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05 September 2021

Weser: Von Emmerthal nach Vlotho

Weser-Tag 4: Das westfälische Weserwestwindtal

gefahren im: August 2020
Start: Vlotho, Bahnhof
Ziel: Emmerthal, S-Bahnhof
Länge: 56 km
Weserquerungen: 2 (1 Brücke, 1 Fähre)
Ufer: erst rechts, dann links
Bundesländer: Niedersachsen, NRW
Landschaft: niedrigere und fernere Hügel im Westwesertal
Wegbeschaffenheit: Asphalt und Kies
Steigungen: leichte im Brennnesselwald
Wetter: heiße Sonne mit Cumuluswolken
Wind: Westfälischer Westwind
Highlight: Escape Room Hameln
Größte Hürde: Wartezeit, bis im vollen Restaurant in Hameln Essen und Rechnung kommen
Zitat des Tages: "Bei Papst Georg dem IV. handelte es sich um einen Pferdenarren, der die meiste Zeit in den Ställen des Vatikan verbrachte. Doch war er auch ein Mann des Volkes und von großer Beliebtheit."
- Schachrätsel im Escape Room Hameln: Welche Figur muss man laut diesem Satz wohin stellen? (Auflösung ganz unten) -

1. Fahren Sie diese Etappe am besten in die entgegengesetzte Richtung. Dadurch entgehen Sie dem Gegenwind.

2. Überqueren Sie die Brücke und fahren Sie durch gelbe Felder und auf einem Damm am Ortsteil Tündern vorbei. Tindern Sie in Tündern mit einer Katze: Das Tier geht zielstrebig auf Sie zu, guckt auffordernd, lässt sich einmal kurz streicheln und merkt nach kurzem körperlichen Verhältnis, dass es nicht ganz passt. Ob es auf diese Weise das ideale Herrchen findet?


Singen Sie laut mit, wenn Sie an einer Gruppe in Campingstühlen vorbeikommen, die fröhlich und lauthals die Bohenmian Rhapsody intoniert.
Pinkeln Sie anschließend in die Büsche und entdecken Sie dabei eine Felswand am anderen Ufer, welche Sie durch den starken Bewuchs sonst nie gesehen hätten.



3. Überqueren Sie zwei Brücken und den Hafen von Hameln mit seinen rostigen Güterwaggons, Gleisen und Brücken.



4. Klingeln Sie die Fußgänger aus dem Weg und erreichen Sie die Uferpromenade mit Wasserfall.
Sie haben schon Hunger? Dann suchen Sie sich das ideale Restaurant für Ihre Ansprüche aus. Falls Sie Lust auf Tiefkühlgemüse mit Fett haben, essen Sie im "Böhmischen" Restaurant an der Wassermühle, das irgendwann eine diplomatische Krise mit der Tschechischen Republik auslösen wird. Falls Sie Lust auf besseres Gemüse und Fleisch in verschiedenen Teigverpackungen haben, essen Sie lieber im mexikanischen Restaurant in der Innenstadt.


5. Erwarten Sie eine weitere typische südniedersächsische Fachwerkstadt. Stellen Sie dann fest: Hameln ist keine gewöhnliche Fachwerkstadt. Anders als in Hann. Münden & Co. ist a) auch der Teil außerhalb der Altstadt noch ziemlich schön anzusehen und b) sehen die Altstadthäuser nicht wie aus einem Guss aus. Stattdessen sind sie individuell und farbenfroh gestaltet und mit eigenen Namen im Stadtplan eingezeichnet.

Dieses Exemplar mit rosa Putz und grauen Sandsteinbildern nennt sich Dempterhaus. Darin wohnte nämlich Bürgermeister Tobias von Dempter im 17. Jahrhundert.



Besonders wichtig: Das Rattenfängerhaus aus dem Jahre 1602. Darin hat nie ein Rattenfänger gewohnt, aber an der Seite befindet sich eine Inschrift, laut der 1284 ein "Piper" alle Kinder mitgenommen haben soll. Das ist die älteste Überlieferung der Geschichte, die Hameln berühmt gemacht hat. Vermutlich wurde der Text aus einem Kirchenfenster übernommen, das kurz nach den Ereignissen von 1284 entstand und mittlerweile zerstört ist.


Das Märchen sollte ja bekannt sein: Die Stadt leidet unter einer Rattenplage, ein Kammerjäger mit Flöte sorgt ganz ohne Chemiekeule für schnelle Abhilfe, erhält jedoch nicht die vertraglich vereinbarte Gegenleistung. Statt nun einen Anwalt oder ein Inkassounternehmen einzuschalten, entführt er einfach alle Kinder mit derselben hypnotischen Flötenmusik. Ende.
Soweit das Märchen, aber was ist damals wirklich passiert? Klar ist: Irgendwie sind tatsächlich Kinder oder junge Leute verschwunden, sonst gäbe es nicht so viele Aufzeichnungen. Vielleicht hat sie eine Seuche dahingerafft. Etwas besser zum Märchen passen die Thesen, dass jemand alle jungen Leute für den Krieg oder die Besiedlung der wilden Ostgebiete abgeworben hat. Entscheiden Sie selbst, welche Theorie ihnen am besten gefällt.

Aber die Stadt Hameln ist über diesen Verlust mittlerweile hinweggekommen. Lauschen sie dem Rattenfänger-Glockenspiel am Rathaus und sehen sie den sich drehenden Ratten zu, folgen sie den Wegweiser-Ratten auf den Gehwegplatten zum Antiquariat Leseratte, bleiben sie stehen vor der roten Rattenfängerampel und fahren sie um den Kreisverkehr mit Stadtplanratte in der Mitte. Im Grunde hat Hameln heute eine neue Rattenplage, nur dass diese Ratten nicht beißen und fressen, sondern Touristen anlocken. Fast der ganze Fremdenverkehr scheint auf dieser Geschichte zu basieren - obwohl weder die Stadt noch der häufig dargestellte Rattenfänger wirklich gut darin wegkommen.


6. Falls Ihnen das nicht reicht, besuchen Sie das Museum Hameln. Die widmen mehrere Räume dem Typen mit der Flöte und haben alle möglichen Bücher, Gemälde, merkwürdigen Skulpturen und Filme gesammelt, vom fröhlichen Disney-Musical, wo die Kinder am Ende im Süßigkeiten-Schlaraffenland landen, bis zum verstörenden Puppenfilm eines slowakischen Künstlers.
Kaufen Sie sich im Museumsshop eine Brotratte. Beißen Sie ihr einmal kräftig in die Schnauze. Spucken Sie den versalzenen, harten Teig angewidert aus. Bäh! Die Dinger sind nur zur Deko gedacht. Das muss einem doch gesagt werden!

Daneben hat das Museum aber auch noch tausend andere Räume zur Stadtgeschichte. Es erstreckt sich über drei Etagen in zwei Gebäuden und nimmt einfach kein Ende. Das Rattenfängertheater war leider kaputt, deshalb haben wir das Highlight versäumt. (Das hätten sie ruhig erwähnen können, bevor wir bezahlt haben.)


Öffnen Sie eine weitere Tür im Museum und betreten Sie eine düstere Sonderausstellung. Hier geht es um jemanden, der zu Hameln im Gegensatz zum Rattenfänger so gar keinen Bezug hat: James Bond. Gerade war irgendein Bond-Jubiläum, daher kann man in dieser Ausstellung alle möglichen Hintergrundinformationen über die Filme erfahren - außer, was zum Geier James Bond mit Hameln zu tun hat.
Vielleicht wünschen sich die Hamelner, dass Bond damals bei der Rattenplage geholfen hätte. Der hätte einfach die Ratten erschossen und durch Kontakt mit den Hamelnerinnen sogar noch ein paar zusätzliche Kinder dagelassen. Außerdem ließe er sich touristisch sogar noch besser vermarkten.


7. Besichtigen Sie das Münster des Heiligen Bonifatius. Gehen Sie sodann zur Rückseite der Kirche und steigen Sie anschließend hinab in den Raum des Heiligen Escopus - einen Escape Room. Ach ja, vereinbaren Sie vorher einen Termin.


Lösen Sie in der Gruft das Rätsel, wieso sich Bruder Wenzel so seltsam verhält. Mit Sanduhr, einem genialen Schachrätsel und ganz ohne Kameras oder Hightech ist das ein außerordentlich authentischer Raum in den Grundmauern einer echten Kirche. Die Auflösung bezüglich Bruder Wenzel ist recht banal, vor allem geht es darum, die verschlossene Tür zu öffnen, bevor er zurückkehrt.


Selbst die Tankstelle von Hameln wurde aus Fachwerk errichtet.


8. Ihnen ist zu warm? Dann nehmen Sie ein Bad an der Mündung der Hamel. Dieser Bach fließt einmal um die Innenstadt und plätschert über die Steine in die Weser. Am Übergang zum größeren Fluss wird das Wasser abrupt mindestens zehn Grad wärmer.
Die Steine am Grund der Weser sind etwas glitschig, aber nicht spitz. Hier leben kleine weiße Muscheln und viele graue Fische. Vorsicht: Sollten Sie zu lange baden, zieht Sie die Strömung gleich bis nach Bremerhaven.
Anschließend knickt die Weser nach Nordwesten ab und es beginnt eine neue Landschaft.


9. Folgen Sie dem Radweg vorbei an der Rasthütte von Hessisch Oldendorf (das nicht in Hessen liegt).  Hinten im Norden zieht sich ein ununterbrochener Bergrücken quer über den Horizont, ein Ausläufer des Teutoburger Waldes. Wie kommt die Weser da nur durch, wenn es keine Lücke gibt? Erst einmal gar nicht, und deshalb ist das die einzige Stelle, wo unser Fluss länger nach Westen fließt. Das ist der sogenannte Weserbogen - oder, wie ich es nenne, das westfälischen Weserwestwindtal.
Hier werden alle Hügel ein bisschen niedriger und rücken in die Ferne. Auch der Radweg folgt dem Ufer nicht mehr so genau, sondern schlängelt sich im Zickzack durch die Dörfer und Baggerseen. Schön ist das immer noch, aber der Weg durch das südliche Wesertal hat mir besser gefallen.


Sie sind schon wieder trocken? Dann nehmen Sie ein Bad in den flachen Tiefen eines Weser-Altarms. Auch wenn das Wasser nur einen halben Meter tief ist, sollten Sie schwimmen. Ansonsten versinken Sie bis zu den Knien in gummiartigem Schlamm.


10. Wenn Sie möchten, überqueren Sie den Fluss auf der nördlichsten Hochseilfähre der Weser (was jetzt nicht so was Besonderes ist, aber Hauptsache irgendein Rekord). Der Fährmann begrüßt Sie mit "Willkommen an Bord!". Er brummt, knattert und raucht ebenso wie seine Fähre.
Am Südufer entgehen Ihnen einige Kilometer auf der Hauptstraße. Ansonsten ist es egal, an welchem Ufer Sie für den Rest der Strecke bleiben. Beide haben etwa gleich viele Kieswege, Steigungen und sind durch ihre unnötigen Schnörkel etwa gleich lang.


11. Radeln Sie auf diesen Schnörkeln zur Exter. Einen Radweg hat dieses Nebenflüsschen nicht, aber eine Fahrraddraisine.
Für die wird überall fleißig geworben, unter anderem mit einer Draisine zum Probesitzen auf dem Marktplatz von Rinteln. Auch eine Dampflok dampft von hier aus in Richtung Wunstorf beim Steinhuder Meer. Ansonsten beinhaltet das karierte Straßennetz von Rinteln eine Strandbar an der Weser, ein modernes Stadttor mit Glas drin und ein Bächlein durch die Fußgängerzone.
Sie haben schön wieder Hunger? Nun, dann essen Sie eben Flammkuchen auf dem Marktplatz. Das Restaurant heißt Stadtkater, sein Logo zeigt allerdings ein Eichhörnchen. Mit Zoologie kennen sich die Rintelner wohl nicht so aus. (Der Speck auf den Flammkuchen stammt hoffentlich weder vom Kater noch vom Eichhörnchen, wir sind hier schließlich nicht bei den Hüossen.)

12. Sausen Sie quer durch die Felder am Doktorsee. Das ist einer der vielen Baggerseen am Weserbogen. Sie wollen baden oder das Restaurant aufsuchen? Tja, dann müssen Sie erst einmal ein paar Euro Eintritt bezahlen, um überhaupt den Zeltplatz betreten zu dürfen. Das ist immer noch einladender als andere Baggerseen, wo aggressive gelbe Schilder auf rostigen Gittertoren Privat schreien. Irgendwo gibt es sicher auch Stellen, wo das kostenlose Baden toleriert wird, aber die haben Sie wohl verpasst.


13. Fahren Sie zwischen zwei weiteren Seen hindurch. Auch dort werden Sie nicht fündig, denn das Baden ist denen vorbehalten, welche auf der Wasserski-Seilbahn um den See sausen und dabei das Gleichgewicht verlieren.
Beobachten Sie die Wasserskifahrer eine Weile und stellen Sie fest, dass sich deren Fähigkeiten umgekehrt proportional zum Alter verhalten. Bewundern Sie den zehnjährigen Jungen, der sich einhändig festhält, hin und her surft und sicher über die Schanzen fliegt, aber identifizieren Sie sich eher mit dem Dreißigjährigen, der ständig ins Wasser fällt.


Kurven Sie durch irgendwelche Dörfer, verfahren Sie sich ein bisschen und rätseln Sie, ob der Bau in Beige da drüben jetzt das Schloss oder die Kirche von Varenholz ist.


14. Entdecken Sie den sogenannten Weg der Blicke Brennnesseln. Der ist ganz schön zugewachsen, Sie werden da also nicht allzu viele Blicke erblicken.


Der Weg der Blicke führt durch einen wilden Wald ohne jeden Asphalt. Strampeln Sie über kleine Steigungen, Serpentinen und eine laut Warnschild "gefährliche Kurve" hinauf (so gefährlich war die nun auch wieder nicht) - und hüten Sie sich vor den Brennnesseln. 


Dann rücken die Hügel für wenige Kilometer dichter an die Weser heran, und dazu gibt es auch noch orangefarbene Klippen. Das ist ein seltener Anblick am Weserbogen, also genießen Sie ihn.


15. Schließlich müssen Sie sich noch auf einen schmalen Asphaltstreifen neben Hauptstraße und Bahngleise quetschen. Der Weserbogen ist etwas dichter besiedelt als das übrige Tal und hat eine bessere Bahnanbindung.
Die sogenannte Weserbahn ist eine schnelle Regionalbahn, die 15 Bahnhöfe ansteuert - von denen aber nur viereinhalb an der Weser liegen. Korrekterweise müsste sie Weserbogen-und-Umgebung-Bahn heißen.


16. Falls Sie schon wieder unter akutem Hunger leiden, fahren Sie links ab in einen wenig einladenden Betontunnel. Dahinter verbirgt sich Vlotho. Die Altstadt ist hier etwas bescheidener ausgefallen, dasselbe gilt auch für das gastronomische Angebot, welches unter anderem das Eiscafe Corona umfasst. Auf dem Hügel über der Stadt thront eine Burg, welche sich auf einem Wandgemälde sehr eindrucksvoll präsentiert - aber entweder sieht sie heutzutage aus wie ein normales Haus oder ich konnte sie von unten nicht sehen.


(Lösung des Schachrätsels: Springer auf G4)

02 Juli 2020

Diemel: Von Marsberg nach Bad Karlshafen

Hinter Marsberg fühle ich mich wohl. Hier scheint es, als würde ich in völligem Einklang mit den mächtigen Nicht-Fließenden leben.

Sie speisen, flanieren und unterhalten sich hier an warmen Abenden, während ihre Kinder an meinen Ufern spielen. Ich rausche und ärgere zum Spaß einige Enten, die gegen den Strom schwimmen wollen. So leicht kommt ihr mir nicht davon!

Viele meiner kleinen Töchter kommen hier von den Hügeln herunter. Sie geben sich alle Mühe, mein Rauschen zu übertönen, und ich gönne den Kleinen den Erfolg.
Nur meine Tochter Pauline traut sich im Frühling noch nicht raus. Vor über 100 Jahren hat ein Mensch namens Kleffner ihr harte, unveränderliche Ufer aus festem Stein gegeben und ihr ein seltsames grünes Rad aufgesetzt. Seitdem ist die Paulinenquelle etwas schüchterner geworden. So früh im Jahr hat sie noch keine Lust, durch ihr neues Zuhause zu sprudeln.

Da habe ich wohl Glück, dass man mir aus diesem grauen, formbaren Stein nur seltsame Brücken übergelegt hat. Die eine ist eigentümlich schräg, die andere trägt seltsame Worte in der Sprache der mächtigen Nicht-Fließenden.

Da hat diese Brücke doch wesentlich mehr Stil.

Wenn der Nicht-Fließende Kleffner nicht gerade Pauline veränderte, überwachte er seine Artgenossen, die in einem tiefen Loch roten Stein aus der Erde gruben. Sie liebten diesen roten Stein sehr, bauten sich einfache Arbeitshütten aus Holz und gruben andere Löcher, in denen sie den Stein im Feuer schmolzen und in etwas verwandelten, das sie Kupfer nannten.
 

Seit mehr als tausend Jahren steigt hier Rauch von meinem Ufer, während emsige Nicht-Fließende die Dinge verändern, die sie in der Natur gefunden haben. Ihre Hütten sind seither immer größer und fester geworden.

Inzwischen ist ihre Liebe zum roten Stein abgekühlt, oder sie haben ihn einfach restlos ausgegraben. Doch ich zweifle nicht, dass ihnen nie die Ideen ausgehen werden, was sie in ihren großen Hütten tun können. Bretter zurechtsägen zum Beispiel.
Und natürlich scheuen sie nicht, die ganze Plörre in mich reinzukippen, die in ihren Hütten entsteht. Bäh! Zumindest machen sie die in letzter Zeit ein bisschen sauber.

Zwischendurch stehen auch mal ein paar schönere Hütten, in denen sie einfach nur wohnen und zusammensitzen. Aber meistens sehe ich nur die großen, weißen Kästen, in denen sie an irgendeinem Zeug herumarbeiten, das sie irgendwo gefunden haben und nun ganz dringend verändern müssen.

Bei ihren vielen Projekten muss ich öfter mal Hilfe leisten. In Westheim haben sie einen Teil von mir abgeschnitten, um in ihrer Mühle Dinge zu zerhäckseln. Na, wenn's ihnen Spaß macht... das kleine Mühlrad schaffe ich doch mit links! (Das mache ich auf jeden Fall lieber, als die eklige Pampe aufzunehmen, die einige ihrer Hütten produzieren.) Aber sie könnten sich ruhig mal entscheiden, wo mein Mühlengraben denn nun langführen soll. Ständig verlegen sie den.
Am Mühlengraben schwebt ein intensiver Geruch nach dem braunen Wasser durch die Luft, dass sie so gern trinken und Bier nennen. Das stellen sie auch in einer Hütte her.

Bislang hatte ich den Eindruck, dass mich die mächtigen Nicht-Fließenden nur für ihre Zwecke benutzt, aber sonst kaum wahrgenommen haben. Aber hier gibt es eine Ausnahme. Der Schriftsteller John von Düffel hat mich für seinen Roman Vom Wasser ganz ausführlich angeguckt und anschließend folgendes niedergeschrieben:
Während die schwarze Orpe still und lautlos wie ein unbelichteter Film vor unseren Augen die hohlwegartigen Ufer entlangglitt, war die Diemel durch ihre Geräusche da. Sie war ein ständiges Plätschern, Sprudeln und Rauschen, von der heiteren Unruhe eines Wasserspiels, so schmeichelt er mir. Der Junge aus dem Buch wächst in einer Papierfabrik in Orpetal auf. Sie wird von einem Kanal meiner Schwester, der Orpe, angetrieben. Ich ist schwer, all die herumtollenden Jungen an meinen Ufern auseinanderzuhalten, und so weiß ich nicht, wie viel von der Geschichte wahr ist.

Auf jeden Fall wurde und wird hier bis heute Papier hergestellt.

Die Fabriken liegen genau zwischen der Orpe und mir. Totz meines Namens (der dunkel bedeutet, ihr erinnert euch) bin ich im Buch der hellere und sympathischere Fluss von beiden, in dem der Junge schwimmen lernt. Silbrig und hell floss sie, in Terrassen gestuft, wie auf Treppen herab. Es war ein freigelegtes, offenes, sehr geordnetes Fließen, beinahe ein Schrebergarten aus Wasser, aus dem jedoch die Lebendigkeit des Wassers tönte, gluckste, plätscherte und sich mit dem Rauschen der hohen Pappeln verband, die am Ufer standen, ebenfalls in strenger Ordnung. Und ich erinnere mich an den Geruch der Diemel. Dieser Geruch war silbriges Wasser und Pappellaub, ein kühler und doch seltsam tauber Geruch, der einen stumpfen Nachgeschmack hinterließ auf der Zunge. Die Diemel war, mit einem Wort, geheuer. Ein gezähmter, domestizierter Flusslauf. Und die Diemelbecken waren wie kleine Seen, hatten Anfang und Ende, boten eine gewisse Sicherheit... Moment mal, hat der mich gerade spießig genannt?!

Hier, das bin ich wenige Kilometer vorher! Sieht das etwa spießig aus?
Aber na schön, ich muss zugeben, meine wilde Zeit als Oberlauf ist wohl vorbei. Ab einer gewissen Kilometerzahl gelten Stromschnellen einfach nicht mehr als cool, sondern nur noch als kindisch und unreif. (Ist das jetzt meine Mittellauf-Krise?)

Jetzt treffe ich auf meinen zweiten großen Haufen, an dem ganz viele Nicht-Fließende zusammenleben. Er heißt Warburg. An diesem Ufer fühle ich mich nicht so wohl, zumindest in früheren Jahrhunderten. Ich spürte Borniertheit, Verachtung und Hass brodeln und wie Blitze zwischen den Hälften dieses Haufens hin und herzucken.

Zuerst bauten die Menschen ihre Hütten unten im Tal auf und nannten sie Altstadt. Eine davon nannten sie Rathaus. Darin entschieden einige von ihnen über wichtiges Zeug.

Dann kamen andere Menschen und bauten ihre Hütten oben auf den Hügel (seltsam, in Marsberg war es umgekehrt) und nannten sie Neustadt. Aus keinem genauen Grund konnten sie die Altstädter nicht leiden - selbst als sie beschlossen, ihre Städte zu vereinigen. Sie stritten, wo nun die wichtigen Entscheidungen getroffen werden sollten, und wechselten regelmäßig vom Altstädter Rathaus ins Neustädter Rathaus und wieder zurück.

Um ihren Streit zu beenden, mussten sie erst eine neue Hütte bauen, die sie Rathaus zwischen den Städten nannten.

Meine Tochter, die Twiste kommt nun hinzu und berichtet von ganz eigenartigen Menschen, die auf Brettern über sie hinwegfuhren. Es hat sehr gekitzelt.

In Warburg endet die Industriezone. Stattdessen durchfließe ich ein mystisches Märchenland. Die Hügel rücken näher heran.

Hier stehen keine Fabriken im Tal, sondern ältere, steinerne Türme auf den Hügeln. Sie nennen sich Burgen. In diesen Bauten lebten einstmals die mächtigsten der mächtigen Nicht-Fließenden. Sie konnten den anderen sagen, was sie tun sollten. Warum die anderen Menschen stets darauf gehört haben, verstehe ich auch nicht so genau.
Im Schloss in Stammen leben nun die alten Nicht-Fließenden. In den übrigen Burgen sind nur noch neugierige Reisende anzutreffen.

Als ich am Desenberg in die Vergangenheit blicke, bin ich beunruhigt. Ein entsetzlicher, feuerspeiender Drache hauste in diesem Vulkan. Die Hitze seiner Flammenstöße ließ mein Wasser sieden, selbst wenn er hundert Meter über mir dahinflog. Karl der Große versprach dem, der den Drachen tötete, das Land um den Desenberg inklusive der neuen Desenburg darauf (Prinzessin und das halbe Königreich waren inflationsbedingt nicht drin).
Eines Tages trank der Drache mein Wasser, als er plötzlich erschrak, fauchte und mir einen derartigen Flammenstoß entgegenschickte, dass ich eine Woche unter Niedrigwasser litt. Es schmerzte furchtbar, mein halber Wasserspiegel war mit einem Schlag verdunstet. Was war geschehen? Er hatte sich vor seiner Spiegelung erschrocken! Nur wenige wussten damals, das Drachen dümmer sind als Delfine und ihr Spiegelbild nicht erkennen.
Im Traum flüsterte ich dieses Wissen einem Ritter zu, der manchmal zum Baden vorbeikam und den ich ganz nett fand. Er nutzte es, indem er drei Spiegel an sein Schild schraubte. Der Drache glaubte, von drei Artgenossen angegriffen zu werden, zögerte und wurde aufgespießt.
Jahre später beobachtete ich, wie der greise Karl der Große mit einigen Zwergen zum Berg wanderte und sich unter die Erde zurückzog - nicht ohne anzukündigen, er würde irgendwann wieder rauskommen und sein Reich wiederherstellen. Weil die mächtigen Nicht-Fließenden mittlerweile lieber anders entscheiden, wem sie gehorchen, wird der Berg vom Verfassungsschutz beobachtet.

 

Als ich gegen die Seiten des Märchentals stoße, finde ich unter der weichen Erdschicht harten Sandstein. Bald habe ich ihn freigespült. Nun habe ich wieder einmal eigene Klippen!

Etwa zur selben Zeit lebte im Märchental eine Familie von großen Nicht-Fließenden, sogenannten Riesen. Der Riesenvater hieß Kruko und lebte auf der Krukenburg. Er hatte drei Töchter: Brama, Saba und Trendula. Die glaubten damals noch an die heidnischen Götter Odin und Thor.

Als der alte Vater starb, schlossen sich Saba und Brama dieser neumodischen Religion namens Christentum an. Nur Trendula widersetzte sich dem Trend, was einen innerfamiliären Religionskrieg auslöste und Brama dermaßen zum Weinen brachte, dass sie blind wurde. Es war eine entsetzliche Zeit, ich floss so schnell wie möglich vorbei und transportierte stets einige Tränen. (Da es sich um Riesentränen handelte, heißt das: hunderte Liter Salzwasser. Womit ich immer noch nicht so schlimm versalzen war wie später die Werra.) Das Weinen war nicht zu ertragen, schnell ein paar Jahre in die Zukunft springen - oh nein, diese tödliche Stille ist ja noch schlimmer.
Die trotzige Trendula mobbte zuerst Brama und dann Saba aus der Burg. Die Schwestern bauten sich ihre eigenen Burgen, die Bramburg und die Sababurg. Als Saba ihre Schwester auf der Bramburg an der Weser besuchte, wurde Trendula eifersüchtig, weil sie nicht eingeladen war, und tötete Saba, als sie an der Krukenburg vorbeistampfte. Ihren Schrei höre ich quer durch die Jahrhunderte.

Danach fühlte sich Trendula auf der Krukenburg aus irgendeinem Grund unwohl und baute sich einige Kilometer stromaufwärts die Trendelburg. (Es ist so tragisch, dass sich die Schwestern nicht zusammenraufen konnten, obwohl sie so viele Gemeinsamkeiten hatten - eine gewisse Einfallslosigkeit hinsichtlich Burgnamen zum Beispiel. Ich hoffe, dass ich mich mit meinen großen Schwestern, der fröhlichen Fulda, der weinenden Werra, der ruhigen Rhuma und der eingemauerten Eder, nie derart verkrache.) Trendulas Geist war ein sich drehendes Chaos, in dem jeden Tag gehässige Gedanken aufblitzten. Besonders viel von Architektur verstand Trendula nicht, denn das Burgtor scheint mir eher für Zwerge als für Riesen geeignet. Und eine der Mauern ist ganz offensichtlich von Schimmel befallen. 
Auf dieser Burg zog Trendula ihre Kinder groß und wurde eine liebende Mutter, die ihren Kindern schöne warme Schuhe bastelte. Aus Brot. Ja, die Alte war wirklich ziemlich durchgedreht.
 

Schwesternmord war ja noch okay, aber eine solche Respektlosigkeit gegenüber einem Grundnahrungsmittel ging Gott dann doch zu weit. (Die Prioritäten des Herrn sind unergründlich.) Er schickte dem Dorf Trendelburg ein Dauergewitter, bis die Bewohner jemanden auslosten, der als Gottesopfer ins Gewitter laufen sollte. Trendula wurde gezogen und im Wald vom Blitz erschlagen. Bäm! Eine Schockwelle jagte durch das Land, dass sich mir die Wellen sträubten. Durch den Einschlag entstanden zwei dicke Krater im Wald, der Nasse und der Trockene Wolkenbruch (weil der eine mit Wasser gefüllt ist und der andere nicht).

Trendulas Töchter waren auch nicht so sympathisch. Eine von ihnen wurde Zauberin und erwarb ein neugeborenes Kind im Austausch im Austausch gegen das Versprechen, keine Anzeige wegen Diebstahl einiger Pflanzen zu erstatten. Dieses Kind nannte sie Rapunzel und sperrte sie in einen Turm, der nur über die längste Langhaarfrisur der Literaturgeschichte bestiegen werden konnte, weil Aufzüge noch nicht erfunden waren. Die Haare hängen auch Jahrhunderte später aus dem Fenster.

Die Menschen lieben solche grausamen Geschichten, zumindest sofern sie das ganze Zeug nicht selbst miterlebt haben. Sie nennen sie Märchen und malen sie sogar auf Straßenlaternen.

Unter der Trendelburg stand eine hübsche Bogenbrücke, aber die habe ich aus Versehen zerstört. Ich war wohl etwas zu fix unterwegs und da muss ich irgendwie die Fundamente unterspült haben. Dann war die Brücke so instabil, dass die Menschen sie abgerissen haben. Upsi! Aber ich kann ja nichts dafür, wenn sie mich so einengen und hetzen, werde ich natürlich auch schneller.
Ein Künstler hat die Brücke als Modell nachgebaut, wobei ich sehr verkürzt dargestellt werde. Frechheit!
Museum Mühlenplatz Gieselwerder an der Weser

Ich weiß auch, dass durch mein Märchental früher ein Damm mit zwei Stahlstreifen verlief, auf denen die mächtigen Nicht-Fließenden in langen Fahrzeugen Zeug transportierten. Ursprünglich war geplant, die Fahrzeuge von Pferden ziehen zu lassen, doch dann erfand jemand die Dampfmaschine. Sie nannten dieses laut schnaufende Ungeheuer, das mir regelmäßig Ruß ins Wasser pustete, die Carlsbahn. Es war fast, als würde wieder ein Drache an meinem Ufer leben. Nur hatten die Menschen ihn diesmal nicht getötet, sondern gezähmt.

Irgendwann verstummte die Carlsbahn. Als mir Ausdünstungen von schwarzem fließenden Stein entgegenwehen, weiß ich, dass die Menschen sie durch einen ihrer Wege ersetzt haben.

Nur an einer Stelle führte die Bahn langsam den Hügel hinauf, und dort dürfen die Menschen heute nicht einmal zu Fuß auf dem Bahndamm wandern. Es ist still, Tiere verstecken sich in der Tiefe des Waldes und nur ein paar bröckelnde Steinmauern erinnern daran, was für einen Krach die Bahn früher gemacht hat.
Warum fuhr die Bahn überhaupt den Hügel hinauf? Nun, mein Tal macht hier einen scharfen Knick, aber davon ließen sich die Menschen nicht aufhalten.

Sie führten die Bahn ein Stück höher und gruben ihr einen Tunnel. Ich erinnere mich, wie ein Mensch, den sie Landgraf Carl von Hessen nannten, hier herumstolzierte und vor Stolz fast platzte, während  andere für ihn den ersten Eisenbahntunnel in Hessen gruben. Die Bahn wurde sogar nach ihm benannt. Ich denke immer noch, dass er das Ding hauptsächlich hat bauen lassen, um anzugeben.
Seit es im Tunnel ruhig ist, hängen im Winter gern die Fledermäuse darin ab. Deshalb verschließen die Menschen den Carlsbahn-Tunnel das halbe Jahr über. Manchmal können die mächtigen Nicht-Fließenden echt zuvorkommend sein. (Auch wenn meine Schwester, die weinende Werra, mir das nicht so recht glaubt.)

Zum Schluss folgt zum Glück wieder ein Ort, an dem ich mich wohlfühle. Das habe ich zum Teil mir selbst zu verdanken.
Landgraf Carl hat hier eine Stadt gegründet und sie in aller Bescheidenheit Bad Karlshafen genannt. Wie überall konnte ich spüren, wie die Menschen unter allerlei Gebrechen stöhnten und litten. Je älter sie wurden, desto schlimmer wurde es, zumal die Heilkunde damals noch nicht so fortgeschritten war. Kommt mal klar, ihr Leute, ich bin auch nicht mehr die jüngste. Meine Oberfläche ist inzwischen auch ganz furchig, aber jammere ich deswegen so herum?
Ich entdeckte, dass tief unter mir große Mengen an Salzwasser unter der Erde schwappten. Ich wusste, dass die Menschen das Salz brauchen, doch zu viel davon würde mir schaden. Dennoch dachte ich, ich mach mal was Nettes, spülte vorsichtig ein paar Salzkristalle aus der Erde und fertigte daraus einen magischen Salz-Haarreif. Dann schlich ich unsichtbar durch die Stadt und berührte sie mit dem Ding. Ich musste erst die richtige Dosis finden (zu viel Salz bringt die Menschen blöderweise um), aber nach einigen wenigen Kollateralschäden hatte ich den Dreh raus und spürte, wie das kollektive Stöhnen und Ächzen langsam nachließ. Und ich hörte, wie sie tuschelten und Geschichten erzählten über die unsichtbare, wohltätige Salzfee.
Bis ich das Ding verlor.
Ja, das war echt doof, aber ich konnte den Reif einfach nicht mehr finden. Wo hatte ich das verdammte Teil nur hingelegt? Werde ich etwa senil? Nein, ich bin doch noch völlig klar im Geist. Oder? Ich suchte und suchte, und das Stöhnen wurde immer lauter und unerträglicher. Ich hatte mich doch schon an die Ruhe gewöhnt!

25 Jahre danach fand mich ein Nicht-Fließender klagend am Grunde eines Lochs, in Gestalt der Salzfee. Sein Name war Jaques Galland. Er war tatsächlich recht galant. Er nannte sich Hugenotte und kam aus einem Gebiet namens Frankreich, demselben Ort, von dem auch Karl der Große stammte. Aber Jaques war quasi das Gegenteil von Karl dem Großen: Er hatte seine Heimat selbst verlassen müssen, weil er an den falschen Gott glaubte. (Landgraf Carl wollte mit seiner neuen Stadt Karlshafen extra Hugenotten anlocken. Ihm war es nicht so wichtig, an welchen Gott jemand glaubte, solange er Geld einbrachte.) Der Apotheker Jaques wurde der beste nicht-fließende Freund, den ich je hatte. Und das nicht nur, weil er bei einer zweiten Suchaktion den Reif in einer Felsspalte fand.
Dabei entdeckten wir eine Öffnung im Fels, aus der das unterirdische Salzwasser sprudelte. Mithilfe dieser wertvollen Information machte er 1730 aus Bad Karlshafen eine Kurstadt. Seitdem spüre ich die wohligen, erleichterten Seufzer all der alten Menschen, die Heilung durch das warme Salzwasser suchen, das inzwischen direkt aus dem Boden in die weißen Hütten läuft. Hinzu kommt das Lachen der Kinder, die direkt neben mir an einem Spielplatz spielen.
In dieser angenehmen Atmosphäre treffe ich auf meine restliche Familie, die sich zur Weser verbunden hat. Gemeinsam legen wir den Rest der langen Reise zum Meer vereinigt als ein Bewusstsein zurück. Wie gesagt: Kein Nicht-Fließender wird jemals verstehen können, wie es ist, auf diese Weise zu existieren.