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Fulda: Von Morschen nach Hann. Münden

01 Juli 2020

Diemel: Von Usseln nach Marsberg

Der garantiert weltweit erste Blog zum Diemelradweg aus der Perspektive des Flusses

Dunkelheit. Erde und Schiefer. Ein verschwommenes Nichts.


Dann das Licht. Die Sonne brennt mir entgegen und lässt sofort einen Teil von mir verdunsten. Ich durchdringe die Körnchen, aus denen der Boden besteht, spüre kleine Wurzeln, die durstig einen Teil von mir aufsaugen, zu Grashalmen werden und sich der Sonne entgegenstrecken.


Ich krieche aus der Erde und spüre zuerst einen Ring, danach eine Reihe großer grauer Steine. Ich fließe. Das ist es, was ich bin. Ich ströme durch den Raum, unwiderruflich von einem Ort zum anderen, entferne mich immer mehr von der Wiese im Rothaargebirge, aus der ich geboren wurde. Bald begreife ich, dass die meisten Wesen anders sind als ich. Ich trage meine eigene Zeit in mir. Sie besteht aus Zentimetern, Metern und Kilometern, aus Biegungen und Stromschnellen. Ich erinnere mich an all die Meter hinter mir, in meiner Vergangenheit. Doch die Strecke vor mir? Ich habe keine Ahnung, wie viele Meter noch kommen mögen und was sie bereithalten.

Was ist mit all den Wesen, die so hektisch um mich herumhuschen, dass sie überall gleichzeitig zu existieren scheinen? Sie springen von einem Ort zum nächsten durch den Raum, vor und zurück, ohne jedes Hindernis. So etwas ist mir unmöglich. Doch dafür sind sie gefesselt an eine äußere Zeit, an die gegenwärtige Sekunde, der sie ebenso wenig entkommen können wie ich dem gegenwärtigen Zentimeter. Ihre Zeit lässt sie in einem verschlungenen Netz kreuz und quer umherrasen, dann sterben sie. Welch eine schreckliche Art der Existenz!

Für mich ist diese äußere Zeit kein Problem, ich kann sie durchwandern wie die nicht-fließenden Wesen den Raum, von einem Jahr zum nächsten ist es nur ein kleiner Schritt: Ich weiß, wie sich vor 240 Millionen Jahren das Rothaargebirge erhebt und zum ersten Mal mein Wasser aus dem Boden drückt, wie die nicht-fließenden Wesen einen Teil des Waldes zerstören und ihr Vieh auf die Wiese treiben, einen Weg anlegen, Schilder und Bänke aufstellen, mir Steine in die Quelle legten, und schließlich, wie meine Quelle für immer versiegt in der großen Trockenheit.

Um sich von ihrer frustrierenden, kurzweiligen Existenz abzulenken, schnallen sich manche nicht-fließenden Wesen Bretter auf die Füße, lassen sich von einem Seil den Berg hochziehen und rutschen auf kristallisiertem Wasser wieder herunter. Ich spüre, wie das kleine Vergnügen sie von der Kürze ihrer Existenz ablenkt, wenn sie den Rausch der Geschwindigkeit genießen. So ähnlich fühle ich mich, wenn ich einen kleinen Wasserfall hinuntertreibe. Wenn der Schnee schmilzt und zu mir läuft, schmecke ich das Wachs, mit dem sie ihre Bretter einreiben. Und hier und dort blitzt ein feuriger Punkt aus Schmerz auf, wenn jemand zu schnell war und von seinem Brett fiel.


Meine Schwestern Itter und Hoppecke erzählten mir später, wie sie Sorge und Panik in der Luft schmeckten in jenen Jahren, als der Schnee zunehmend weniger wurde. Wie jenes riesige Gebilde namens Schanze, auf dem sie auf ihren Brettern durch die Luft fliegen, trocken blieb. Und wie die Menschen stattdessen Türme und Brücken aus Stahl in der Heide errichten, um einen ähnlichen Rausch der Gefahr zu erleben, wenn der Wind die hängende Brücke heftig schwanken lässt. Wie sie von ihren seltsamen Bauten über die Berge hinwegschauen, um mit den Augen eine Weite zu suchen, die ihnen ihre kurze, kleine Existenz sonst nicht bieten kann.

Nun, ich nehme an, die nicht-fließenden sehen ihre Existenz als nicht so furchtbar an. Meine Art zu leben muss für sie unbegreiflich sein.

Naja, die meisten Nicht-Fließenden verstanden ja nicht einmal, dass ich ein lebendes Wesen war. Vor 3000 Jahren glaubten ein paar von ihnen, dass in jeder Quelle und jedem Gewässer ein Geist lebt, der es beschützt. Eine Nejade, so nannten sie mich. Aber ihr Wissen geriet bald in Vergessenheit.

Trotzdem hatten sie Recht. Mein Name ist Dimella.

So wurde ich vor Jahrhunderten genannt, weil mein Wasser so thimm, also dunkel, war. Mein Name ist verwandt mit dem Wort dimmen. Einige Jahrhunderte darauf lautet mein Name Diemel. (Obwohl manche nicht-fließende großen Wert auf feste Namen und Begriffe legen, ändern sie diese doch ständig.)


Dabei bin ich gar nicht immer dunkel. Manchmal kann ich auch sehr hell sein. Das kommt ganz auf die Sonne an. Wenn sie mich so zum Gleißen bringt, finde ich das besonders schön. Juche, ich fließe abwääärts...

...umpf. Was ist das denn jetzt? Jemand hält mich auf. Irgendwer hat mich in lauter komische Teiche gesperrt. Was wollen die da mit mir? Fische züchten oder was? Um weiterzukommen, muss ich mich erstmal durch einen seltsamen Steintrichter zwängen.

Dann muss ich auch noch Treppen steigen. Das schaffe ich selbst ohne Beine problemlos.

Eine besonders mächtige Art der Nicht-Fließenden, die Menschen genannt werden, bauen gerne Zeug aus Stein, am liebsten große Haufen aus steinernen Hütten. Nach dem letzten Teich bin ich unten im Tal angekommen und begegne dem ersten Hüttenhaufen. Er heißt Usseln.
Ich spüre die die Anstrengung der Menschen in Usseln über die Jahrhunderte hinweg. Erst hielten sie Tiere und ernteten Pflanzen, dann verarbeiteten sie Metall unter der Erde - und wofür das alles? Damit das nächste Feuer, die nächste Seuche oder Hungersnot ihnen alles wieder wegnahm. Die Usselner Menschen hatten wirklich kein Glück - bis irgendwann dieses Viadukt mit großen Bögen über mir gebaut wurde. Danke, sieht klasse aus! Darauf kriecht ein kurzer, dicker und roter Wurm aus Stahl, der Nicht-Fließende transportiert und sich Uplandbahn nennt. Als die Bahn, elektrische Energie, Wasserleitungen und schließlich sogar Skifahrer nach Usseln kamen, wurde es allmählich besser für die Menschen.

Wie geht es jetzt weiter? Hinter Usseln entdecke ich einen hübschen Einschnitt zwischen zwei Hügeln, der mir gefällt. Ich schlängle mich über die Wiese in das Tal hinein. Hier entdecke ich keine Menschen mehr. Sie haben nur meine komplette Wiese eingezäunt, darin leben nur insgesamt drei nicht-fließende Wesen, die sie Kühe nennen. Ich spüre ihre freundlichen, gelassenen Gemüter, die vollkommen zufrieden sind, wenn ich ihnen ihr Gras bewässere.
Auf dieser Wiese habe ich genug Platz, um schön hin und her zu schlängeln. Warum sollte ich mich stressen geradeaus durch mein Leben durchrauschen? In den Kurven drücke ich mein eigenes kleines Steilufer ins Gras. Mal sehen, wo die Reise hingeht.

Üärgh, ach nee, ein Geschenk geben mir die Menschen von Usseln noch mit - ihre Ausscheidungen. Sie sammeln diese in großen, kreisförmigen Steinbecken und gießen sie auf mich drauf. Äh, danke schön.
Mir wird kotzübel und ich trete lieber zwei Jahrhunderte vorwärts durch die äußere Zeit. Puh, durchatmen, nun wird das Wasser einigermaßen gereinigt.

Aber wartet mal, da sind noch so komische bunte Krümel drin! Könnt ihr die bitte auch noch rausmachen? Die jucken!

Die wenigen Menschen, die in meinem Tal leben, ernähren sich von der Milch, die sie von den drei Kühen erhalten. Auf die leeren Krüge schreiben sie ihre Namen. Weiter gehts, hui, ab durchs Tal...

...umpf. Was ist das denn schon wieder? Irgendwer hält mich auf. Egal wie viel Schwung ich nehme, ich komme nur noch langsam voran. Verdammt, was soll ich denn mit dem ganzen Wasser machen, wenn es da vorne so langsam weitergeht? Sorry, Bäume, dann müsst ihr jetzt leider baden gehen. Ich breite mich immer mehr aus und werde dicker...

...und dicker...

...und dicker...

...und dicker. Eigentlich hatte ich nicht vor, in diesem jungen Alter schon übergewichtig zu werden. Aber wie soll ich denn abnehmen, wenn immer neues Wasser nachkommt? In der Sommerhitze bekomme ich meistens noch eine halbwegs schlanke Sommerfigur, aber im Frühling - keine Chance.
Letztlich ist das aber nur eine Frage der Perspektive. Für einen Fluss bin ich dick - aber für einen See doch noch ziemlich schlank. Oder?

Äh, hallo, holt mal eure Boote da weg! Sonst muss ich die nämlich gleich mitnehmen... oh, zu spät.
Die Nicht-Fließenden leben hier in seltsamen weißen Hütten aus Stoff oder auf Rollen, zumindest im Sommer. Manchmal verlassen sie die Hütten für längere Zeit und merken nicht, wenn ihre Boote auf Tauchfahrt gehen.
Mitten auf dem See begegne ich meiner Schwester, der Itter, die ebenfalls mächtig zugenommen hat.

Ich sehe, wie einst in der Nähe einige seltsame Bäume wachsen. Die Menschen hatten ihre Samen aus einem fernen Kontinent namens Amerika mitgebracht. Sie hießen Douglasien. Hoch, hart, ein bisschen hochmütig und unverwüstlich waren sie, außer natürlich gegen die Sägen der Menschen, die sie extra zu diesem Zweck gepflanzt hatten.
Eine besonders hohe Douglasie brachten sie an mein Ufer. Die mächtigen Nicht-Fließenden hatten sie zurechtgesägt, um sich daraufzusetzen. Sie ist jetzt die längste Bank in diesem Land, das die Menschen Hessen nennen. 63 Menschen passen darauf.

Manchmal ziehen sich die mächtigen Nicht-Fließenden blaue Anzüge an und erkunden meine Privatsphäre. Möglicherweise suchen sie nach ihren verschwundenen Booten. Aber vermutlich sind sie einfach nur neugierig.

Hinter der Tauchbucht stoße ich endlich auf den Grund, warum ich nicht weiterkomme. Es ist eine graue Mauer. Die haben die Menschen eines Tages einfach mal da hingestellt. Na toll. Was soll das? Und wie komme ich da jetzt durch?

Ich glaube nicht, dass die Menschen wollen, dass ich gar nicht mehr weiterfließe. Sie wollen nur genau kontrollieren, wie viel von mir durchkommt. Das passt zu allem, was ich von ihnen gesehen habe, denn Menschen wollen alles kontrollieren.
Sie haben irgendwelche Röhren in die Mauer gebaut, die sich manchmal verschließen. Dahinter erwartet mich mein persönliches Labyrinth. Wo geht es jetzt weiter? Ah, da. Was ist das denn jetzt für ein komischer Propeller? Muss ich den jetzt drehen? Na guut... ah, da ist endlich der Ausgang.

Nur im Frühling schaffe ich es manchmal, über die Mauer drüberzufließen und dann... aaah! Hilfe, ist das tief! Vierzig Meter falle ich nach unten. Was für ein Schock, jeden Frühling aufs Neue. Aber immerhin nicht so kompliziert wie der Weg durch die Röhren.

Dahinter bilde ich gleich noch einen See...

...mit einer deutlich kleineren Mauer.

Darf ich jetzt vielleicht normal weiterfließen? Ja? Danke schön. Jetzt habe ich wieder meine Ruhe im Tal. Obwohl es schon irgendwie Spaß gemacht hat, von der hohen Mauer zu rauschen... ob ich das auch alleine kann? Hm, naja, mein eigener Wasserfall ist nicht ganz so hoch.

Auf den Bergen über mir spüre ich einige Nicht-Fließende, die in Harmonie zusammenleben, und das, obwohl sie bei unterschiedlichen Göttern Trost suchen und diesen Göttern ganz unterschiedliche Häuser nebeneinandergebaut haben. Aber offenbar sind solche Unterschiede für die Menschen kein Problem. Oder?

In meinem Tal leben nicht nur Kühe, sondern auch riesige Hasen und Fliegen. Ich höre ihr hektisches Summen und spüre ihre kleinen, einfachen Geister, die nicht weiter als bis zum nächsten Ding denken, auf das sie sich setzen können.

Durch ihre Facettenaugen sehe ich ungefähr so aus.

Bisher haben mich die Menschen ziemlich in Frieden gelassen, außer in Usseln und am Stausee. Obwohl, eine Zeitlang wollten sie auch an dieser Stelle noch etwas aus meinem Tal, nämlich die Steine unter der Erde. Sie gruben tiefe Löcher, um die Steine herauszuholen, die sie Erz nannten. Dann verlegten kleine Schienen, um sie an einen Ort, den sie Ruhrgebiet nannten, wegzufahren. Die Schienen sind inzwischen weg, aber der kleine Damm, auf dem sie lagen, blieb.
Jetzt habe ich hier meine Ruhe. Noch.

Aber nun ändert sich alles. Hier begegne ich meiner Schwester, der Hoppecke. Ihr Wasser ist nicht ganz so klar wie meines, und den die Ursache dafür hat sie gleich mitgebracht.

Ein Bahngleis, eine große Straße und deutlich mehr Menschen - die Hoppecke hatte keine so ungestörte Kindheit wie ich, und das reibt sie mir deutlich unter die Nase.
Ich sehe, wie an diesem Gleis in einer einsamen Hütte stets ein einsamer Mann saß, der nur die Aufgabe hatte, eine gestreifte Stange hoch- und runterzuziehen. Dadurch sollten die fahrenden Metallkästen der Menschen nicht zusammenstoßen. Dann war der Mann tot, seine Hütte verlassen, aber die Stange bewegt sich immer noch. Vielleicht bewegt sein Geist die Stange? Obwohl ich keinen Geist spüren kann. Merkwürdig.

Hier liegt ein großer Haufen an Menschenhütten. Er heißt Marsberg. Ich kann ihn nicht so gut erkennen, weil er sich oben auf einem Berg versteckt.

Das war sehr schlau von den Menschen. Im Laufe der Jahre haben manche versucht, die Stadt anzugreifen. Dazu mussten sie aber erst den hohen Berg besteigen. Am Ende habe ich nur selten Blut geschmeckt, das den Berg herunterlief - nur Schweiß, jede Menge Schweiß. Die meisten Angreifer haben sich wohl ergeben, um oben im Gegenzug ein kaltes Getränk zu erhalten.

Hier war nicht immer ein Berg - ganz im Gegenteil. Am äußersten Rand der äußeren Zeit kann ich gerade noch sehen, wie sich vor Jahrmillionen die letzten Reste eines Meeres zurückzogen. Das Meer hatte jede Menge von diesem komischen Felsen zurückgelassen, den die Menschen Zechstein nennten. Au! Der war so kantig und ganz schön unbequem zum Durchfließen. Aber ich habe die Strudel zusammengebissen und mich durchgekämpft.
Endlich hatte ich mir eine schöne Strecke zurechtgespült und ganz nebenbei rechts den Berg von Marsberg fabriziert. Ich drückte ihn noch ein bisschen zur Seite, und plötzlich, ups, waren da Spalten drin. Naja, nicht so schlimm, wird schon nicht einstürzen, dachte ich. Als die Menschen die Spalten entdeckten, waren sie ganz begeistert und holten ganz viel Zechstein raus, um daraus ihre Stadt zu bauen. Aber sie waren tatsächlich vernünftig genug, dicke Säulen stehen zu lassen, damit die Höhle stabil blieb.
Angeblich soll sich in der Drakenhöhle ein Schatz befinden. Das ist aber Quatsch - in Wahrheit gab es nur einen Metzger, der besonders leckere Wurst herstellte und sie da drin kühl lagerte. Ich weiß nicht, wie daraus die Legende mit dem Schatz geworden ist, und eigentlich ist es mir auch wurscht.

Nebenan lebt meine Tochter, die Drakenhöhlenquelle. Jahrhundertelang trug sie die Verantwortung, die Marsberger Menschen mit Wasser zu versorgen. Aufgrund dieser Bürde durfte sie nicht richtig fließen, sondern lebte in Röhren, Pumpen, Brunnen und Sammelbecken. Irgendwann fiel den Menschen aber auf, dass die Drakenhöhlenquelle in der Nähe eines Ortes geboren wurde, den sie Friedhof nannten und an dem sie ihre Toten in die Erde steckten. Plötzlich fanden sie ihr Wasser nicht mehr so lecker, und meine Tochter ging in Rente.

Ich sehe, wie viele mächtige Nicht-Fließende, die in einer sehr seltsamen Sprache redeten und Sachsen genannt wurden, zu einer Säule in Marsberg pilgerten, die einem Baumstamm ähnelte. Sie hegten und bewunderten das lange Ding, weil es angeblich das Weltall stützte. Ich weiß nicht genau, wie sie auf diese Idee kamen, doch konnte ich spüren, wie sie ihnen Trost und Hoffnung spendete. Sie nannten sie Irminsul.

Zugegeben, der Blick von da oben ist großartig. Da verstehe ich schon, warum von den Geistern der Menschen so viel Ehrfurcht, Demut und Hoffnung nach unten herabstrahlte. Die Sachsen fühlten sich ganz klein, aber zugleich als der Teil von etwas Großem und Besonderem, nämlich einem Menschenvolk, das in einem schönen Land lebt und großes Zeug aus Stein bauen kann. (Was natürlich Quatsch ist, alle Menschen können das und sind in der Hinsicht nicht sehr verschieden. Aber es hat sie halt getröstet, und sie hatten es weiß Gott schwer genug.)

Eines Tages aber stampfte eine große Armee aus dem Süden nach Marsberg. Ihr Anführer nannte sich Karl der Große. Er fand, die Sachsen sollten gefälligst nur noch bei seinem neuen Gott Trost und Hoffnung schöpfen, und zwar in Häusern wie diesem, die er Kirchen nannte (und die tatsächlich ein bisschen beeindruckender aussahen als die Irminsul). Um die Sachsen von den vielen Vorteilen des neuen Glaubens zu überzeugen, töteten seine Armee viele Sachsen. Man sollte meinen, das sei eine ganz schlechte Strategie, aber rückblickend betrachtet war sie insgesamt ja schon erfolgreich. Inzwischen stehen nun drei Kirchen in Marsberg.

Die Irminsul war dem Karl natürlich ein Dorn im Auge. Er stand an meinem Ufer und starrte finster hinauf auf die Burg, wo die Sachsen vom Buttenturm aus zurückstarrten. Dass da oben eine komische Säule und kein Kreuz aufragte, nahm er sehr persönlich. Karl wollte die Irminsul zerstören, aber die Eresburg in Marsberg lag so hoch oben und war so gut gemauert, dass seine Soldaten nicht rankamen.

Jedenfalls nicht, bis eine alte Frau ihnen einen Geheimgang zeigte. Kurz darauf war es aus und vorbei mit der heiligen Säule, die das Weltall trägt. Dass das Weltall nicht einstürzte, war für die Sachsen nur ein schwacher Trost. Ich spürte jede Menge Verzweiflung, gewürzt mit einer Prise Irritation darüber, dass das Weltall nicht eingestürzt war, und dem aufkeimenden Gedanken, dass dieses neue Christentum dann wohl tatsächlich Recht haben musste.

Ich kann noch sehen, wie Karl der Große triumphierend auf dem Hügel von Marsberg stand und die Trümmer der Irminsul musterte, während mein Wasser so rot vom Blut war, dass mir schlecht wurde. Ich habe viele Kriege erlebt, aber die Sachsenkriege gehörten zu den schlimmsten.
Endgültig zerstört hat die Burg erst viele hundert Jahre später die Armee eines Menschen namens Karl Gustav Wrangel aus einem Land namens Schweden. Auch in diesem Krieg ging es angeblich wieder darum, bei welchem Wesen die Menschen Trost suchen sollten.

In Marsberg habe ich also die Menschen so richtig kennengelernt, und diese erste Begegnung war nicht sehr erfreulich. Aber damit hier kein negativer Eindruck entsteht: Bestimmt folgen auf meiner zweiten Hälfte auch ein paar angenehmere Begegnungen. Denn ich bin noch längst nicht am Ende.

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