NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

09 April 2025

Havel: Von Brandenburg nach Rathenow

Havelgeschwafel VIII: Die Sichtgeschichten
Von den Seen zum Sehen - Ein Lama Imbiss - Welche Abkürzungen akzeptabel und welche inakzeptabel sind - Die Stadt der Optik - Regenbogenrätsel - Wir essen locker vom Hocker

Am Ostermontag gab es weder Frühstück in der Unterkunft noch einen geöffneten Bäcker. Darum versorgte uns eine Tankstelle an der Hauptstraße zu einem Preis, der locker für ein schönes Hotelbuffet ausgereicht hätte.

Kurz darauf radelten wir in weitem Bogen um

Havelsee Nr. 40: Breitlingsee (im Bild)
Havelsee Nr. 41: Möserscher See

die das südliche Ufer besonders weit ausbeulen. Urige Nadelwälder erheben sich rund um die sanften Wellen des Radwegs, gerade so flach, dass das Rüberfahren noch leicht von der Hand vom Fuß geht.
Immer wieder zeugten Haufen kunterbunter Schalen vom Ostereiermassaker, das hier gestern stattgefunden haben muss, unter anderem an diesem Sandstrand. Trotz der herrlichen Lage war es noch ein bisschen zu kühl zum Baden.

Weiter gings an den Schornsteinen, Hallen und Gleisen der Pulverfabrik Kirchmöser vorbei, die aus irgendeinem Grund von der Reichsbahn verwaltet wurde. Ich würde mich ja lustig machen über die Idee, dass Bahnmitarbeiter schwer bewaffnet rumlaufen, aber angesichts dessen, was die in der letzten Zeit über sich ergehen lassen mussten, ist die Idee leider nicht mehr so abwegig, wie sie es mal war. 400 Fabrikgebäude und 172 Wohnungen gehörten zum Gelände. Also 2,33 Fabrikgebäude pro Arbeiter? Die hatten aber schon viel automatisiert!
Danach ging es per Brücke über

Havelsee Nr. 42: Plauer See (hat nichts mit dem Plauer See in MV zu tun)

und in den Schlosspark Plaue. Das ist nun wirklich der letzte See - es sind genau 42 geworden!
Das Schloss Plaue ist graugelb und sehr abgewetzt, aber im Park konnten wir auf schmalen Pfaden ganz gut durchradeln. Es stehen noch Statuen von Engeln, Theodor Fontane, einem Himalayabären und einer sogenannten Schraubenziege (denn genau so sehen ihre Hörner aus) herum. Die erinnern an Jagdtrophäen des Grafen von Königsmarck. Also natürlich nur der Bär und die Ziege, Engel und Dichter hat er, soweit bekannt, nicht abgeschossen.
Als eine Straße zum Pulverwerk quer durch seinen Park gebaut werden sollte, verlangte der Graf stinksauer "Rücksicht auf die märkische Landschaft". Wie hätte er wohl reagiert, als die DDR später auch noch eine T-förmige Halbinsel (hinten im Bild) aufschüttete, um Schiffe auf dem Weg von Westdeutschland nach Westberlin zu kontrollieren?


Die nächste Brücke ist eine seltene Fachwerkstahlbrücke und konnte auch für größere Schiffe aufklappen. 1945 wurde sie besonders radikal aufgeklappt, mit Sprengstoff. Davon hat sie sich anscheinend immer noch nicht erholt, denn sie war gesperrt, was man von unten nicht sehen konnte. Damit ist die Stelle sehr gut geeignet, um Familienmitglieder weiter unten auf der Straße zu verwirren, die nicht begreifen, wie man so offensichtlich in die falsche Richtung abbiegen kann.

Die Burgschänke in Plaue haben wir übersprungen, aber beim "letzten Radstop vor Moskau" (was schon von der Richtung her überhaupt keinen Sinn ergibt) hatten wir dann doch Hunger und hielten notgedrungen an. Der kuriose kleine Bauernhof war vollgestopft mit Tischchen und Strandkörben. Wir beobachteten dort Lamas und warteten außerordentlich lange auf zwei gewöhnliche Backfischbrötchen.

In Premnitz fiel mir vor allem eine Hauswand auf, auf die eine riesiges Bücherregal gepinselt war. Unser Vater wurde hier mal als Sommerjob von einem dubiosen Obsthändler ausgebeutet: Er ließ ihn morgens an einem DDR-Kleingarten raus, um Johannisbeeren zu pflücken, und holte ihn abends wieder ab. Den ganzen Tag pflückte er in der prallen Sonne ohne Essen, Trinken, Internet oder irgendeine Ahnung, wo er überhaupt war. Die einzige verfügbare Verpflegung waren - Johannisbeeren. Dementsprechend war das einzige, was er heute aus Premnitz wiedererkannte, die Kleingärten.

Meine Familie fühlte sich schon etwas "ausgebrandenburgt" (wie Rainald Grebe sagen würde) und wollte den Rest des Tages am rechten Ufer abkürzen, wo die ganze Zeit ein Radweg an der Bundesstraße verläuft. Bis Premnitz fuhr ich da gerne mit, da ist der offizielle Radweg eh weit vom Fluss entfernt. Aber auf dem letzten Abschnitt wurde inzwischen ein neuer, fast autofreier Havelradweg gebaut, der sich im Zickzack zwischen Straße und Uferwegen hin und her windet. Das Problem war nur: Bei der Streckenplanung hatten wir noch die alte Auflage des Reiseführers berücksichtigt, und die hat bei den Entfernungsangaben mit dem direkten Weg an der Straße nach Rathenow gerechnet. Gewissen Reisenden (ich möchte keine Namen nennen) wären diese überraschenden ca. 5 Extrakilometer einfach zu viel gewesen.
Darum fuhr ich die neue Route alleine und wurde mit dem Anblick eines heterosexuellen Fasanenpaares belohnt. (Außerdem sah ich heute einen Reiher aus nächster Nähe und natürlich einige morgendliche Waldmöpse.) Die Havel ist nun viel überschaubarer. Sie hat zwar noch immer dickere Stellen, aber See kann man die nicht mehr nennen. Überraschend oft durchbrechen Badesträndchen das Schilf. Der Wegbelag war leider sehr unterschiedlich – olle Betonplatten und enge Erde hätte ich bei einem "neuen" Radweg nicht erwartet.

Wir trafen uns wie verabredet in Rathenow am Tagesziel wieder, dem sogenannten Optikpark. Er befindet sich an einer langen Straße, zwischen den Innenstadt und einem verschnörkelten Havelarm. Die Anlage ist ein Überrest der Bundesgartenschau, die 2015 von Havelberg bis Brandenburg reichte und damit als erste BUGA jemals über mehrere Bundesländer. Aber was hat das mit Optik zu tun?

Der Grund dafür ist ein Rathenower Theologiestudent namens Johann Heinrich August, dem alle Brillenträger viel zu verdanken haben. Johann konnte wohl seine Bibel nicht richtig lesen und erfand kurzerhand eine Vielschleifmaschine, die ganz viele Brillengläser auf einmal herstellen konnte. Der König (wahrscheinlich auch Brillenträger) fand das super und gab ihm das Privileg, eine Optische Industrieanstalt zu gründen. Die hat sich fortgepflanzt, denn heute gibt es 25 Unternehmen in der Stadt, die irgendwas mit Linsen oder Feinmechanik machen. (Ja, auch Fielmann.)

Zum Beispiel kommen die Linsen für den Warnemünder Leuchtturm am Teepott von der Firma Picht aus Rathenow - und sind inzwischen schon 120 Jahre alt. Der Leuchtturm auf dem Bild kommt auch aus Warnemünde, ist aber etwas kleiner und stand in der Hafeneinfahrt. Als er 1997 in Rente ging, stellten ihn die Rathenower als Symbol für ihre Leuchtturmleistungen in die Havel und malten ihn in den Farben Brandenburgs an - zufällig sind das eh die typischen Leuchtturmfarben Rot und Weiß.


Im Herzen des Optikparks liegt ein Karpfenteich mit mehr Stegen, als man überhaupt begehen kann. Warum bauen die da gleich so einen Riesenknoten an Stegen rein? In der Mitte steht ein achteckiger Tisch, auf dem Städtenamen aus aller Welt stehen. Hmm, warte mal, das sieht doch aus wie... genau, die Weltzeituhr in Berlin. Und der Steg soll die Planetenbahnen nachahmen, die oben auf der Uhr draufgeschraubt sind, nur halt in 2D statt 3D. Haben Sie sie wiedererkannt? Ich auch nicht. Trotzdem ist das mal wirklich eine anschauliche Station im Optikpark.
Die berühmte Uhr ist nämlich ein Rathenower Projekt. Die Idee kam von Erich John, Professor für Formengestaltung, der die Volkseigenen Betriebe Rathenow von seiner Idee überzeugt hat. Auf Knopfdruck erklärt seine Stimme persönlich die hohe Meinung, die er von den Rathenower Handerwerkern hatte: Das seien die einzigen, die so ein Projekt vielleicht hinkriegen. Und auch mit denen war es schwierig, denn das Material war knapp: Sie mussten in der ganzen DDR Draht und Schrauben kaufen, und der Stundenring wird bis heute von einem Trabi-Getriebe gedreht.
(Aus Rathenow kommen übrigens auch die Ziegel für das Rote Rathaus in Berlin und das Holländische Viertel in Potsdam.)

In der hintersten Ecke des Parks versteckt sich hinter Zäunen ein enormes Fernrohr. Das hat der Rathenower Edwin Rolf mal eben als Hobby in seinem Garten zusammengeschraubt, wobei wieder tüchtige Rathenower geholfen haben. Die Akademie der Wissenschaften hat ihm die Materialkosten erstattet, dafür dass sie die Technologie später in Sternwarten benutzen durfte.
Bei Teloskopen hat man normalerweise die Wahl: Wenn man Spiegel benutzt, werden die Größenverhältnisse verzerrt. Wenn man Linsen benutzt, werden die Farben durch die Lichtbrechung verfälscht. Die Idee bei einem Medialfernrohr ist, einfach beides zu benutzen und die Linsen und Spiegel zu anzuordnen, dass sie ihre Fehler gegenseitig korrigieren. Und der Rolf hat das zum Brachymedialfernrohr weiterentwickelt, das ist eine um 50 Prozent gekürzte Version davon. (Ja, auf dem Bild ist die schon verkürzt.)

Dennoch: Der Optikpark enthält mehr Park als Optik. Was ein Brachymedialfernrohr wirklich ist, musste ich hinterher bei Wikipedia nachgucken. Optik gibt es vor allem in dem Sinne, dass der Park optisch schön aussieht, aber nicht, dass man dort superviel über die optische Industrie lernt.

Im Regenhaus, wo das Wasser von der Decke prasselt, konnten wir uns wunderbar nach dem heißen Tag erfrischen. Aber wo sind die versprochenen Lichtbrechungen, Regenbögen oder gar "vielfältigen optischen Illusionen"? Die Holzhütte ist doch von innen dunkel.


Aufgemalte Regenbögen gab es zumindest auf den bequemen Liegen und auch weiter hinten, wo bunte Silhouetten und Pyramiden anscheinend die Lichtbrechung darstellen sollen (im Bild). Aber wieso sind Orange und Blau im selben Strahl drin? So richtig wurde das alles nicht erklärt. Die optischen Täuschungen auf den Tafeln überall im Park kannte sogar der Kleinste schon. Zwischen den Bäumen verbargen sich irgendwelche künstlerischen Installationen aus alten Möbeln, bei denen ich beim besten Willen keinen Bezug zur Optik erkennen konnte.
Dass man weder den Leuchtturm besteigen noch durch das Brachymedialfernrohr schauen kann, hatte uns die Internetseite eiskalt verschwiegen, und ebenso, dass die Floßfahrten auf dem Havelarm schon um 17 Uhr Feierabend machen. Die interessantesten Stellen des Parks durften wir also nur doof mit Abstand anglotzen. Als Wissenschaftsmuseum oder gar Mini-Erlebnispark ist das Ding eher enttäuschend, als großzügiger Kinderspielplatz und künstlerisch angehauchter Landschaftspark ganz schön und mit 6 Euro vom Preis her auch noch halbwegs akzeptabel.

Rathenow sieht ganz anders aus als die letzten Städte: Es besteht einfach nur aus Wohnblocks, die urplötzlich in Stadtvillen übergehen. Historisch ist nur die Kirche und das eine Fachwerkhaus. Aber hässlich ist es jetzt auch nicht, es gibt Radwege, und wir waren wunderbar italienisch essen, darum hinterlässt Rathenow bei mir trotzdem einen guten Eindruck.


In einer der Stadtvillen haben wir gepennt, zufälligerweise beim selben Betreiber wie der gestrigen Unterkunft. Die in Rathenow ist eindeutig noch schöner. Ich pflanzte mich in einen Lesesessel im achteckigen Erker mit Blick auf den Netto gegenüber und fühlte mich wie der Lehnsherr über die gesamte Straßenkreuzung.


Diesmal waren wir schlauer, kauften ein und bereiteten uns in der Küche das Frühstück selbst zu. Während wir das Rührei vernichteten, steckten unsere Füße schon in den Pedalen - denn die Küche hat zwei witzige Fahrradhocker.


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