NEU! Das Bergparkleuchten - leuchtende Wasserfälle in Wilhelmshöhe

Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

02 August 2021

Hunte: Von Wildeshausen nach Lemförde

Dumm, Dümmer, am dümmsten oder: Was der deutsche Nahverkehr mit russischen Puppen zu tun hat

Dienstagmorgen. Ich erwache. Brauche einen Moment, um herauszufinden, wo ich bin. Liege offenbar im Wald. Über mir verblassen die letzten Sterne zwischen den Zweigen. Bin entzückt, aber auch verwirrt. Erinnere mich vage. Habe gestern versucht, anhand der letzten Sonnenstrahlen auf der ausgehängten Landkarte zu erkennen, wo die Naturschutzgebiete enden, wo ich also einigermaßen legal im Wald schlafen darf. Der letzte Zug war schon weg. Da war auf der einen Straßenseite das Naturschutzgebiet Pestruper Gräberfeld und auf der anderen Seite das Naturschutzgebiet Rosengarten. Keine Ahnung, wieso das so heißt. Es ist halt einfach ein dichter Wald.

Stehe auf und gehe ein paar Schritte. Treffe auf eine Bundesstraße mit Radweg. Esse Frühstück in einer Bushaltestelle und entscheide dann, der Straße zu folgen. Kürze mir dadurch viele Kilometer ab. Komme an 500 Bäumen vorbei. Die wurden als Ersatz für ihre älteren Kollegen gepflanzt, die eine Windhose 2017 abrasiert hat.


In Goldenstedt überspannt ein Kunstwerk die Hunte. Es besteht aus gebogenen bunten Stangen, an denen Seile mit Goldmünzen dran baumeln. Die Goldmünzen konnte ich kaum erkennen, vielleicht wurden sie auch geklaut. Das Kunstwerk heißt Goldregen, es bezieht sich auf die Märchen und Sagen, die sagen, dass ein Schatz am Ende des Regenbogens liegt (obwohl der bei diesem Kunstwerk ja gar nicht am Ende liegt, sondern aus der Mitte rausregnet, aber das ist vielleicht auch Haarspalterei).
Im Prinzip also ein ganz harmloses Thema. Eigentlich. Aber wie wir diesen Sommer gelernt haben, ist so ein Regenbogen alles andere als harmlos, sondern ein brandgefährliches politisches Statement. Hätte man diese Brücke über die Donau genau neben die ungarische Grenze gebaut, dann hätte sie wahrscheinlich eine außenpolitische Krise ausgelöst und wäre europaweit in den Schlagzeilen gelandet. Aber sie überquert nun mal die Hunte, und dieser Fluss passiert gar keine Grenze (nicht einmal zwischen zwei Bundesländern).
Dennoch lassen die aktuellen Ereignisse eine neue Interpretation des Kunstwerks zu: Wenn in Ungarn demnächst solche Regenbogenbrücken verboten sind, könnte dadurch auch der Goldregen der EU ausbleiben.


Mir fällt etwas auf. Eigentlich sollte aus meiner Tasche ein Laptop ragen. Den habe ich mitgenommen, um in der Bahn ein bisschen zu schreiben. Sehe nun: Er ragt nicht mehr aus der Tasche. Fluche. Durchwühle die Tasche. Fluche. Kehre sofort um und fahre fluchend 20 Kilometer zurück. Komme zu dem Schluss, dass der Laptop vermutlich an der Bushaltestelle Pedestrup liegt, wo ich gefrühstückt habe. Halte unterwegs zwei Busse an und frage sie, ob jemand einen Laptop aufgesammelt hat. Beide entgegnen, sie würden da gar nicht langfahren. Einer kennt nicht mal das Dorf. Wundere mich, dass die Busfahrer sich so wenig in der Gegend auskennen. Stelle später fest, dass es daran lag, dass ich mir den Namen falsch gemerkt hatte. Das Dorf hieß Pestrup, Pedestrup liegt in Dänemark. Fluche. Erreiche die Haltestelle. Nichts. Fluche. Fahre weiter zum Schlafplatz und durchwühle den Wald. Fluche. Gucke nach, ob ich die 20 Kilometer sinnlosen Rückweg irgendwie sinnvoll per Bahn überspringen kann. Fluche. Fahre die 20 Kilometer zum Dritten mal. Beruhige mich umgehend und setze die Tour fort, weil, hilft ja nix.

Esse in Barnstorf erstmal einen Eisbecher für meine Nerven. Gegenüber steht eine Wassermühle. Die sieht zwar ganz schick aus, erscheint in dieser Region aber seltsam deplatziert. Der Schein trügt nicht: SCHWARZWALD Wassermühle verkünden die Buchstaben auf der Gartenmauer. Die hat sich aber ganz schön weit in den Norden verirrt.


Im nächsten Dorf wächst eine Hecke. Sie ist sehr lang, extrem breit und irrsinnig hoch. Frage mich, ob das wirklich nur eine Hecke ist oder was genau da von den Kriechpflanzen versteckt wird. Vielleicht will ich das auch gar nicht so genau wissen. Will es dann aber doch wissen und gucke um die Ecke. Sehe verschiedene Fahrzeuge. Kann nicht erkennen, ob die einfach ganz dicht an der Hecke dranstehen oder halb in die Hecke geparkt sind, als offene Halbheckengarage quasi.

Die letzte große Stadt auf dieser Reise ist Diepholz. Das sieht etwas größer und moderner aus als Wildeshausen, dafür ist weniger los. Naja, ist ja auch Dienstagmittag. Ein Flussarm namens Lohme fließt hier mit der Hunte zusammen, von dem zweigt der Schlossgraben ab.


Diepholz ist stolz auf sein Schloss und kümmert sich liebevoll darum, behauptet eine Tafel. Angeblich ist da ein Museum drin und man kann sogar den Turm besteigen. Entdecke jedoch nur den Eingang zum Amtsgericht und zum Grundbuchamt. Finde Diepholz jetzt aber nicht so toll, dass ich mir da gleich ein Grundstück kaufen will.


Ist auch nicht weiter schlimm, denn im Schlosspark steht auch schon so eine Art Gratismuseum. Sprich: Da stehen Vitrinen mit kleinen Bildern und viel Text. Ein Text erzählt die Geschichte der Grafen von Diepholz. Im Großen und Ganzen lässt sich das folgendermaßen zusammenfassen: Die haben sich überall in Niedersachsen und woanders eingeheiratet, mit adligen Frauen aus Hoya, Oldenburg, Waldeck, Sternberg, den Königen von Schweden... die meisten dieser Orte kenne ich sogar.

Hier startet ein Skulpturenpfad. Den Anfang bildet eine Vitrine mit Tonfiguren. Die wurden von Schulkindern aus afrikanischem Lehm geknetet. Bei einigen lässt sich eine ungefähre Tierart erahnen. Andere Kinder sind künstlerisch schon weiter entwickelt: Bei ihnen erkenne ich genau so wenig wie bei den erwachsenen Künstlern weiter unten am Skulpturenpfad.

Macht ja nichts, zum Glück wird alles erklärt: In der temporären Skulptur Raumschwingen drückt sich das Ambivalente des Seins dadurch aus, dass zum einen in der Lebenskraft der Raumschwingen der Wunsch sich zeigt, die Räume der Zeitgebundenheit zu überwinden, zum anderen aber die Quelle und damit der Ursprung dieser Lebenskraft an die Ebene des Materiellen gebunden ist.
Joa, ach, da wär ich wahrscheinlich auch selber drauf gekommen.

Das hier ist zufällig die Gegend, wo der Schriftsteller Horst Evers seine Kindheit verbracht hat, bis er irgendwann nach Berlin gezogen ist. Wandle nun auf den Spuren dieses großen deutschen Dichters.

Denke mir, hm. War das wirklich so eine gute Idee, diesen Blogeintrag im Stil von Horst Evers zu schreiben? Andererseits weiß ich eh nicht, ob man da so einen großen Unterschied bemerkt. Immerhin schaffe ich es eh nicht, seinen Stil so hundertprozentig zu treffen, und außerdem hat mich sein Humor schon länger beeinflusst. Glaube ich. Zum Beispiel bekomme ich oft zu hören, dass ich das Wort quasi ja quasi genauso oft benutze wie Horst Evers, also quasi.


In seinem neusten Buch schreibt er über den Dümmer See. Von wegen, dass in seiner Kindheit immer alle Leute sehr skeptisch angeschaut wurden, die freiwillig hierher reisen. Und dass sogar der Bürgermeister mal gesagt hat, dass hier bloß Leute Urlaub machen, für die richtiger Urlaub zu weit oder zu aufregend ist. Dieser Text hält die Leute aber nicht davon ab, trotzdem hier Urlaub zu machen. Am Ufer erhebt sich eine Reihe sauberer Strände, moderner Hotels, Segelboote, Bootsclubs und Restaurants, erst dahinter geht das normale Dorf los.
Beschließe am erstbesten Strand, eine Runde zu schwimmen. Das Wasser ist warm und flach. Ich wate und warte, das Seil kommt immer näher, dahinter darf ich nicht weiter. Schaffe es gerade so, vor der Absperrung vernünftig zu schwimmen, ohne ständig gegen den Boden zu stoßen.
Bin der einzige im Wasser und der fast der einzige am Strand. 100 Meter entfernt sitzt ein alter Mann auf einer Bank und beobachtet mich skeptisch. Horst Evers hatte mal wieder Recht. Fühle mich etwas unbehaglich und beschließe spontan, lieber in Badehose und T-Shirt weiterzuradeln, statt mich hier nochmal umzuziehen.
Die Hunte fließt durch den Dümmer See durch, auch die Lohme aus Diepholz kommt aus dem See rausflossen und sprudelt über eine Fischtreppe. Bin nicht sicher, welchen Höhenunterschied die Fische auf dieser Treppe überwinden sollen. Es ist alles flach und ich sehe weit und breit keine Schleuse.


Überall heißt es, der Hunteradweg führt Von Elsfelth bis zum Dümmer. Das ist irgendwie komisch, denn der Dümmer ist ein See und keine Ortschaft. Die Karte zeigt noch ein kleines Stückchen vom See und lässt die rote Linie einfach kurz vor dem Wasser abbrechen. Will die letzten Meter geradeaus bis zum Ufer fahren und lande prompt auf einem Privatgrundstück.
Wahrscheinlich soll das darüber hinwegtäuschen, dass es eben keine richtige Stadt mit Bahnhof direkt am Dümmer gibt, die sich als Schlusspunkt eignet. Finde nur lauter kleine Orte, die meistens mit Lem- beginnen: Lembruch, Lemwerder und Lemförde. Letzteres liegt noch ein Stück weiter südlich und hat dann auch einen Bahnhof, ist aber auf der Karte nicht mehr drauf.
Habe auf der letzten Radtour zum Glück eine Broschüre mit einer kompletten Karte vom Dümmer gefunden. Ein 18-Kilometer-Radweg führt um den See. Normalerweise würde ich da einmal komplett rumfahren, aber dann müsste ich ja eine Seite doppelt fahren, weil ich von Norden komme und nach Süden zum Bahnhof will. Fahre deshalb nur am Ostufer. Im Westen verläuft der Radweg sowieso an der Straße. Im Osten dagegen kann ich auf einem roten Kiesweg am See fahren. Muss dazu allerdings ständig Fußgänger und Graugänse aus dem Weg klingeln.

Durchquere das Naturschutzgebiet Hohe Sieben. Das ist ein seltsamer Name für einen Sumpf. Betrete einen Steg und wandere durch das Schilf. Beobachte eine Entenmutter mit ihren Küken. Normalerweise sieht man die im Stadtpark, wie sie brav in einer Reihe hinter der Mama herschwimmen. Hier sehe ich die aber quasi in ihrem privaten Bereich, und da geht es alles andere als ordentlich zu. Die Küken schwimmen wild durcheinander durch ihr unaufgeräumtes (und überflutetes) Kinderzimmer. Ich versuche, alle zu zählen, aber ich gerate ständig durcheinander. Baumstümpfe, Grasbüschel, Äste und Entengrütze... Moment, was ist das für ein blaues Vogelküken? Das ist ja gar keine Stockente, sondern noch eine andere Art. Wahrscheinlich ist die gerade zum Spielenachmittag da.

Ich bin ja generell kein Fan der Idee, Wörter klein zu schreiben, die eigentlich groß geschrieben werden, nur weil das irgendwie modern und stylisch aussieht. Aber wenn man das bei dem Wort Dümmer macht, dann wirkt diese Idee gleich noch viel dümmer.

Der See wird manchmal einfach Dümmer genannt und manchmal Dümmer See. Überlege, welche Bezeichnung die Einheimischen wohl in Wahrheit benutzen. Will mich ja nicht gleich als Tourist outen. Andererseits - will ich mich etwa als Einheimischer aus dieser Region ausgeben? Frage mich, was wohl peinlicher ist - freiwillig hierhin zu reisen oder freiwillig hier zu leben.

Komme zu dem Schluss: Eigentlich keins von beidem. Der Dümmer ist doch super! Superflach, superweit, supergrün, ganz ähnlich wie das Steinhuder Meer. Und super übervögelt. Aber hallo! Hier sind viele Vögel unterwegs. Das bedeutet zwangsläufig, dass in regelmäßigen Abständen so ein hölzerner Aussichtsturm stehen muss, wo man anhand der Bilder auf einer vergilbten Plastiktafel die einzelnen Vogelarten identifizieren kann. Also rein theoretisch. (Auf meinen Reisen ist mir das bisher nur zweimal gelungen.). Im Norden steht der Nordturm, im Osten der Ostturm, im Süden der Südturm und im Westen war ich ja wie gesagt nicht, aber ich vermute mal ganz stark, da steht der Westturm. Einer der Aussichtspunkte hat komische Plastikscheiben mit Löchern, die man über die Fenster schieben kann. Keine Ahnung, was das bringen soll. Ist ja nicht so, dass die Vögel dadurch besser vor dem Lärm der Leute geschützt sind, wenn die Leute das Fenster nach Belieben öffnen oder schließen können und rundherum sowieso alles offen ist.

1860 wurde ernsthaft geplant, den Dümmer trockenzulegen. Weil dann ja viel mehr Platz für die Landwirtschaft und die vielen Menschen ist. Wurde zum Glück nicht umgesetzt. Wenn Niedersachsen etwas nicht braucht, dann sind es noch mehr flache Felder.

Der Hunteradweg ist jetzt zu Ende, der Fluss aber noch nicht ganz. Die Hunte muss schließlich noch zu ihrer Quelle im Wiehengebirge am Teutoburger Wald. Denke, gut, ist mir aber egal, wenn es da überhaupt keine Radroute gibt. Stelle erst ein Jahr später fest: Es gibt doch eine, und hole den Abschnitt nach.

Epilog

Am Bahnhof Lemförde hat jemand drei weise Ratschläge auf die Wand geschrieben: Stay in drugs. Eat your school. Don't do vegetables. Immerhin: Den dritten habe ich in meiner Kindheit konsequent befolgt.
Fahre über Osnabrück bis zur Zigarrenstadt Bünde und erfahre dort, dass mein Anschlusszug ausfällt und ich eine Stunde warten muss. An sich eine ganz normale Information für einen Bahnfahrer. Wo man sich schon denkt: Das ist jetzt nicht sonderlich originell. Den haben sie schon oft gebracht, da hätten sie sich ruhig was Neues ausdenken können.
Die Bahn-App scannt offenbar automatisch meine Gedanken und denkt sich gleich etwas Originelleres aus: Bei dem Zug in einer Stunde entfällt dessen Anschlusszug, also quasi der Anschlusszug an den Anschlusszug, sodass ich dann auch in Hannover noch anderthalb Stunden warten muss, während der frühere Anschlusszug an den Anschlusszug, den ich geschafft hätte, wenn der Anschlusszug nicht ausgefallen wäre, ganz normal fährt. Also zwei gekreuzte Verspätungen. Respekt. Das ist schon sehr kreativ und gleich auf so vielen Ebenen ärgerlich. Bin begeistert.

Komme irgendwann in der Nacht zu Hause an und mache mich am nächsten Morgen auf die Suche nach dem verschwundenen Laptop. Laut dem Schild an der Bushaltestelle fahren dort Busse des Verkehrsverbunds Bremen-Niedersachsen. Bin naiv und denke also, dass die zuständig sind und ich mich dann einfach an sie wenden muss. Ich suche auf Google nach dem VBN, finde eine E-Mail-Adresse und schreibe dahin. Erhalte am nächsten Tag die Antwort: Die sind gar nicht zuständig, dafür muss ich mich an die Verkehrsbetriebe Oldenburger Land wenden, bekomme sogar eine Telefonnummer. Rufe da an und höre eine automatische Durchsage: Willkommen bei der Wilhelm-Hering-Verkehrsgesellschaft. Nanu? Für Fundsachen solle man sich auf der Website melden. Rufe die Website auf. Die besteht eigentlich nur aus Weiterleitungen zu anderen Verkehrsbetrieben, darunter auch wieder die Verkehrsbetriebe Oldenburger Land. Ich klicke mich zur Website der VOL durch und schreibe eine Nachricht ans Kontaktformular. Bekomme am nächsten Tag die Antwort: Die Strecke bedienen sie gar nicht, dafür ist das Busunternehmen Jürgen Schloter zuständig. Immerhin, jetzt habe ich schon einen richtigen Namen. Habe das Gefühl, ich komme dem Ziel langsam nähe. Google findet von Herrn Schloter eine Website und eine Telefonnummer. Leider geht bei der Nummer niemand ran und die Website gibts nicht mehr. Langsam beschleichen mich erste Zweifel. Als Herr Schloter irgendwann doch noch abhebt, frage ich ihn nach dem Laptop. Er erklärt kurz angebunden, es wurde kein Laptop gefunden, es würden aber auch andere Busunternehmen die Haltestelle anfahren. Leider weigert er sich, mir zu verraten, welche das sind. Die Suche geht weiter.

236783 Verkehrsverbünde, Busfirmen und Verkehrsbetriebe später komme ich zu dem Schluss, dass ich den Laptop vermutlich nicht finden werde.
Habe dann noch die Idee, beim Huntebad in Oldenburg zu fragen. Die antworten direkt, dass er gefunden wurde. Jetzt weiß ich wieder, warum ich lieber schwimme als Bus fahre.

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