nicht gegeben haben! Warum sieht der Dachstuhl zum Teil so neu aus und liegt derart offen. Sogleich begriff er: Jemand aus der Moderne muss versucht haben, das Wohnhaus zu seinem Wohnsitz zu machen und es heutigen ästhetischen Vorstellungen anzupassen, vermutlich um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Ob ihm das Geld oder die Lust für dieses aufwändige Unterfangen ausgegangen ist, darüber können wir nur spekulieren. Aber wahrscheinlich war es das Geld.

Rätsel gab auch das Dorf Dahmen auf: Warum scheint eine der Straßen ausschließlich aus kleinen Bahnhöfen zu bestehen, was den Baustil angeht? Obwohl sonst keine Anzeichen einer Bahnlinie zu erkennen sind? Eine Eisenbahndraisine verkehrt erst einige Kilometer weiter im Hinterland, doch zumindest eine Industriebahn soll der Dorfchronik zufolge hier befunden haben.
Hinter den Häusern entnehmen wir eine Bodenprobe, von der wir uns weitere Antworten erhoffen. Sie schmeckt ungewöhnlich süßlich. Kein Zweifel: Hier stand eine Zuckerfabrik, in den niedrigen Backsteinbauten lebten die Arbeiter. Dem Alter der Mauern nach muss die Fabrik Ende des 19. Jahrhunderts existiert haben. Möglicherweise kam die Idee dem lokalen Adel in Bismarcks letztem Krieg von 1871, als sie bereits Pläne für die bevorstehende Friedensperiode schmiedeten. Auch der Dahmer Kanal, den wir im Norden gesehen hatten, könnte dem Zuckertransport gedient haben. In den 1890ern fiel der Zuckerpreis rasant, zudem wurde die Nutzung von Straßen mit Höchstgewichten enger geregelt, sodass 
Dahinter beginnt eine Art Uferpromenade, obwohl das Ufer selbst wiederum größtenteils privatisiert ist.

Das Südufer ist vorwiegend von sumpfartigen Landschaften dominiert, auch hier in größtenteils kultiviertem Zustand. Die Westpeene ergießt sich hier zusammen mit weiteren Gräben in den See. In Flussnähe dominieren flutende oder untergetauchte Pflanzen; ich erkenne Sumpf-Glanzkraut und Kriechenden Sellerie. Kein Wunder: Der Boden ist mäßig reich an Nährstoffen, genau so, wie es das Glanzkraut mag.
Einer der Bäche, der Dahmer Mühlbach, zeigt am Rande Spuren eines deutlich breiteren und tieferen Bachbetts, als sei er einst breiter gewesen. Nicht verwunderlich, kommt er doch aus einer hügeligen Gegend. Wenn er begradigt wurde, hätte das starke Gefälle weiter unten zu einer starken Tiefenerosion bewirkt und übermäßig viel Wasser und Nährstoffe aus dem angrenzenden Moorboden gezogen. Dieser Fehler wurde augenscheinlich durch eine Renaturierung korrigiert.

Dort sahen wir zum zweiten Mal einen breiten, aufgeständerten Holzturm. Die alte Karte verrät nichts von seiner Existenz. Zweifellos dient die erhöhte Lage dem Schutz vor Hochwasser. An den Wänden hingen vergilbte Schrifttafeln mit Abbildungen von Vögeln. Die verlassene Wohnstätte eines verstorbenen Vogelkundlers, kein Zweifel! Ähnliche Bauten kenne ich bereits von der Eder, diese Version ist freilich etwas grobschlächtiger, möglicherweise aufgrund der pragmatischen norddeutschen Mentalität, die sich sogar in den hiesigen Ornithologen widerspiegelt.

Die Sonne befand sich schon recht nah am Horizont, doch erwartete uns noch ein weiterer Ort, über den mir Bruchstücke an vielversprechenden Informationen vorlagen. In Schorssow bogen wir sogleich in einen englischen Landschaftspark ein - es war nicht schwer, ihn als solches zu erkennen, nachdem die Engländer bereits wenige Kilometer entfernt in Bristow als Vorbild gedient hatten. Unsere Botanikerin identifizierte Gingkos und Esskastanienbäume.
Irgendwo hier drin soll sich das klassizistische Schloss des Hofjägermeisters von Moltke befinden. Nur wo? Wir irrten voran und stießen auf eine Ruine, die zweifellos weder klassizistisch noch ein Schloss war. Eine Kirche! Die verfallene Form ließ zwar nur wenige Rückschlüsse zu, aber das Mauerwerk aus einfachen Feldsteinen umso mehr. Brennnesseln verdeckten die Spuren der Geschichte. Dieser Mauern sind wirklich alt, dem Grad der Verwitterung nach müssen sie bereits vor 500 Jahren zerbrochen und zur Ruine geworden sein. Moment mal, vor ziemlich genau 500 Jahren tobte an diesem Ort ein gewaltsamer Erbschaftsstreit zwischen den Familien Preen und Maltzan. Ob die Zerstörung der Kirche womöglich damit... au!
Kaum hatte ich angehalten, um die Überreste genauer zu untersuchen, fiel ein Schwarm blutrünstiger Moskitos über uns her, wie ich ihn nur selten erlebt habe. Panisch flohen wir, ohne weitere Forschungen anzustellen. Das Schloss blieb unerreichbar, und ebenso die nunmehr sogar interessantere Kirchenruine, die ich gern genauer untersucht und, wenn möglich, betreten hätte.
Eine kurze Schätzung ergab, dass jeder von uns schon bei dem kurzen Stopp von etwa einer Minute über 200 ml Blut verloren hatte.

Wir passierten noch ein rätselhaftes Denkmal für die Gefallenen der Weltkriege. Es stand auf privatem Grund und enthielt keinerlei Text. Dennoch: Die halb zurechtgehauene Form des Steins ist unverkennbar, dies muss ein Kriegsdenkmal sein. Vermutlich enthielten die Tafeln verbotene Symbole und wurden daher restlos entfernt.

Im Staube des Geräts eines weiteren Bauern kehrten wir schleunigst zum Ausgangspunkt zurück, mit dem Ziel, unseren Blutverlust möglichst schnell auszugleichen und den Teil des Proviants zu verspeisen, den wir aus Gründen der Gewichtsreduktion in Bristow belassen hatten.

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