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02 September 2021

Weser: Von Hann. Münden nach Beverungen

Der ehrliche Reiseführer zum Weserradweg


Weser-Tag 1: Im Zweifel links

gefahren im: Mai 2020
Start: Hann. Münden, Weserstein/Bahnhof
Ziel: Burg Beverungen/Bahnhof Lauenförde-Beverungen
Länge: 51,5 km
Weserquerungen: 2 (Brücken)
Ufer: fast nur links
Bundesländer: Niedersachsen, Hessen, NRW
Landschaft: niedriges, aber schönes grünes Tal
Wegbeschaffenheit: meist Asphaltradwege
Steigungen: rechts stark, links harmlos
Wetter: ideal sonnig
Wind: leichter Gegenwind
Highlight: Hannoversche Klippen
Größte Hürde: keine, alles lief perfekt
Zitat des Tages: "Das Mühlensterben war in vollem Gange und unser Künstler dachte darüber nach, wie er dafür sorgen kann, dass auch die Nachwelt diese Mühlen noch zu sehen bekommt."
- Einführungsvortrag am Mühlenplatz -


1. Ihre Reise beginnt in Hann. Münden. Nennen Sie es einfach so und ignorieren Sie den Abkürzungspunkt nach dem Hann. Eigentlich steht es für Hannoversch Münden, aber so wird die Stadt nur noch auf Gullydeckeln, in Versicherungsbriefen und den Durchsagen der Abellio-Züge genannt. Jeder, wirklich jeder andere schreibt und spricht nur Hann.

Nehmen Sie sich ein bis zwei Stunden, um durch Hann. Münden zu schlendern, denn Hann. Münden ist schön. Sie können die Blätter des chinesischen Taschentuchbaums bewundern (die wie Taschentücher aussehen sollen), mittelalterlich thematisierte Wurst essen, das Welfenschloss (nur von außen) bewundern und in der Kirche des Heiligen Blasius knien und beten.

2. Überqueren Sie schließlich auf einer langen Holzbrücke einen rauschenden Kanal mit Stauwehr, der Werra und Fulda verbindet. Sie landen auf einer Insel inmitten von Flüssen, die größtenteils von einem Parkplatz bedeckt wird. An ihrer Spitze befindet sich unter den ausladenden Ästen einer Kastanie der Weserstein. Die Weser hat keine offizielle Quelle, aber ihr Startpunkt macht eine Menge her. Lesen Sie am Zusammenfluss der Werra und Fulda das berühmte Gedicht.


3. Achten Sie darauf, dass Sie dem richtigen Fluss folgen. Hann. Münden ist ein Radweg- und Flussknotenpunkt. Hier enden der Werra- und Fuldaradweg und es beginnen der Weser- und der Weser-Harz-Heide-Radweg. Auf letzterem sind es nur ca. 35 km bis zum Leineradweg.

Sofern Sie schwere Steigungen vermeiden möchten, fahren Sie zunächst am linken Ufer der Weser. Die Anstiege dort sind völlig harmlos. Verlassen Sie dazu Hann. Münden über die große Fuldabrücke und biegen Sie rechts ab. Nach kurzer Zeit ist aus der Fulda die Weser geworden. Folgen Sie der B80. Rechts liegt der Bramwald in Niedersachsen, links der hessische Reinhardswald.

Seit Kurzem ist der Weserradweg Deutschlands beliebtester Radweg. In einer Umfrage hat er den Elberadweg von der Spitzenposition verdrängt. Stellen Sie nach wenigen Metern fest: Mit Recht.


4. Nach den ersten unbesiedelten Kilometern passieren Sie die schönen Fachwerkstraßen von Reinhardshagen (linkes Ufer) und Hemeln (rechtes Ufer). Die Orte sind lebendig und einladend. Zum Essen gehen ist es allerdings noch zu früh, also fahren Sie weiter.


5. Erst einmal durchqueren Sie noch ein paar Kilometer dunkelgrüne Wildnis. Diesmal können Sie ein wenig Abstand zwischen sich und die B80 bringen.


6. Na schön, in Gieselwerder dürfen Sie was essen. Nehmen Sie am besten das griechische Restaurant an der Kreuzung. Hier bekommen Sie selbst bei komplizierten Pandemie-Auflagen schnell etwas Leckeres auf den Tisch.
In Gieselwerder entstand 1813 die letzte Fachwerkkirche Hessens (rechts im Modell).


7. Besuchen Sie auf jeden Fall den Mühlenplatz, dazu müssen Sie sich nicht weit vom Radweg entfernen. Lassen Sie sich zunächst den Einführungsvortrag vom Mann an der Kasse geben: Ein Künstler aus Kassel war über das Mühlensterben in Deutschland besorgt und wollte die Wassermühlen für die Nachwelt erhalten. Sein Hobby war der Modellbau.
Logische Konsequenz: 1969 eröffnete ein Freilichtmuseum, das Wassermühlen aus allen Regionen Deutschlands zeigt. Es ist nicht allzu riesig, aber das ist der Eintritt mit 2,5 Euro ja auch nicht.


Die Modelle sind mit kleinen Tieren, Menschen und Wäscheleinen bestückt und durch plätschernde Kanäle und Aquädukte verbunden. Durch seine zarten Ströme und die drehenden Mühlräder ist die Anlage ebenso lebendig wie eine Modellbahnlandschaft.



Außerdem zeigt sie die spektakulärsten deutschen Burgen, wobei das Modell der Wartburg sicherlich am größten und eindrucksvollsten ist. Hinzu kommen einige Burgruinen, Brücken, Kirchen und Rathäuser aus der Region.


8. Erkennen Sie einige Kilometer später eines der Modelle (vier Bilder höher, ganz links) in der Realität wieder: Die Klosterkirche von Lippoldsberg.

 

In der Flusschleife bei Bodenfelde kommen wieder Bahngleise ins Tal, damit auch Bahnreisende die spektakulärste Stelle der Oberweser sehen können. Verpassen Sie das verschlafene Bodenfelde am anderen Ufer, da müssen Sie nicht hin.
Falls Sie allerdings während einer Bahnfahrt von Göttingen nach Paderborn hier festsitzen, können Sie problemlos eine Runde durch die idyllische Ansammlung aus Schiefer, Fachwerk, Ziegelsteinen und efeubewachsenen Schornsteinen drehen. Eigentlich reicht die Zeit sogar für drei bis vier Runden. Die Nordwestbahn hat in Bodenfelde sage und schreibe 45 Minuten planmäßigen Aufenthalt.


9. Wieder ein paar unbewohnte Kilometer. Diesmal werden Sie begleitet von der guten alten B80, einer Leitplanke und einer hohen grünen Blätterwand.


Lassen Sie Ihre Fantasie schweifen: Sieht dieses flauschige grüne Feld nicht ein bisschen aus, als würde eine gewaltige haarige Raupe im Wesertal liegen?


10. Überqueren Sie die Weserbrücke im schicken weißen Bad Karlshafen.


Es besteht aus Kuranlagen, weißen Hotels und der Wesertherme. Rechts fließt ein völlig unterschätzter, zu Unrecht unbekannter Nebenfluss namens Diemel in die Weser.


11. Schließen Sie Ihr Rad am Bahnübergang hinter der Stadt an und dringen Sie in den Wald ein.


Erklimmen Sie eine geheimnisvolle Treppe im Wald, deren Gestaltung offenbar dem Spiel Temple Run entnommen wurde.


12. Sobald Sie oben an der Straße angekommen sind, gehen Sie auf einem anderen Weg wieder den halben Hügel runter. An der Straße liegt das Dreiländereck von Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfahlen. Ab jetzt ist die Weser die Grenze zwischen Niedersachsen und NRW.


13. So schön das Wesertal auch ist, irgendetwas fehlte bisher noch: Ein paar prächtige Felsformationen. Unter den Wurzeln der Bäume verbirgt sich Buntsandstein, doch davon war noch nicht viel zu sehen. Das liegt auch daran, dass ein Großteil davon längst in Steinbrüchen abgebaut wurde.
Aber bei Bad Karlshafen gucken die Sandsteinblöcke heraus. Das sind die sogenannten Hannoverschen Klippen. Um aus diesem einen Felsenfleck das Maximum herauszuholen, wurde der Weser-Skywalk errichtet. Lassen Sie sich den nicht entgehen, felsiger wird es heute nicht mehr!


Betreten Sie zögerlich den Gitterboden und laufen Sie über den Klippen. Entziffern Sie die Inschriften der Liebesschlösser. Einige davon wurden von unten an das Gitter gehängt - wie auch immer die akrobatischen Liebenden das geschafft haben.


14. Nachdem Sie die Aussicht bis zur Burg Herstelle ausreichend genossen und fotografiert haben, steigen sie wieder hinab und folgen Sie dem Radweg dort unten entlang der Bahngleise.


15. Kehren Sie auf der nächsten Brücke ans linke Ufer zurück. Mit dem Linken fährt man besser.


16. So können Sie nämlich am Fluss weiterfahren. Das Ufer der Weser besteht jetzt aus merkwürdigen Buchten, deren Ränder mit Steinen befestigt wurden. Diese Buhnen begrenzen den Flusslauf zum Zwecke des Hochwasserschutzes.


17. Ihre erste Etappe endet zwischen den Städten Beverungen (linkes Ufer, NRW) und Lauenförde (rechts, Niedersachsen). Von der Burg Beverungen ist nur noch ein einziger Turm (im Bild links) übrig. Hier können Sie in der Mitte einer Baustellenbrücke nach Lauenförde wechseln. Beverungen sieht zwar schöner aus, Lauenförde hat dafür einen Bahnhof.


Vergessen Sie nicht, Ihre Uhr umzustellen: Der Bahnhof liegt in einer anderen Zeitzone.

02 Juli 2020

Diemel: Von Marsberg nach Bad Karlshafen

Hinter Marsberg fühle ich mich wohl. Hier scheint es, als würde ich in völligem Einklang mit den mächtigen Nicht-Fließenden leben.

Sie speisen, flanieren und unterhalten sich hier an warmen Abenden, während ihre Kinder an meinen Ufern spielen. Ich rausche und ärgere zum Spaß einige Enten, die gegen den Strom schwimmen wollen. So leicht kommt ihr mir nicht davon!

Viele meiner kleinen Töchter kommen hier von den Hügeln herunter. Sie geben sich alle Mühe, mein Rauschen zu übertönen, und ich gönne den Kleinen den Erfolg.
Nur meine Tochter Pauline traut sich im Frühling noch nicht raus. Vor über 100 Jahren hat ein Mensch namens Kleffner ihr harte, unveränderliche Ufer aus festem Stein gegeben und ihr ein seltsames grünes Rad aufgesetzt. Seitdem ist die Paulinenquelle etwas schüchterner geworden. So früh im Jahr hat sie noch keine Lust, durch ihr neues Zuhause zu sprudeln.

Da habe ich wohl Glück, dass man mir aus diesem grauen, formbaren Stein nur seltsame Brücken übergelegt hat. Die eine ist eigentümlich schräg, die andere trägt seltsame Worte in der Sprache der mächtigen Nicht-Fließenden.

Da hat diese Brücke doch wesentlich mehr Stil.

Wenn der Nicht-Fließende Kleffner nicht gerade Pauline veränderte, überwachte er seine Artgenossen, die in einem tiefen Loch roten Stein aus der Erde gruben. Sie liebten diesen roten Stein sehr, bauten sich einfache Arbeitshütten aus Holz und gruben andere Löcher, in denen sie den Stein im Feuer schmolzen und in etwas verwandelten, das sie Kupfer nannten.
 

Seit mehr als tausend Jahren steigt hier Rauch von meinem Ufer, während emsige Nicht-Fließende die Dinge verändern, die sie in der Natur gefunden haben. Ihre Hütten sind seither immer größer und fester geworden.

Inzwischen ist ihre Liebe zum roten Stein abgekühlt, oder sie haben ihn einfach restlos ausgegraben. Doch ich zweifle nicht, dass ihnen nie die Ideen ausgehen werden, was sie in ihren großen Hütten tun können. Bretter zurechtsägen zum Beispiel.
Und natürlich scheuen sie nicht, die ganze Plörre in mich reinzukippen, die in ihren Hütten entsteht. Bäh! Zumindest machen sie die in letzter Zeit ein bisschen sauber.

Zwischendurch stehen auch mal ein paar schönere Hütten, in denen sie einfach nur wohnen und zusammensitzen. Aber meistens sehe ich nur die großen, weißen Kästen, in denen sie an irgendeinem Zeug herumarbeiten, das sie irgendwo gefunden haben und nun ganz dringend verändern müssen.

Bei ihren vielen Projekten muss ich öfter mal Hilfe leisten. In Westheim haben sie einen Teil von mir abgeschnitten, um in ihrer Mühle Dinge zu zerhäckseln. Na, wenn's ihnen Spaß macht... das kleine Mühlrad schaffe ich doch mit links! (Das mache ich auf jeden Fall lieber, als die eklige Pampe aufzunehmen, die einige ihrer Hütten produzieren.) Aber sie könnten sich ruhig mal entscheiden, wo mein Mühlengraben denn nun langführen soll. Ständig verlegen sie den.
Am Mühlengraben schwebt ein intensiver Geruch nach dem braunen Wasser durch die Luft, dass sie so gern trinken und Bier nennen. Das stellen sie auch in einer Hütte her.

Bislang hatte ich den Eindruck, dass mich die mächtigen Nicht-Fließenden nur für ihre Zwecke benutzt, aber sonst kaum wahrgenommen haben. Aber hier gibt es eine Ausnahme. Der Schriftsteller John von Düffel hat mich für seinen Roman Vom Wasser ganz ausführlich angeguckt und anschließend folgendes niedergeschrieben:
Während die schwarze Orpe still und lautlos wie ein unbelichteter Film vor unseren Augen die hohlwegartigen Ufer entlangglitt, war die Diemel durch ihre Geräusche da. Sie war ein ständiges Plätschern, Sprudeln und Rauschen, von der heiteren Unruhe eines Wasserspiels, so schmeichelt er mir. Der Junge aus dem Buch wächst in einer Papierfabrik in Orpetal auf. Sie wird von einem Kanal meiner Schwester, der Orpe, angetrieben. Ich ist schwer, all die herumtollenden Jungen an meinen Ufern auseinanderzuhalten, und so weiß ich nicht, wie viel von der Geschichte wahr ist.

Auf jeden Fall wurde und wird hier bis heute Papier hergestellt.

Die Fabriken liegen genau zwischen der Orpe und mir. Totz meines Namens (der dunkel bedeutet, ihr erinnert euch) bin ich im Buch der hellere und sympathischere Fluss von beiden, in dem der Junge schwimmen lernt. Silbrig und hell floss sie, in Terrassen gestuft, wie auf Treppen herab. Es war ein freigelegtes, offenes, sehr geordnetes Fließen, beinahe ein Schrebergarten aus Wasser, aus dem jedoch die Lebendigkeit des Wassers tönte, gluckste, plätscherte und sich mit dem Rauschen der hohen Pappeln verband, die am Ufer standen, ebenfalls in strenger Ordnung. Und ich erinnere mich an den Geruch der Diemel. Dieser Geruch war silbriges Wasser und Pappellaub, ein kühler und doch seltsam tauber Geruch, der einen stumpfen Nachgeschmack hinterließ auf der Zunge. Die Diemel war, mit einem Wort, geheuer. Ein gezähmter, domestizierter Flusslauf. Und die Diemelbecken waren wie kleine Seen, hatten Anfang und Ende, boten eine gewisse Sicherheit... Moment mal, hat der mich gerade spießig genannt?!

Hier, das bin ich wenige Kilometer vorher! Sieht das etwa spießig aus?
Aber na schön, ich muss zugeben, meine wilde Zeit als Oberlauf ist wohl vorbei. Ab einer gewissen Kilometerzahl gelten Stromschnellen einfach nicht mehr als cool, sondern nur noch als kindisch und unreif. (Ist das jetzt meine Mittellauf-Krise?)

Jetzt treffe ich auf meinen zweiten großen Haufen, an dem ganz viele Nicht-Fließende zusammenleben. Er heißt Warburg. An diesem Ufer fühle ich mich nicht so wohl, zumindest in früheren Jahrhunderten. Ich spürte Borniertheit, Verachtung und Hass brodeln und wie Blitze zwischen den Hälften dieses Haufens hin und herzucken.

Zuerst bauten die Menschen ihre Hütten unten im Tal auf und nannten sie Altstadt. Eine davon nannten sie Rathaus. Darin entschieden einige von ihnen über wichtiges Zeug.

Dann kamen andere Menschen und bauten ihre Hütten oben auf den Hügel (seltsam, in Marsberg war es umgekehrt) und nannten sie Neustadt. Aus keinem genauen Grund konnten sie die Altstädter nicht leiden - selbst als sie beschlossen, ihre Städte zu vereinigen. Sie stritten, wo nun die wichtigen Entscheidungen getroffen werden sollten, und wechselten regelmäßig vom Altstädter Rathaus ins Neustädter Rathaus und wieder zurück.

Um ihren Streit zu beenden, mussten sie erst eine neue Hütte bauen, die sie Rathaus zwischen den Städten nannten.

Meine Tochter, die Twiste kommt nun hinzu und berichtet von ganz eigenartigen Menschen, die auf Brettern über sie hinwegfuhren. Es hat sehr gekitzelt.

In Warburg endet die Industriezone. Stattdessen durchfließe ich ein mystisches Märchenland. Die Hügel rücken näher heran.

Hier stehen keine Fabriken im Tal, sondern ältere, steinerne Türme auf den Hügeln. Sie nennen sich Burgen. In diesen Bauten lebten einstmals die mächtigsten der mächtigen Nicht-Fließenden. Sie konnten den anderen sagen, was sie tun sollten. Warum die anderen Menschen stets darauf gehört haben, verstehe ich auch nicht so genau.
Im Schloss in Stammen leben nun die alten Nicht-Fließenden. In den übrigen Burgen sind nur noch neugierige Reisende anzutreffen.

Als ich am Desenberg in die Vergangenheit blicke, bin ich beunruhigt. Ein entsetzlicher, feuerspeiender Drache hauste in diesem Vulkan. Die Hitze seiner Flammenstöße ließ mein Wasser sieden, selbst wenn er hundert Meter über mir dahinflog. Karl der Große versprach dem, der den Drachen tötete, das Land um den Desenberg inklusive der neuen Desenburg darauf (Prinzessin und das halbe Königreich waren inflationsbedingt nicht drin).
Eines Tages trank der Drache mein Wasser, als er plötzlich erschrak, fauchte und mir einen derartigen Flammenstoß entgegenschickte, dass ich eine Woche unter Niedrigwasser litt. Es schmerzte furchtbar, mein halber Wasserspiegel war mit einem Schlag verdunstet. Was war geschehen? Er hatte sich vor seiner Spiegelung erschrocken! Nur wenige wussten damals, das Drachen dümmer sind als Delfine und ihr Spiegelbild nicht erkennen.
Im Traum flüsterte ich dieses Wissen einem Ritter zu, der manchmal zum Baden vorbeikam und den ich ganz nett fand. Er nutzte es, indem er drei Spiegel an sein Schild schraubte. Der Drache glaubte, von drei Artgenossen angegriffen zu werden, zögerte und wurde aufgespießt.
Jahre später beobachtete ich, wie der greise Karl der Große mit einigen Zwergen zum Berg wanderte und sich unter die Erde zurückzog - nicht ohne anzukündigen, er würde irgendwann wieder rauskommen und sein Reich wiederherstellen. Weil die mächtigen Nicht-Fließenden mittlerweile lieber anders entscheiden, wem sie gehorchen, wird der Berg vom Verfassungsschutz beobachtet.

 

Als ich gegen die Seiten des Märchentals stoße, finde ich unter der weichen Erdschicht harten Sandstein. Bald habe ich ihn freigespült. Nun habe ich wieder einmal eigene Klippen!

Etwa zur selben Zeit lebte im Märchental eine Familie von großen Nicht-Fließenden, sogenannten Riesen. Der Riesenvater hieß Kruko und lebte auf der Krukenburg. Er hatte drei Töchter: Brama, Saba und Trendula. Die glaubten damals noch an die heidnischen Götter Odin und Thor.

Als der alte Vater starb, schlossen sich Saba und Brama dieser neumodischen Religion namens Christentum an. Nur Trendula widersetzte sich dem Trend, was einen innerfamiliären Religionskrieg auslöste und Brama dermaßen zum Weinen brachte, dass sie blind wurde. Es war eine entsetzliche Zeit, ich floss so schnell wie möglich vorbei und transportierte stets einige Tränen. (Da es sich um Riesentränen handelte, heißt das: hunderte Liter Salzwasser. Womit ich immer noch nicht so schlimm versalzen war wie später die Werra.) Das Weinen war nicht zu ertragen, schnell ein paar Jahre in die Zukunft springen - oh nein, diese tödliche Stille ist ja noch schlimmer.
Die trotzige Trendula mobbte zuerst Brama und dann Saba aus der Burg. Die Schwestern bauten sich ihre eigenen Burgen, die Bramburg und die Sababurg. Als Saba ihre Schwester auf der Bramburg an der Weser besuchte, wurde Trendula eifersüchtig, weil sie nicht eingeladen war, und tötete Saba, als sie an der Krukenburg vorbeistampfte. Ihren Schrei höre ich quer durch die Jahrhunderte.

Danach fühlte sich Trendula auf der Krukenburg aus irgendeinem Grund unwohl und baute sich einige Kilometer stromaufwärts die Trendelburg. (Es ist so tragisch, dass sich die Schwestern nicht zusammenraufen konnten, obwohl sie so viele Gemeinsamkeiten hatten - eine gewisse Einfallslosigkeit hinsichtlich Burgnamen zum Beispiel. Ich hoffe, dass ich mich mit meinen großen Schwestern, der fröhlichen Fulda, der weinenden Werra, der ruhigen Rhuma und der eingemauerten Eder, nie derart verkrache.) Trendulas Geist war ein sich drehendes Chaos, in dem jeden Tag gehässige Gedanken aufblitzten. Besonders viel von Architektur verstand Trendula nicht, denn das Burgtor scheint mir eher für Zwerge als für Riesen geeignet. Und eine der Mauern ist ganz offensichtlich von Schimmel befallen. 
Auf dieser Burg zog Trendula ihre Kinder groß und wurde eine liebende Mutter, die ihren Kindern schöne warme Schuhe bastelte. Aus Brot. Ja, die Alte war wirklich ziemlich durchgedreht.
 

Schwesternmord war ja noch okay, aber eine solche Respektlosigkeit gegenüber einem Grundnahrungsmittel ging Gott dann doch zu weit. (Die Prioritäten des Herrn sind unergründlich.) Er schickte dem Dorf Trendelburg ein Dauergewitter, bis die Bewohner jemanden auslosten, der als Gottesopfer ins Gewitter laufen sollte. Trendula wurde gezogen und im Wald vom Blitz erschlagen. Bäm! Eine Schockwelle jagte durch das Land, dass sich mir die Wellen sträubten. Durch den Einschlag entstanden zwei dicke Krater im Wald, der Nasse und der Trockene Wolkenbruch (weil der eine mit Wasser gefüllt ist und der andere nicht).

Trendulas Töchter waren auch nicht so sympathisch. Eine von ihnen wurde Zauberin und erwarb ein neugeborenes Kind im Austausch im Austausch gegen das Versprechen, keine Anzeige wegen Diebstahl einiger Pflanzen zu erstatten. Dieses Kind nannte sie Rapunzel und sperrte sie in einen Turm, der nur über die längste Langhaarfrisur der Literaturgeschichte bestiegen werden konnte, weil Aufzüge noch nicht erfunden waren. Die Haare hängen auch Jahrhunderte später aus dem Fenster.

Die Menschen lieben solche grausamen Geschichten, zumindest sofern sie das ganze Zeug nicht selbst miterlebt haben. Sie nennen sie Märchen und malen sie sogar auf Straßenlaternen.

Unter der Trendelburg stand eine hübsche Bogenbrücke, aber die habe ich aus Versehen zerstört. Ich war wohl etwas zu fix unterwegs und da muss ich irgendwie die Fundamente unterspült haben. Dann war die Brücke so instabil, dass die Menschen sie abgerissen haben. Upsi! Aber ich kann ja nichts dafür, wenn sie mich so einengen und hetzen, werde ich natürlich auch schneller.
Ein Künstler hat die Brücke als Modell nachgebaut, wobei ich sehr verkürzt dargestellt werde. Frechheit!
Museum Mühlenplatz Gieselwerder an der Weser

Ich weiß auch, dass durch mein Märchental früher ein Damm mit zwei Stahlstreifen verlief, auf denen die mächtigen Nicht-Fließenden in langen Fahrzeugen Zeug transportierten. Ursprünglich war geplant, die Fahrzeuge von Pferden ziehen zu lassen, doch dann erfand jemand die Dampfmaschine. Sie nannten dieses laut schnaufende Ungeheuer, das mir regelmäßig Ruß ins Wasser pustete, die Carlsbahn. Es war fast, als würde wieder ein Drache an meinem Ufer leben. Nur hatten die Menschen ihn diesmal nicht getötet, sondern gezähmt.

Irgendwann verstummte die Carlsbahn. Als mir Ausdünstungen von schwarzem fließenden Stein entgegenwehen, weiß ich, dass die Menschen sie durch einen ihrer Wege ersetzt haben.

Nur an einer Stelle führte die Bahn langsam den Hügel hinauf, und dort dürfen die Menschen heute nicht einmal zu Fuß auf dem Bahndamm wandern. Es ist still, Tiere verstecken sich in der Tiefe des Waldes und nur ein paar bröckelnde Steinmauern erinnern daran, was für einen Krach die Bahn früher gemacht hat.
Warum fuhr die Bahn überhaupt den Hügel hinauf? Nun, mein Tal macht hier einen scharfen Knick, aber davon ließen sich die Menschen nicht aufhalten.

Sie führten die Bahn ein Stück höher und gruben ihr einen Tunnel. Ich erinnere mich, wie ein Mensch, den sie Landgraf Carl von Hessen nannten, hier herumstolzierte und vor Stolz fast platzte, während  andere für ihn den ersten Eisenbahntunnel in Hessen gruben. Die Bahn wurde sogar nach ihm benannt. Ich denke immer noch, dass er das Ding hauptsächlich hat bauen lassen, um anzugeben.
Seit es im Tunnel ruhig ist, hängen im Winter gern die Fledermäuse darin ab. Deshalb verschließen die Menschen den Carlsbahn-Tunnel das halbe Jahr über. Manchmal können die mächtigen Nicht-Fließenden echt zuvorkommend sein. (Auch wenn meine Schwester, die weinende Werra, mir das nicht so recht glaubt.)

Zum Schluss folgt zum Glück wieder ein Ort, an dem ich mich wohlfühle. Das habe ich zum Teil mir selbst zu verdanken.
Landgraf Carl hat hier eine Stadt gegründet und sie in aller Bescheidenheit Bad Karlshafen genannt. Wie überall konnte ich spüren, wie die Menschen unter allerlei Gebrechen stöhnten und litten. Je älter sie wurden, desto schlimmer wurde es, zumal die Heilkunde damals noch nicht so fortgeschritten war. Kommt mal klar, ihr Leute, ich bin auch nicht mehr die jüngste. Meine Oberfläche ist inzwischen auch ganz furchig, aber jammere ich deswegen so herum?
Ich entdeckte, dass tief unter mir große Mengen an Salzwasser unter der Erde schwappten. Ich wusste, dass die Menschen das Salz brauchen, doch zu viel davon würde mir schaden. Dennoch dachte ich, ich mach mal was Nettes, spülte vorsichtig ein paar Salzkristalle aus der Erde und fertigte daraus einen magischen Salz-Haarreif. Dann schlich ich unsichtbar durch die Stadt und berührte sie mit dem Ding. Ich musste erst die richtige Dosis finden (zu viel Salz bringt die Menschen blöderweise um), aber nach einigen wenigen Kollateralschäden hatte ich den Dreh raus und spürte, wie das kollektive Stöhnen und Ächzen langsam nachließ. Und ich hörte, wie sie tuschelten und Geschichten erzählten über die unsichtbare, wohltätige Salzfee.
Bis ich das Ding verlor.
Ja, das war echt doof, aber ich konnte den Reif einfach nicht mehr finden. Wo hatte ich das verdammte Teil nur hingelegt? Werde ich etwa senil? Nein, ich bin doch noch völlig klar im Geist. Oder? Ich suchte und suchte, und das Stöhnen wurde immer lauter und unerträglicher. Ich hatte mich doch schon an die Ruhe gewöhnt!

25 Jahre danach fand mich ein Nicht-Fließender klagend am Grunde eines Lochs, in Gestalt der Salzfee. Sein Name war Jaques Galland. Er war tatsächlich recht galant. Er nannte sich Hugenotte und kam aus einem Gebiet namens Frankreich, demselben Ort, von dem auch Karl der Große stammte. Aber Jaques war quasi das Gegenteil von Karl dem Großen: Er hatte seine Heimat selbst verlassen müssen, weil er an den falschen Gott glaubte. (Landgraf Carl wollte mit seiner neuen Stadt Karlshafen extra Hugenotten anlocken. Ihm war es nicht so wichtig, an welchen Gott jemand glaubte, solange er Geld einbrachte.) Der Apotheker Jaques wurde der beste nicht-fließende Freund, den ich je hatte. Und das nicht nur, weil er bei einer zweiten Suchaktion den Reif in einer Felsspalte fand.
Dabei entdeckten wir eine Öffnung im Fels, aus der das unterirdische Salzwasser sprudelte. Mithilfe dieser wertvollen Information machte er 1730 aus Bad Karlshafen eine Kurstadt. Seitdem spüre ich die wohligen, erleichterten Seufzer all der alten Menschen, die Heilung durch das warme Salzwasser suchen, das inzwischen direkt aus dem Boden in die weißen Hütten läuft. Hinzu kommt das Lachen der Kinder, die direkt neben mir an einem Spielplatz spielen.
In dieser angenehmen Atmosphäre treffe ich auf meine restliche Familie, die sich zur Weser verbunden hat. Gemeinsam legen wir den Rest der langen Reise zum Meer vereinigt als ein Bewusstsein zurück. Wie gesagt: Kein Nicht-Fließender wird jemals verstehen können, wie es ist, auf diese Weise zu existieren.