NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

04 Mai 2025

Eger: Von Žatec nach Litoměřice

Weiter ging unser Abstieg über die böhmischen Terrassen. Die aktuelle Terrasse heißt Saazer Becken und besteht zur Abwechslung mal nicht aus Raps, sondern aus Hopfen. Guck an, so wird der also angebaut - an hohen Stangen mit Seilen dran. Hopfen ist eine Kletterpflanze aus der Familie der Hanfgewächse (lassen Sie das nicht Markus Söder hören, sonst wird kommt demnächst in Bayern das Bierverbot). Aber so richtig motiviert zum Klettern war der Hopfen im Mai noch nicht.
Hinterm Hopfenfeld ragt das Schloss Stekník auf. Das Hopfendorf ist zusammen mit Žatec sogar Weltkulturerbe weil Hopfen.

So zickzackten wir eine Weile auf Nebenstraßen von Dorf zu Dorf.
Die Störche der Eger sind im Vergleich zu den Störchen der Elbe ein klein wenig regloser und bestehen nicht aus Proteinen, sondern aus Plastik. Soll das Deko sein oder richtige Vögel abschrecken?

Die nächste Stadt heißt Louny. Der Name klingt, als hätte man die Worte lonely und loutky (Puppen) verschmolzen, was insofern passt, als das Louny das älteste ständige Puppentheater Tschechiens hat. Ah, das ist bestimmt dieses schöne bunte Bauwerk da am Fluss, oder? Nope, das ist bloß die Jirásek-Mühle. In dieser Stadt sind sogar die Gebäude der Industrialisierung bunt gestreift im Stil der Neorenaissance.

Wir schlossen unsere Räder an der Stadtmauer an und stiegen ein paar Stufen hinauf zum Marktplatz, um Proviant nachzukaufen. Der Platz ist vergleichsweise stark zugeparkt, dafür predigt dort ein gewisser Jan Hus von seinem Sockel. Und was predigte der Mistr hier wohl im Jahre 1410? Bevor ich in dem altertümlichen Tschechisch durchblicken konnte, hatte mein Begleiter schon seine App gezückt und seine KI die Botschaft entschlüsselt: Ich beschwöre euch, meine Teuersten, steht vereint, liebet euch alle miteinander und gebt acht, dass unter euch kein Streit, Neid und Groll aufkommen.

Die Sonne ballerte vom Himmel, und weder Berge noch Wälder warfen ihren Schatten über uns. Da waren wir mehr als froh, als wir hinter der 12. Dorfbrücke (eins der Dörfer hieß übrigens einfach nur Pátek=Freitag) in der App eine Badestelle eingezeichnet war, mit Sonnenschirm-Symbol. Hinter diesem Symbol kann sich alles mögliche verbergen. Ist das wirklich öffentlich, da hinter den privaten Gartenzäunen? Sieht so aus. Der Sonnenschirm entpuppte sich als grüne Wiese mit kurzem, hohen Badesteg. Nur wenige Leitersprossen später berührten unsere Füße auch schon das Wasser der Ohře und... brr...
Tief, schwarz (um nicht zu sagen tiefschwarz) und eiskalt umfing uns der Fluss. Mit anderen Worten: Genial. Trotzdem brauchte es ein wenig Überzeugung, bis auch mein Mitreisender dazukam und seinen Körper auf eine vernünftige Betriebstemperatur schockfrostete. Danach reichte der Sportsgeist sogar noch aus, um in die Flussmitte zu schwimmen.

Enge tschechische Brücken mit gelben Markierungen kenne ich ja schon von der Elbe, aber dieses Teil hier ist nochmal ein ganz neues Level.

Zwischenzeitlich bekamen wir doch noch Schatten, als ein Kleewald das Ufer säumte. Es handelt sich laut Reiseführer um das Naturschutzgebiet Myslivna und den Budyňský-Wald, aber fragen Sie mich bloß nicht, was von beidem das jetzt auf dem Bild ist oder ob nicht vielleicht doch beides ein und derselbe Wald ist.

Dort stand nicht nur eine der wenigen Rasthütten, auch eine kleine Wassermühle aus Blech plätscherte vor sich hin.

Auch auf dieser Seite der Grenze werden zum 1. Mai anscheinend lebensgroße Hexenfiguren aufgestellt. Nicht unbedingt auf den Scheiterhaufen. Tschechische Hexen verfolgen lieber griesgrämig auf einem weißen Holzstuhl kauernd den Straßenverkehr und belegen Temposünder mit Flüchen.

Vor dieser Dorfbücherei ist das Fantasy-Regel komplett explodiert, und so krabbelt auch eine Riesenspinne herum, und eine Hexe reitet auf einem Heudrachen. Es scheint fast, als sei diese Jahreszeit das tschechische Halloween.

Und die Ganze Zeit über stiegen Rapsterrasse um Rapsterrasse abwärts, während Autos an uns vorbeirasten. Schon seit gestern Abend war links am Horizont ein Gebirge zu erkennen. Diese spitzen Gipfel sehen irgendwie vulkanisch aus, fand ich. Kann das schon das Böhmische Mittelgebirge sein? Tatsache, jetzt sind wir schon viel näher dran, und die Richtung stimmt. Irre, dass wir das schon gestern am Stausee sehen konnten, der Blick reicht wirklich, wirklich weit über diesen Rapsfeldern. Besonders ein markanter Gipfel mit Burg drauf begleitete uns heute den ganzen Tag über.
Die Grenze nach Sachsen verlief ja die ganze Zeit parallel zu unserer Strecke, nur ein bisschen weiter nördlich, und an den Bergen immer gut zu erkennen. Doch statt des Erzgebirges drängten sich immer die Vulkane in den Vordergrund.

Und dann, endlich, endlich, sausten wir die letzte Steigung abwärts und waren auf dem tiefsten Rapsfeld angekommen - im Elbtal. So. Nun mussten wir nur noch ein bisschen geradeaus. Aber halt, da ist noch eine kleine Stadt im Weg. Von Bäumen und Büschen getarnt, schafft sie es außerordentlich gut, sich in dieser flachen Landschaft zu verstecken. Als würde sie sich für das schämen, was in ihr passiert ist.
Aber die Karte ist eindeutig: Das dort ist Terezín, früher Theresienstadt genannt. Wir radelten über Wassergräben und Wälle aus Wiesen und Ziegelsteinen. Und sofort wusste ich, woran mich diese Stadt erinnert.

Diese breiten Straßen und hohen Kasernenhäuser, zum Teil mit echt abgerockten Wänden? Das hier war eine österreichische Festungsstadt, genau wie Josefov an der Elbe, oder?
Richtig geraten. Kaiser Josef II. wollte mit dieser Festungsstadt eigentlich die Handelswege sichern, stattdessen wurde sie nur wichtig als Soldaten-Aufbewahrungs-Tupperbox.

Es ist eine ganz merkwürdige Stadt. Mittendrin befindet sich auf einmal eine gewaltige unbebaute Wiese, wahrscheinlich zum Exerzieren oder so. Die Kirche (rechts) sieht eher aus wie ein eckiger Tempel in Rom, der nachträglich christianisiert wurde.
Auch wenn Terezín an dieser Stelle sogar ganz freundlich aussieht: Niemand kennt diese Stadt wegen ihrer Grünanlagen oder Josef II. Am ehesten kennt man den Namen Theresienstadt, weil die Nazis 1942 alle Einwohner rausschmissen und ein Ghetto einrichteten. Was eigentlich als Durchgangslager für tschechische Juden gedacht war, wurde zum "Altersghetto" für Juden aus ganz Europa, im Westen wie im Osten.

Am anderen Ufer ducken sich die schäbigen Mauern der Kleinen Festung über dem Wasser. Diese Festung war sozusagen der Vorläufer der Verbrechen von Theresienstadt, denn schon die Österreicher richteten dort ein Gefängnis für kriminelle Soldaten und Gegner der Habsburger-Monarchie ein. Eine gefallene Republik später folgte das Polizeigefängnis der Prager Gestapo.

Die Karte wollte uns geradeaus an der Straße direkt zum Ziel lotsen, aber die Wegweiser schickten uns auf einen Pfad durch die Hecken am Ufer. Der war zwar etwas holprig, aber sicherlich die landschaftlich schönere Wahl.
Und ganz am Anfang auch historisch wichtigere. Auf einer Steinplatte erhebt sich ein eher abstraktes Denkmal. Ich weiß nicht, ob die Statue wirklich einen weinende Figur ist und welche Bedeutung dieser eckige Stein hat. Doch die Tafel erklärt zumindest auf Tschechisch, Englisch, Deutsch und Hebräisch, was hier geschehen ist. Im November 1944 kippten die Nazis die Asche von 22 000 Menschen in die Ohře und machten den Fluss zum Mittäter wider Willen an ihren Verbrechen. Insgesamt kamen 87 000 zu Tode erschöpfte Menschen in Theresienstadt an.
Überlebt haben weniger als 4000.

Von da aus war es nur noch ein Stückchen, bis... so da vorn muss doch jetzt die Ohře in die Elbe münden, oder? Man sieht ja gar nix.
Ich holperte über die Wiese ans Wasser, wo ich die Mündung zumindest erkennen, aber nicht vernünftig vor die Linse bekommen konnte. Erst auf der großen Straßenbrücke nach Litoměřice war sie richtig zu sehen. Sieht aus, als würde einfach nur eine Linie aus Bäumen in der Elbe wachsen. Mann, die Flüsse sind beide überraschend breit, dabei sind wir doch noch ziemlich weit oben.

Die Eger/Ohře hat sich erfolgreich dem Trend widersetzt: Sie fließt als einziger größerer Fluss von Deutschland nach Tschechien rein statt umgekehrt. Doch nun ist sie in der tiefsten Region Tschechiens angekommen und muss feststellen: In diesem von Bergen eingekesselten Land gibt es kein Meer. Und so bleibt ihr keine andere Wahl, als mit der Elbe doch wieder nach Deutschland zurückzukehren.

Wir zwei Knaben an der Eger fuhren zu dem Ende hin.
Nüchtern war noch unsre Leber, nachdenklich war unser Sinn.
Fragt die Eger beide Knaben: "War's zu wenig? War's zu viel?"
"Nun, man kann nicht alles haben. Ganz egal: Reise vor Ziel."

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