NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

01 August 2021

Hunte: Von Elsfleth nach Wildeshausen

Hunte x Hunte

Montagvormittag. Sitze im Zug in Richtung Nordenham. Stelle fest: Ich bin der einzige, der Montagvormittag Lust hat, im Zug nach Nordenham zu sitzen. Auch schön. Fühle mich gleich wie etwas Besonderes.

Zwanzig Minuten später stelle ich fest, dass ich auch der einzige bin, der am Montagvormittag in Elsfleth aussteigt. Bin womöglich einzigartig.

Oder auch nicht, denn ich bin definitiv nicht der einzige, der an einem Montagvormittag mit dem Fahrrad durch Elsfleth fährt. Da sind noch viele andere unterwegs. Aber hallo! Jedes Mal, wenn ich stehenbleibe, zischen ein paar E-Bikes vorbei wie moderne Raumschiffe. Auf dem Kiesweg am Wasser sind spazieren Spaziergänger, ansonsten steht das Städtchen still und unauffällig in der Landschaft rum.

Am Hafen soll ein historisches Segelschiff stehen und ein Museum mit Schiffsimulator, aber die einzigen Schiffe, die ich sehen kann, sehen nicht so richtig historisch aus. Außer man benutzt das Wort als Beleidigung, weil sie ein bisschen abgewrackt sind.

Ein modernes Haus behauptet, es sei eine Hochschule. Das hätte ich Elsfleth nicht zugetraut, eine eigene Hochschule. Genauer gesagt gibt es hier eine Seefahrerschule und ein maritimes Kompetenzzentrum. Das klingt, als würden die da drin entweder Seemannsknoten knoten und Kautabak kauen oder mit hochmodernen Satelliten Schiffsrouten berechnen. Vielleicht auch alles gleichzeitig.

Die meisten Häuser sehen aber weder modern noch historisch aus, sondern einfach nur wie Häuser. Kein Wunder, dass die E-Biker vorbeizischen, ohne sich genauer umzusehen.

Die Radfahrer sind alle auf dem Weserradweg unterwegs. Ich nicht. Ich möchte den Hunteradweg fahren. Bin also doch was Besonderes, wusste ichs doch. Außer auf den ersten paar Kilometern, die ich mit den Weserradlern teile. (Wäre die Freundin nicht krank geworden, würde ich dieses Wochenende genau hier den Weserradweg fahren.)

Die Hunte mündet am Sportboothafen Elsfleth in die Weser. Da ist im Prinzip eine Linie aus Gras und Steinen im Wasser, und mittendrin ist eine kleine Lücke, wo sich die Schiffe auf die Weser rausfahren. Das sieht ganz schön eng aus. Wieso macht man das ist für die Bootsfahrer so schwierig? Naja, vielleicht sieht das auch nur von meinem Blickwinkel so aus. Oder ich sollte einfach nicht von meiner Treffsicherheit auf andere schließen. Für letzteres sprechen jedenfalls meine Erfahrungen beim Basketball in der Schule. Aber ist das echt die Mündung der Hunte?

Nee, die richtige Mündung ist viel breiter und liegt hinter dem Huntesperrwerk. Das Sperrwerk besteht aus einem Haufen großer, gebogener Metallplatten, die im Ernstfall ein Hochwasser verhindern. Dazu gehört auch eine Klappbrücke. Da darf man zu jeder vollen Stunde ein paar Minuten lang rüberfahren. Für die Weserradler ist das eine praktische Abkürzung, bei der sie über die Insel Elsflether Sand fahren und ganz Elsfleth umgehen. (Eine Insel ist das deshalb, weil auch noch irgendwelche anderen Gräben und Arme die Weser und die Hunte verbinden. Einer davon heißt zum Beispiel Rekumer Loch, was nicht direkt einladend klingt.) Im Moment verkündet ein Schild, wegen Bauarbeiten sei das Sperrwerk generell gesperrt, egal wie spät es ist.

Ein älterer Rennradfahrer nähert sich dem sperrigen gesperrten Sperrwerk, liest das Schild und ärgert sich. Anschließend liest er ein zweites Schild und ärgert sich noch mehr, denn auch die Schwenkbrücke für den offiziellen Weserradweg ist gesperrt. Komisch, da bin ich doch gerade erst mit dem Zug rübergefahren. Man soll also Brücke Nr. 3 an der Bundesstraße nehmen. Ich müsste die sowieso nehmen, aber von der Weser aus ist das ein ganz schöner Umweg. Der Mann überlegt, ob er nicht doch nach Bremerhaven zurückfahren soll, was aber noch viel länger ist. Er fragt mich um Rat. Ich kann ihm im Prinzip auch nur das sagen, was auf den Schildern steht. Aus irgendeinem Grund scheint ihn das zufriedenzustellen und er fährt weiter.

Als ich Brücke Nr. 3 erreiche, steht sie senkrecht in der Luft. Das überrascht mich. Erinnere mich vage, auf dem Schild irgendwas von wegen Klappbrücke gelesen zu haben. Dennoch habe ich nicht mit diesem Anblick gerechnet: Ein halber Kilometer Bundesstraße ragt in den Himmel, nur um ein klitzekleines Segelboot durchzulassen, dessen Mast ein klitzekleines bisschen zu hoch ist. Schaue mich um, ob Egon Olsen in der Nähe ist. Als das Boot durchgesegelt ist, senkt sich die Brücke ganz langsam nach unten. Vorne am Asphalt sind so schwarze Gummizacken dran. Ein bisschen wie die Zähne eines grauen Steinriesen, der mit dem Konzept der Zahnhygiene bislang keine Erfahrungen gemacht hat. Schließlich legen sich die Zacken der Brücke auf die Zacken der restlichen Straße. Erstaunlich, dass das bisschen Gummi in der Lage ist, die Brücke zu halten.

Ich schaue in die Karte, wie es weitergeht. Das ist nicht so eine schicke neue Karte vom Esterbauer-Verlag. Diese Karte habe ich in den Tiefen des Internets auf einer leicht altbackenen Website entdeckt, also sofern man das Wort altbacken für Websites benutzen kann. Habe sie dort bestellt und war überrascht, dass ich die gewünschten sieben Euro gar nicht zahlen musste. Nochmal nachgeguckt: Nein, keine Zahlungsdaten in der E-Mail, nirgendwo. Was letztlich aber auch irgendwie fair war, denn die Karte kam auch nicht.

Nach zehn Tagen hatte ich dann mal nachgefragt, wo sie denn bleibt. Es kam eine ganz nette Antwort: Da hat sich leider ein Fehler eingeschlichen, wir hoffen, sie bekommen sie noch rechtzeitig. Bald darauf war sie dann da. Man merkt gleich, dass sich jemand bei der Konzeption der Karte Gedanken gemacht hat. Die Gedanken lauteten: Wie können wir diese Karte so unhandlich und unpraktisch wie möglich machen? Es gibt ja so große Karten zum Auffalten, und es gibt Kartenbücher zum Umblättern. Diese Karte vereint die Nachteile von beidem. Sie besteht aus einer Plastikhülle mit vier mittelgroßen Karten zum Auffalten darin, und rundherum ein gefaltetes Stück Pappe, das diese Karten durch das Prinzip Hoffnung zusammenhalten soll. Aber immerhin, wenn man raufguckt, ist das sehr übersichtlich, weil der Maßstab so klein und die Landschaft so leer ist.

Die erste Karte geht von Elsfleth nach Oldenburg. Auf der Rückseite sind Sehenswürdigkeiten beschrieben. Alle befinden sich ausnahmslos in Elsfleth oder in Oldenburg. Überlege, was das wohl über die Landschaft dazwischen aussagt. Wahrscheinlich, dass sie ziemlich menschenleer ist. Aber andererseits auch nicht so menschenleer, dass das schon eine eigene Sehenswürdigkeit darstellt. Das beschreibt die Wesermarsch eigentlich ganz gut.

In der Wesermarsch gibt es Flüsse, dann kommt der Deich, eventuell ein paar reetgedeckte Häuser, dann nur noch Felder. Und ab und zu ein Entwässerungsgraben, der unter dem Deich durchschlüpft. Wesermarsch klingt so ähnlich wie Wasser marsch. Zu Recht, denn es ist definitiv eine Menge Wasser vorhanden. Überlege, ob ich die Hunte nicht lieber als Gedicht beschreiben soll:

Mein Sattel in der Wesermarsch,
der tut mir etwas weh am...

Nee, lieber doch nicht.

Auch wenn das alles erstmal nicht so spannend klingt, lassen sich hier faszinierende Naturschauspiele beobachten. Zum Beispiel: Zwei Traktoren fahren aneinander vorbei auf einer Straße, die so breit ist wie ein Traktor. Oder das besonders seltene Phänomen: Motorisiertes Fahrzeug überholt Radfahrer unter Einhaltung des vorgeschriebenen Sicherheitsabstands. Oder: Krähe setzt sich einem Schaf auf den Rücken und reißt Wolle für ihr Nest aus. Letzteres wollte ich gern fotografieren, aber leider ist die durchschnittliche Krähe deutlich schneller als meine Kamera. Schade. Da hätte man bestimmt lustige Memes draus machen können. Aber auch so liegen überall Schafe in witzigen Positionen herum. Das bringt mich auf eine Idee: Wieso stelle ich die Hunte nicht in Memes dar? (Für die älteren: Das sind lustige Bilder im Internet, meistens mit weißer, kurzer Beschriftung, die oft ein verbreitetes Schema variieren und häufig Metaphern darstellen.)


Die Schafe sind hier wirklich extrem wichtig, denn eine schüttere, obergräserreiche Grasnarbe mit lockerem Unterboden ist 1962 eine der Hauptursachen für zahlreiche Ausspülungen und Kappenstürze. Ein regelmäßiges Abweiden schafft dagegen eine feste, dichte Grasnarbe und der Tritt der Hufe (Trippelwalze) schließt Wühltiergänge. Der Schäfer, der diese Informationstafel verfasst hat, kann ungefähr so anschaulich und eingängig erklären wie ein Mathematikprofessor.
Auf den ersten 25 Kilometern sehe ich wirklich viele Schafe und fast genauso viele Wölfe, letztere allerdings nur auf Plakaten. Dem Subtext meine ich zu entnehmen, dass die Landwirte den Wölfen gegenüber grundsätzlich erstmal eher negativ eingestellt sind. Was genau die gegen die Wölfe machen oder fordern oder was auch immer, steht da aber nicht. Außerdem weiß ich nicht, ob es dem eigenen Anliegen wirklich nützt, wenn sie Fotos nehmen, auf denen die Wölfe wie niedliche, gutmütige Huskys gucken. Warum nicht ein zähnefletschendes Ungeheuer und darunter eine Forderung wie Mehr Wackersteine jetzt?


Auf einem Aussichtspunkt kann ich über den Deich gucken. Stelle fest: Auf der Hunte sind Schiffe unterwegs. Aber hallo! Das sind nicht nur ein paar Paddelboote, sondern richtig fette Pötte. Damit die von der Weser bis Oldenburg durchkommen, wurde die Hunte an 20 Stellen begradigt. Und zum Ausgleich für die Natur ist in einer der Kurven so ein komischer kleiner See. Zweimal am Tag ist der mit dem Fluss verbunden, wenn Flut ist.
Oldenburg selbst hat übrigens keine Deiche, sondern nur Polder, also so Gebiete, wo das Wasser bei Hochwasser hinfließen soll. Blöderweise haben die Oldenburger ihre Kläranlage, den Osthafen, die Weser-Ems-Halle und die Autobahn in die Polder reingebaut. Tja, da hat mal einmal nicht hingeschaut und schon steht das Haus am falschen Platz, wer kennt das nicht? Die mussten dann jedes Mal woanders einen Ersatzpolder anlegen.
So steht das da auf den Infotafeln. Im Prinzip steht da mehr oder weniger dasselbe wie am Rhein, an der Weser und an den meisten anderen Flüssen. Ich sags mal so: Wer in Deutschland einen großen, nicht begradigten Fluss sehen will, der braucht kein Fahrrad, sondern eine Zeitmaschine.

So langsam wird die Strecke etwas eintönig. Hoffe, dass ich bald Oldenburg erreiche. Erreiche kurz darauf Oldenburg. Freue mich, dass ich gleich im Zentrum bin. Ich muss nur noch diese Straße da überqueren.

Zehn Minuten später keimen in mir erste Zweifel auf. Neben mir stehen ungefähr zwanzig Radfahrer. Sie alle wollen offensichtlich über die Straße. Aber die Autos fahren dicht an dicht. Niemand hält an. Wir warten.
Frage eine Frau, wie lange sie hier schon wartet. Sie zeigt auf ihr Kind und den Mann hinter sich. Sagt, sie hätte hier beim Warten ihren Mann kennengelernt und letztes Jahr hätten sie beschlossen, eine Familie zu gründen. Ich lache. Hoffe, sie macht einen Witz.

Im Mittelalter verteidigten sich die Städte mit Stadtmauern gegen feindliche Angreifer. Heutzutage werden Bundesstraßen eingesetzt. Gegen Radfahrer sind sie sehr effektiv. Und wenn der Verkehr noch ein klein wenig dichter wäre, dann wären sie vermutlich auch gegen Autofahrer sehr effektiv.

Zwei weitere Radfahrer stoßen zur Gruppe. Plötzlich geht ein Ruck durch die Menge. Die ersten preschen in eine Lücke, und die Masse folgt ihnen. Die Autofahrer sind gezwungen, anzuhalten. Ich verstehe. Hier gibt es keine Ampel, stattdessen muss man warten, bis die Wartenden eine kritische Masse erreicht haben. Zum Glück ist (noch) so gutes Fahrradwetter, sonst hätte ich hier übernachten müssen.

Im Zentrum von Oldenburg stehen lauter klassizistische Paläste: ein gelbes Schloss mit Schlossmuseum, ein weißer Prinzenpalais mit Kunstmuseum, so ein Zeug halt. Bestimmt hat die Großstadt auch dunkle Schattenseiten hinter dieser prächtigen Fassade. Aber ich habe gerade keine Lust, die zu suchen - wozu auch, wenn man beim Vorbeiradeln die Fassade bewundern kann. Bin schließlich Tourist.

In Oldenburg wird das Wasser neu aufgeteilt. Zuerst teilt sich die Hunte in Alte Hunte und Neue Hunte. Die Alte Hunte fließt träge durch die Innenstadt und wird an jeder Kreuzung unter die Erde verbannt. Ab und zu darf sie dann wieder rauskommen. Hinter dem Stadtzentrum ist ihr sogar ein längerer Spaziergang im Schlosspark erlaubt.

Im Prinzip wird die Alte Hunte wie alle Alten in der Gesellschaft behandelt - wenn es passt, holt man sie mal raus, ansonsten wird sie ins Altersheim beziehungsweise in die Kanalisation abgeschoben.

Fahre am Schwimmbad von Oldenburg vorbei. Es heißt Olantis Huntebad. Olantis, also quasi Atlantis plus Oldenburg. Denke, mein Gott, welcher kreative Geist hat sich denn das schon wieder ausgedacht. Beschließe dennoch, schwimmen zu gehen.
Im Freibad darf man sogar in der Alten Hunte baden, die jetzt aus irgendeinem Grund plötzlich Mühlenhunte heißt. Die Leute können in einem ganz natürlichen Fluss schwimmen, also quasi. Ich schwimme eine Weile im Fluss. Es ist trübe, aber warm. Normalerweise ein sicheres Zeichen, dass ein Kind ins Wasser gepinkelt hat, aber ich bin gerade der einzige im Fluss. Keine Ahnung wieso, aber die schwimmenden Vormittagsrentner ziehen alle das gekachelte 50-Meter-Schwimmbecken vor. Obwohl, andererseits, wozu sollte man auch schwimmen, wenn man nicht genau weiß, wie weit man geschwommen ist? Da könnte man ja auch gleich in der Natur joggen gehen statt auf dem Laufband.
Es gibt ja in Deutschland einige Freibäder, wo man sowohl in einem Becken als auch in einem Natursee baden kann, aber das ist das erste Mal, dass ich so was mit einem Fluss sehe. Hätte gar nicht gedacht, dass das in Deutschland so einfach geht. Könnte ja gefährlich sein, von wegen Strömung und so. Aber Tatsache, es geht. Man muss halt nur vorher einen neuen Flussarm bauen, über den die Mühlenhunte außenrum fließen kann, den Fluss auf der einen Seite mit großen Steinen abdichten und auf der anderen Seite mit einem Netz, das an einem Steg hängt, und einen flachen Sandstrand aufschütten. Da sage noch einer, in Deutschland sei immer alles so kompliziert.

Am Ausgang von Oldenburg teilt sich die Neue Hunte schon wieder, diesmal in die Hunte (also den normalen Fluss) und den Küstenkanal. Dazwischen führt ein Kiesweg entlang, links und rechts tauchen in regelmäßigen Abständen Ruderbootclubs auf. Die haben hier die einzigartige Auswahl, ob sie ihr Boot links oder rechts ins Wasser setzen.
Der Küstenkanal fließt mit der Alten Hunte zusammen und geht dann quer durch bis zur Ems. Hier biegen dann auch die ganzen großen Pötte ab. Die können auf diesem Kanal einmal ganz Ostfriesland abkürzen.

Am Friedhof von Wardenburg steht ein besonderer Turm. Was den Turm so besonders macht, ist, dass  er nicht religiös ist. Da drin wurden nur Glocken geläutet und Wache gestanden. Okay, ich vermute mal, die Glocken wurden schon auch für den Gottesdienst geläutet, aber trotzdem war das im Prinzip, also an sich, kein Kirchturm. Es verrät viel über den Einfluss, den die Kirche damals hatte, dass man so einen Turm nirgendwo sonst in der Region finden kann. Der einzige Turm für Atheisten. Damit die auch mal einen Ort haben, um reinzugehen und ganz in Ruhe nicht zu beten.

Bestimmt bin ich nicht der einzige, der da an den Film Willkommen bei den Sch'tis denken muss, wo der eine Einwohner versichert, ihr Turm mit dem Glockenspiel drin sei "nichts Religiöses", in deinem Tonfall, in dem man auch "nichts Unanständiges" sagen würde.

Ab jetzt ist die Hunte also ein kleiner Fluss ohne große Schiffe, der ganz natürlich fließen darf. Also außer, das beeinträchtigt die Menschen irgendwie. Und auch nur für wenige Kilometer. Und auch nicht da, wo sie ursprünglich geflossen ist. Und genau genommen doch ein ganz klein bisschen begradigt. Aber sonst - ganz natürlich.
1996 wurden zwei alte Flussarme wieder angeschlossen, und eventuell kommt in Zukunft vielleicht noch einer dazu.

Ich darf eine ganze Weile am Fluss fahren, aber irgendwann sind auf dem schönen Deichweg keine Fahrräder und Hunde mehr erlaubt. Das mit den Hunden wird auf dem Schild genau erklärt: Immer wieder werden tote Schafe im Wasser gefunden, weil sie vor Joggern oder Hunden in Panik geraten und sich gegenseitig in die Hunte schubsen. Da frage ich mich schon, wie die Spezies Schaf ohne den Menschen überhaupt überleben konnte.

Es folgt ein kurzer Abschnitt, wo die Wege ziemlich wild sind.

Ich holpere durch den Sand am Tillysee. Ein Schild verbietet so gut wie alles, was die Natur irgendwie beeinträchtigen könnte. Gute Wege gehören leider offensichtlich auch dazu.

Auch die Beschilderung ist manchmal ein bisschen schwierig zu finden. Verfahre mich das einzige Mal so richtig auf dieser Tour. Verglichen mit meiner üblichen Leistung ist das ziemlich gut.

Laut Karte komme ich nun vorbei am sogenannten Freizeitpark Ostrittum. Da gibt's keine Achterbahnen, sondern ein paar Wildtiere, Spielplätze und einem Märchenwald. Also für kleinere Kinder im Prinzip super. Ich find's nur seltsam, dass man dafür dasselbe Wort benutzt wie für ein riesiges 50 Euro teures Areal, wo lauter hohe Achterbahnen und anderes wahnsinniges Zeug steht.

Ein Biobauernhof hat die Verkaufsstrategie übernommen, mit der Bahnhöfe den Reisenden uralte Schokoriegel andrehen: Ein Automat schmeißt gegen Münzeinwurf Chips, Schokoaufstrich, Käsesuppe im Glas und tausend Sorten Fleisch und Wurst raus. Zum Glück wird das Zeug gekühlt. Das steigert mein Vertrauen in diesen Automaten ungemein, sodass ich mir tatsächlich etwas hole.


Als mir die Fahrradkarte zugeschickt wurde, stand im Brief Vielen Dank, dass Sie sich für den Naturpark Wildeshauser Geest interessieren. Da hatte ich dann ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Dass ich mich für den Naturpark Wildeshauser Geest interessiere, kann man so jetzt nicht direkt sagen. Ehrlich gesagt wusste ich bis dahin überhaupt nicht nicht, dass so etwas wie ein Naturpark Wildeshauser Geest überhaupt existiert. Ich weiß eigentlich nicht mal, was überhaupt eine Geest ist. Ich dachte, das sei irgendwie das Land hinter der Küste, mit Deichen und so. Also quasi wie die Küste, nur ohne das Meer.
Stelle nun fest: Totaler Quatsch. Die Wildeshauser Geest ist im Prinzip ein Wald. Ein wilder, schöner, uriger Wald, und mittendurch schlängelt sich die Hunte, so richtig norddeutsch und ein bisschen geheimnisvoll. Genau genommen sogar sehr geheimnisvoll: Plötzlich komme ich auf einer Kreuzung raus und sehe, dass ich laut Wegweiser links abbiegen soll. So weit, so gut, passt auch zu dem, was die Karte sagt. Komisch ist nur, dass ich laut dem Wegweiser genau aus der gegenüberliegenden Richtung hätte kommen müssen. Wie kann das sein? Der Wegweiser sitzt fest, er wurde nicht verdreht. Funktionieren Raum und Zeit in diesem Wald anders? Oder habe ich mich womöglich schon wieder verfahren? Ich werde es wohl nie erfahren.

Wald ist aber nicht die einzige Landschaft, die es zu sehen gibt. Zumindest laut den Straßenschildern. Die Straßen hier heißen alle MoorwegHeideweg, Waldweg oder so ähnlich. Überlege, das ist ja eigentlich schon ein Privileg, wenn man so viele Landschaften hat, dass man alle Straßen danach benennen kann. Würde man das in Nordafrika machen, dann hießen alle Straßen Wüstenweg. Oder im Norden von Sachsen-Anhalt - überall nur Ackerweg. Wäre für die Orientierung auch eher suboptiomal.

Vom Moor sehe ich nichts, das ist zu weit weg vom Radweg. Aber für die Heide ist ein nur ein kleiner Umweg nötig, den nehme ich gern auf mich. Ich habe die Heide jetzt schon in vielen Jahreszeiten gesehen und bin gespannt, wie sie im Juli aussieht, kurz vor der Blüte. Stelle fest: Gar nicht mal so interessant. Da ist alles grün, sieht fast so aus wie normales grünes Gras oder Getreide. Tatsächlich finde ich Heidepflanzen im Dezember interessanter, da ist noch viel von der violetten Farbe aus dem Sommer übrig.
Die Bewohner der Heide stört das nicht. Also, glaube ich zumindest. Denn die sind ja schon lange tot. Unter dem Heidekraut wurden nämlich Leichen aus der Steinzeit bestattet. Eins muss man den Steinzeitmenschen lassen, sie haben sich schöne Orte für ihre Friedhöfe ausgesucht.
Der erste Friedhof liegt in Döttlingen und besteht aus richtig großen Steinen. Die liegen zwar nicht mehr so aufeinandergestapelt wie ursprünglich geplant, aber allein die Tatsache, dass da so viele Riesensteine liegen, zeigt eindeutig, dass die da nicht von allein hingekommen sind. Die Grabstätte heißt Glaner Braut. Ein Name, der Fragen aufwirft. Es wird vermutet, dass die Menschen damals wirklich Friedhöfe als ideale Location für eine Hochzeit angesehen haben. Was erstmal seltsam klingt, aber eigentlich hat sich, seit das Christentum dazukam, gar nicht so viel geändert - jetzt ist halt nur die Wand einer Kirche dazwischen.
Der zweite Steinzeitfriedhof ist eine Nummer größer. Der heißt Pestruper Gräberfeld und besteht aus großen, länglichen Hügeln. Die türmen sich in der Heide auf wie Wellen, nur dass sie sich halt nicht bewegen. Abends im Mondschein ist das schon ein magischer Anblick. Hat was.

Also insgesamt ist die Wildeshauser Geest schon echt eine super Landschaft, wenn man auch mal auf Berge und so verzichten kann. Mittendrin ist da auch noch die Stadt Wildeshausen. Die ist auch super. Zum einen ist da eine historische Altstadt, neben der Kirche steht sogar das älteste Haus im Oldenburger Land. Und dann hat diese Altstadt auch noch ein Nachtleben. Zumindest ein bisschen. Sprich: Ich konnte zwischen gleich drei geöffneten Restaurants wählen, und die waren alle gut besucht. Mitten im ländlichen Niedersachsen während einer Pandemie ist das definitiv eine Erwähnung wert.

Beschließe, im Ratskeller etwas zu essen. Das Rathaus war in der Vergangenheit schon eine Markhalle, ein Gefängnis und Feuerwehrhaus, da ist ein Restaurant wahrscheinlich nicht weiter ungewöhnlich. Am Nebentisch sitzen sieben ältere Herren. Einer von ihnen beschwert sich bei der Kellnerin, sein Bier sei zu kalt.
Das überrascht mich.
Die junge Kellnerin offenbar auch. Sie erklärt dann aber ganz routiniert, dass sie nur die eine Zapfanlage hätten, die das Bier nun mal so kalt macht und es aus ökonomischen Gesichtspunkten, da die meisten Gäste kaltes Bier nun mal lieber mögen, keinen Sinn ergäbe, eine wärmere Zapfanlage zu erwerben, falls es so eine überhaupt gibt. Der Herr zeigt angesichts dieser betriebswirtschaftwissenschaftlichen Ausführungen Verständnis und bestellt ein zweites Bier.
"Ihr dürft das trinken, ihr seid ja schon groß. Ihr seid doch über 16, oder?", witzelt die Kellnerin.
"Ja, oder wie man bei uns sagt: Pflegestufe 2.", entgegnet ein anderer Senior.
Denke mir, Generationenkonflikt ist in Wildeshausen offenbar ein Fremdwort. Wie schön wäre es, wenn Alt und Jung immer so unbeschwert miteinander umgingen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen