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23 Juli 2025

Lahn: Von Feudingen nach Biedenkopf

Die Lahn ist zwar ein ganz zentraler Fluss von Hessen, beginnt aber in NRW. Das Rothaargebirge bildet hier einen langgezogenen Bergrücken mit einer welligen Straße obendrauf, wo überall Wasser rauskommt. Quellhorizont nennt sich so was, wie ich auf dieser Tour gelernt habe. Gut zu wissen, schließlich ist das nicht mein erster Quellhorizont. Aber definitiv einer der quelligsten.

Die Lahnquelle ist ein stiller Teich. Auf Fotos wimmelt er von Entengrütze, aber als ich vor Ort war, dümpelte er bräunlich und annähernd durchsichtig vor sich hin.

Im Gasthaus Lahnhof kann man direkt mit Blick auf dieses gemütliche, aber nicht gerade superspannende Naturschauspiel speisen.
Am Spielplatz beginnt ein Märchenweg, der aber keine kompletten Geschichten erzählt, sondern eher schön illustrierte random Märchenfunfacts. Zum Beispiel, dass engagierte Kobolde solche Trittsteine über die Furten gelegt haben. Die junge Lahn plätschert sanft durch ein paar dieser Steine hindurch...

...und verschwindet auf einer zugewachsenen Weide, auf der anscheinend nicht sonderlich hungrige Nutztiere leben.

Weitere Quellen auf dem Quellhorizont:

  • Die Ilm. Pardon, liebes Holzschild, ich meine natürlich Jlm! Eine kleine Erdpfütze direkt neben der Straße, die gleich wieder unsichtbar im Gestrüpp verschwindet und schon nach 2,8 Kilometern in der Lahn lahndet.
  • Dicht hinter ihr folgt an derselben Straße die Siegquelle.
  • Und dann hinter der Wasserscheide zur Weser die Ederquelle.
  • Die Ilse ist bekannt für ihre idyllische Schlucht und war im Mittelalter eine der bekanntesten Heilquellen Europas. Die laut dem Märchenweg von einem rothaarigen Kobold entdeckt wurde. (Quelle: Vertrau mir einfach.) Eine radelbare Straße passiert das Ilsetal, aber nicht bis zur Quelle, die ist ziemlich abseits im Wald.



Der Lahnhof ist keine richtige Ortschaft, sondern wirklich nur ein einsames Gehöft. Entsprechend liegt der öffentliche Nahverkehr nach da oben bei Null. Lahnradler müssen entweder 15 Kilometer von Erndtebrück (aber nicht entlang der Eder) oder 11 Kilometer von Feudingen durch die Ilseschlucht hochfahren.

Und dann 8,5 Kilometer an der Lahn wieder runter. Diese 8,5 Kilometer sind schöner und naturnäher als die Quelle selbst. Erstmal macht der Kiesweg einen steilen Bogen ohne die Lahn, aber das macht nichts, es gibt ja einen anderen Wasserlauf direkt auf dem Weg! Jedenfalls, wenn es kürzlich geregnet hat.

Zügig geht es Dorfstraßen und Kieswege runter. Die Lahn ist schon ziemlich breit, und die ersten Dörfer tauchen auf. Sie sind sehr, sehr weiß, so als hätte der letzte Regenguss alle Farben abgespült.
Architektonisch und landschaftlich nichts Besonderes, aber es fährt sich auf jeden Fall sehr angenehm durch einen warmen, frisch durchgespülten Sommerwald.

Puh, bei Feudingen nimmt der Lahnradweg dann ein paar Hügel mit. Aber richtig schöne! Hier hatte ich das beste Panorama der kurzen Etappe, viel besser als oben auf dem Quellhorizont.

Unten im Tal liegt der Bahnhof Feudingen. Hier wird das monotone Weiß der Häuser zumindest mit ein bisschen Schiefer und Balken aufgelockert.
Das Jäjersch Backhaus (vorne links) von 1885 hat sogar beides. Solche Dinger habe ich am Iron Curtain Trail öfter gesehen, aber dieses hier ist besonders, weil da drin immer noch gebacken wird. Der Eigentümer hat es an die Stadt verpachtet, und die vergibt gegen ein Entgelt Backtermine und eine genaue Anleitung, wie man das nutzt und reinigt. Die Temperatur misst man nicht mit irgendwelchen neumodischen Knöpfen, sondern ganz klassisch, indem man Kornähren reinhält. Je mehr Körner verkokeln, desto heißer. ("Auf 20 Körner vorheizen und bei 20-25 Körnern und Umluft 30 Minuten backen." Oder so ähnlich.)

Nachdem ich die schlimmsten Hügel überwunden hatte, glitt ich eine Weile auf den Blättern des Seitenwalds abwärts.

Kurz darauf folgt eine etwas größere Stadt. Was man daran erkennt, dass der Verkehr stark zunimmt und noch mehr Fachwerk das endlose Fassadenweiß durchbricht. In Bad Laasphe (der Name bedeutet Lachswasser) kann man an den historischen Gebäuden angeblich die ovale Form der alten Stadtmauer erkennen. Aber mir kam die Stadt eher vor wie eine langgestreckte Linie an einer lauten Hauptstraße.

Bis hier gehörte die Lahn den Forellen, denn die mögen es dort, wo das Wasser am klarsten, kältesten und sauerstoffreichsten ist. Nun, wo es langsam trüber und wärmer wird, beginnt das Reich der Äschen. Die Fische haben so unterschiedliche Ansprüche, dass sie nicht ins Territorium ihrer Nachbarn einfallen und die Grenzen automatisch respektiert werden. Eine Lösung für menschliche Kriege? Wohl eher nicht, denn dummerweise sind wir von ein und derselben Art.

Das Tal wird immer breiter, das Rothaargebirge verschwindet im weißen Dunst. Bei Bad Laasphe verlaufen zwei Themenpfade: Ein Bierwegelchen über die Brauereikunst (das ich aber nicht gefunden habe) und ein maßstabsgetreuer Planetenweg. So weit nichts Ungewöhnliches, aber ein bisschen ungewöhnlich ist, dass die Straßen und Feldwege auch alle Sonne und Pluto heißen. Nicht mal Plutoweg oder so, nein, einfach nur Pluto.

Obwohl das Gebirge verschwindet, wird die Lahn immer wilder. Über ein paar kräftigen Stromschnellen erhebt sich das Landgrafenschloss Biedenkopf. Alles bisher war Vorspiel, nun beginnt das an, was den Lahnradweg wirklich ausmacht: Schlösser, Altstädte und, in meinem Fall, das Ausprobieren etwas anderer Fahrräder.

22 Juli 2025

Ahr: Von Blankenheim nach Kripp

Meine Damen und Herren und alle anderen, ich begrüße Sie zum Vorabend der Tour de Ahrtal 2025! Wer wird dieses Jahr das Rennen machen? Die Veranstalter haben es dieses Jahr besonders schwer gemacht, denn die erste Herausforderung besteht gleich in der Anreise. Die Bahn zum Bahnhof Blankenheim (Wald) fährt wegen Bauarbeiten nicht, unten im Tal ist die Bahn zerstört, und am Sonntag fährt kein Bus, nicht einmal morgens vor Veranstaltungsbeginn. Wie es aussieht, werden die meisten einfach unten starten, aaber da sind auch ein paar besonders clevere Teilnehmer, die schon den Radbus für den Vorabend gebucht haben. Der frühe Vogel und sein elektrischer Begleiter fahren bis hoch zum Schwanenweiher von Blankenheim, genau so wie das Ehepaar Florian und Fiona Frühbucher. Damit ist der große Fahrradanhänger noch lange nicht voll, da wäre noch Platz, nur: Wo sollen all die Leute übernachten?


Und hier sehen wir auch schon unseren Ehrengast an der Tour der Ahrtal: Die Ahr. Sie hat sich ein Zimmer in einem vergitterten Keller eines Fachwerkhauses gebucht und ausgeruht, und da startet sie auch schon ins Rennen. Ihr Name kommt übrigens vom Wort aha - das heißt, kurz und bündig, Wasser. Aha. Völlig zu Recht haben die Bewohner erkannt, wie viele Flachwitze sich mit diesem Namen machen lassen, und darum lesen wir auf den Schildern von hAHRmonie, der AHRche und ähnlichen wunderbAHRen Wortspielen.

In den sonnigen Gassen beginnt sie mit ersten Aufwärmübungen, sogar im Kneippbecken. Die Bewegungen wirken hier noch ein bisschen eckig und unnatürlich, aber das wird schon. Was für eine schöne Stadt, hier und da auch noch mit Wandmalereien und vielen Kletterrosen, und dann auch noch mit Burgruine obendrüber. Da werden die anderen Ahrstädte große Mühe haben, mitzuhalten. Übrigens gibt es auch einen 150 Meter langen Tiergartentunnel, der die Burg extra mit Quellwasser versorgt.
Und auch unsere ersten Teilnehmer gucken sich verirrt um, haben sich wahrscheinlich gefragt, ob man hier überhaupt was zu essen kriegt, und jetzt haben sie die Wahl zwischen vielen Restaurants, ach nein, ich höre sogar, bei manchen sind die Tische ausgebucht.

Florian und Fiona Frühbucher haben sich anscheinend schon in ihre Pension zurückgezogen. Aber was machen der frühe Vogel und sein elektrischer Begleiter? Ooh, sie zögern noch, wirken etwas unschlüssig: Unterkünfte? Sind ihnen wohl zu teuer und zu weit weg. Wild zelten? Nein, alles Naturschutzgebiet und in NRW sowieso nicht erlaubt. Ah, jetzt wurde anscheinend eine Entscheidung getroffen und sie radeln los auf den Ahrtal-Radweg - die Bundesstraße ist ja erst morgen gesperrt. Das heißt natürlich auch, sie verpassen schonmal den ersten Stempel, die Fitnessstation Pumptrack an der Weiherhalle, in Blankenheim.
Und hier sehen wir den leeren Radweg, wie er anfangs noch in einer historischen Unterführung unter der Trasse der Ahrtalbahn durchgeht, bevor er auf die Bahntrasse wechselt. Der Weg ist sehr versteckt und dicht bewachsen, da können wir von der Straße aus gar nicht alles so genau erkennen. Wo sind sie denn jetzt?

Ach so, verstehe, sie sind auf die Straße den Berg hinauf zum Eifel-Camp abgebogen. Was für ein Campingplatz, meine Damen und Herren, gleich gegenüber ist der Freilinger See, ein wunderbarer Stausee, und ja, sie schwimmen trotz der Anstrengung noch eine Runde nach drüben, aber hoppla, da scheint es schnell tiefer zu werden im Wasser, Vorsicht.
Und wir sehen auch, dass auf diesem Campingplatz noch ungewöhnlich viele Zelte stehen, stellenweise mehr als Wohnmobile, das sieht man auch selten heutzutage. Aber was ist das? Ooh, das ist böse, eins der Fahrräder scheint massive Schwierigkeiten zu machen. Sie telefonieren, aber nein, auch keiner der Fahrradwerkstatt-Stände morgen an der Strecke wird diesen Schaden beheben können, dafür ist kein Ersatzteil da. Einer der beiden muss aus dem Rennen aussteigen und lässt sich abholen, schade, einfach nur schade.

Wir schalten am nächsten Morgen zu und der frühe Vogel ist diesmal nicht ganz so früh unterwegs. Florian und Fiona Frühbucher sind schon lange losgezischt, es ist 10:45, der Radlersegen in Blankenheim wurde schon abgesegnet und die Tour de Ahrtal läuft bereits seit 45 Minuten. Da erst stößt der frühe Vogel zur Route. Und ich muss sagen, diese Straße sieht noch ziemlich leer aus. Starten wegen der schwierigen Anreise etwa alle unten und haben es noch nicht so weit nach oben geschafft? Nein, da kommt auch schon Familie Flottheimer angeradelt, gleich zwei Kinder auf Kinderfahrrädern haben sie dabei, dafür sind sie aber wirklich schnell unterwegs. Der frühe Vogel überholt sie, aber da hält er kurz an für ein Foto, und gleich haben sie ihn wieder überholt.
Und hier sehen wir auch wieder die Ahr, schlammbraun und gut gefüllt schießt sie abwärts, die wird heute wohl kaum ein Radfahrer überholen können.
Und dann erreichen wir auch schon die zweite Station, das sieht doch schon viel voller aus, sehr schön. Die Station von Oberahreck ist noch eher einfach gehalten, ein Haufen weißer Zelte vor einem der vielen alten Eisenbahnviadukte im Ahrtal. Der frühe Vogel scheint noch nicht so richtig hungrig zu sein, er bedient sich nur aus dem Gratisangebot: Ein Müsliriegel mit Tour-de-Ahrtal-Logo, wow, die geben sich Mühe beim Branding, obwohl, nein, die Pappe wurde einfach nur über die normale Corny-Verpackung geschoben. Aber auf den Apfel haben sie wirklich irgendwie ihr Logo draufgedruckt, wow, wie haben die das nur hingekriegt?
Wird er auch an den Stempel denken? Ja, er holt sich eine Stempelkarte und den ersten Stempel, dann hat er noch eine Chance zu gewinnen.

In Ahrhütte biegt er für den nächsten Stempel ab, denn im Hof hinter der Schmetterlingshalle gibt es Live-Blasmusik und Fleisch namens... Gschnittenes oder Gschnetztes oder irgendwie so ähnlich, ich kann das Schild gerade nicht so gut erkennen. Er geht an den Stand, erwartet wahrscheinlich eine Art Pulled Pork auf Regionaldeutsch, oh, bekommt aber stattdessen eine Art Steak im Brötchen mit Zwiebeln serviert, da sieht er etwas überrascht aus, scheint aber auch zu schmecken.

Oh, oh, oh, die nächste Stempelstation bei Zweirad Hansen übersieht er einfach, oder er ist eingeschnappt, weil sie kein Ersatzteil haben, auf jeden Fall hat er damit schon zum zweiten Mal einen Stempel verpasst.
Der Autoverkehr ist heute ausgesperrt, nur an diesem Kreisverkehr kreuzt er die Tour de Ahrtal. Gerade haben die Autos Vorfahrt, wie die Ampel anzeigt. Wird er sie beachten oder den Kreisverkehr normal benutzen? Nein, er hält an. Ampel gilt auch für Radfahrer haben sie ja sogar extra rangeschrieben.

Außerdem ist hier noch der Abzweig vom Kalkeifel-Radweg nach zum Bahnhof Ahütte (nicht mit Ahrhütte verwechseln, das gibt es auch, welcher *Pieeep* hat sich diese Ortsnamen ausgedacht) wo ein Künstler aus alten Signalen Kunst gemacht hat. Wird er den Umweg auf sich nehmen? Nein, eiskalt fährt er dran vorbei und spart Zeit, dafür geht ihm aber Stempel Nr. 6 flöten. Ob das eine gute Entscheidung war? Wir werden sehen.

Und damit wechseln wir von NRW nach Rheinland-Pflanz, wo der Großteil der Ahr fließt.
In Müsch teilt sich die Strecke, oh, und er übersieht die Wegweisung, folgt der Masse und biegt ein ins Ortszentrum. Eigentlich könnte er auch außenrum auf der Bundesstraße fahren, im Ortszentrum wird es richtig voll, alles voller Zelte, und auch das Blasorchester hier hat jede Menge Saxophone und spielt ein bisschen frischer und peppiger. Das wird ihn ordentlich Zeit kosten, hier durchzuschieben. Aber ihn scheint das nicht zu stören, denn die Bratkartoffeln sehen wirklich lecker aus. Und an der Bundesstraße kauft er sich auch noch ein Brötchen mit dem Räucherlachs aus Müsch, ist der Magen etwa immer noch nicht voll... ach so, nein, er nimmt es mit als Proviant - ich glaub ja nicht, dass das nötig ist bei der guten Versorgungslage.

Für Nachtisch ist natürlich immer noch Platz, und den gibt es drei Kilometer weiter in Antweiler. Eigentlich haben alle Stationen irgendeinen Kuchen, aber Antweiler hat die längste Kuchentheke des Ahrtals, meine Damen und Herren, da muss man einfach zu greifen, vor allem bei der Zitronentorte. Draußen ist alles komplett voller Bänke und Menschen, aber wir sehen, einige haben sich auch an die Tische nach drinnen verzogen, da gibt es ein bisschen mehr Kühle und Ruhe, und das muss schließlich auch mal sein. Außerdem ist die Kuchentheke viel näher dran.

Weiter geht es auf einen längeren Streckenabschnitt, und hier noch einmal der Blick auf die Landschaft der Kalkeifel. Es ist eine eher sanfte Landschaft, aber so langsam schaut doch der Kalk, oder jedenfalls irgendein Gestein, aus den Seiten raus, das sind wirklich ein paar schöne Hänge. Ah, und ich sehe gerade, die Ahr hat inzwischen einen Trikottausch gemacht und trägt jetzt grau statt braun.

Aber auch wenn bisher alles noch ganz friedlich und intakt aussah, so langsam zeigen sich auch die ersten Spuren der Tragödie von 2021: An diesen Hängen über dem Fluss sind anscheinend große Stücke Wald einfach weggerutscht. Je tiefer wir kommen, umso schwerer waren anscheinend die Folgen der Flut.

Und wer ist schuld? Fragen wir nach im nächsten Dorf, das rein zufällig Schuld heißt. Aber Schuld scheint sich noch mit einer älteren Schuldfrage zu beschäftigen, zumindest deutet das Kriegsdenkmal darauf hin.
Hier hat ein E-Bike-Hersteller Fahrräder zum Ausprobieren aufgestellt und dazu eine Fahrradwaschanlage. Aber die sollten Sie sich lieber nicht wie eine Autowaschstraße vorstellen - das Rad wird einfach nur auf Rollen raufgefahren und dann per Hand von verschiedenen Schläuchen abgespritzt.

Nun biegen die Ahrradler ein in den ersten Tunnel. Sind Sie schon mal mit dem Rad durch einen Straßentunnel gefahren? Heute gibt es die Gelegenheit, genau das gefahrlos zu tun.
Und noch immer kommen uns auch Radfahrer entgegen: Hier fahren Bernd und Beate Bergauf tapfer stromaufwärts. Wollen die es wirklich noch bis nach Blankenheim hoch, und dann zurück? Das wird eng.
Insgesamt muss ich aber leider sagen, diese große Vielfalt und Bandbreite an verrückten Zweirädern, die wir auf der ähnlichen Veranstaltung Siegtal pur gesehen haben, die ist hier leider so nicht gegeben. Nur Lennard Liegerad zischt ab und zu vorbei.

Der frühe Vogel ist unterdessen weitergefahren: In Insul kauft er gerade vor dem Gasthaus Eis mit der Geschmacksrichtung... Rose? Das hab ich auch noch nicht gegessen, aber es scheint zu schmecken.
"Und was wollen Sie?"
Wie ich höre, ist der ehrenamtliche Eisverkäufer etwa 10 Jahre alt und engagiert bei der Sache, aber seine Begrüßung braucht eventuell noch ein wenig Feinabstimmung.

Damit wären wir auch schon in Dümpelfeld, meine Damen und Herren, und ich weiß, das klingt so ähnlich wie Dümpelbach aus der Serie Mord mit Aussicht, aber ich denke, dieses Wochenende hat bewiesen, dass die Serie nur bei dem Ortsnamen korrekt ist, ansonsten aber total übertrieben hat - die Eifel ist bei Weitem nicht so ausgestorben wie dargestellt! Es sei denn, das Ahrtal ist der beliebteste Hotspot im ganzen Gebirge. (Nein, das war kein Wortwitz, der sich auf den Vulkanismus bezieht. Zumindest nicht, bevor es mir aufgefallen ist.)
Der frühe Vogel geht an die Fotobox und knipst ein Beweisfoto. Ja, das Ding sieht ein bisschen aus wie diese Automaten auf Hochzeiten, nur ohne bescheuerte Verkleidungsmöglichkeiten. Was nicht heißt, dass man darauf wirklich vorteilhafter aussieht. Aber was ist das? Ach so, das Foto wird gar nicht ausgedruckt, man scannt einen QR-Code, unter dem man es dann runterlädt.
Außerdem ist diese Kreuzung der Punkt, an dem die Bundesstraße nicht mehr gesperrt ist. Knapp 38 Kilometer hatten die Radfahrer nur für sich - da hat das Siegtal pur mehr als doppelt so viel.

Also müssen jetzt alle abbiegen auf den Ahr-Radweg, und dort dürfen sie erst einmal sehen, mit welchen Geräten den Flutfolgen zu Leibe gerückt wird, zum Beispiel diesem Steinschredder-Bagger.

Langsam schneidet das Tal immer tiefer in die Landschaft ein, die Felswände werden höher. Das ist doch auf jeden Fall ein Radweg, auf den man gerne abbiegt.

In Liers gibt es jetzt noch so einen Parcour-Wettbewerb am Ahrtal Warrior for kids geben, das ist bestimmt lustig zuzusehen... aber nein, scheint alles schon vorbei zu sein, jetzt ist nur noch ein normaler Spielplatz und ein mobiles Auto voller Spielgeräte übrig, naja, den Kindern scheint es zu reichen.

Und dann sind wir auch schon kurz vorm Ziel, nach 44 Kilometern steuert er nach Ahrbrück rein und - geschafft! Im letzten Zelt bietet der ADFC an, sein Fahrrad mit einer Art überdimensionalem Stempel als Diebstahlschutz codieren zu lassen. Neugierig nähert er sich dem Zelt, aaber leider muss man Personalausweis und Kaufbeleg vorlegen, dann wird das heute nichts.
Er holt die Stempelkarte aus der Hosentasche, zeigt sie vor, der Mann im Zelt namens Stefan Stempelmeister beugt sich vor, drückt den Stempel aufs Stempelkissen, aufs Papier und - jaa, er hat es geschafft, der letzte Stempel! Aber wie viele fehlen ihm jetzt eigentlich? Insgesamt 4 von 15 hat er nicht bekommen, wenn man den von der Radreisemesse 2025 in Bonn mitzählt. Ob das ausreichen wird? Oh, ich erfahre gerade, eigentlich reichen mindestens vier Stempel aus. Och, na dann ist es ja einfach. Und welchen Preis gibt es zu gewinnen? Da stand doch vorhin irgendwas von Hubschrauberrundflug an einem der Stempelzelte. Aaah, nein, ich höre, das war eine Spezialverlosung nur in diesem Dorf, da hätte man die Karte dort einwerfen und um 16 Uhr bei der Ziehung dabeisein müssen, schaade, aber dann hätte das vom Zeitplan auch überhaupt nicht hingehauen. Bei der allgemeinen Verlosung gibt es bloß Gastronomiegutscheine. Er wirkt etwas enttäuscht, wirft seinen Zettel aber trotzdem rein.

Es ist noch nicht 17 Uhr, aber die Tour der Ahrtal ist zu Ende. Auch der Radweg ist jetzt erst einmal zerstört. Also steigen nun bitte alle in den Shuttlebus von Ahrbrück nach Ahrweiler, der Sie zum Bahnhof... hallo? Hallo, was machen Sie da? Und Sie auch? Stopp, Sie können doch nicht einfach auf der Bundesstraße weiterfahren, das ist gefährlich... oh, ich sehe, da hängt ja sogar ein einzelner Wegweiser für die Ersatzroute Ahr-Radweg, hm, ja, dann hätten wir den da vielleicht nicht hinhängen sollen.
Mutig, mutig, auch Florian und Fiona Frühbucher fahren auf der Straße weiter, und der frühe Vogel hinterher, dort biegen sie... Moment? Wo sind sie denn jetzt? Auf einmal sind die Straßenradler alle verschwunden, und der frühe Vogel fährt ganz allein durch zwei weitere Straßentunnel. Erst beim Weinfest zwei Orte weiter (an diesem Wochenende scheinen sämtliche Veranstaltungen des Ahrtals gleichzeitig stattzufinden) tauchen Fiona, Florian und die anderen Radler wieder auf. Damit sind sie leider disqualifiziert, Teleportation im Straßenverkehr ist ebensowenig erlaubt wie Alkoholkonsum.
Die Ahr legt sich nun richtig ins Zeug und schneidet hundert Meter tiefer in Schiefer und Sandstein rein. Und dieser Schiefer hat eine besondere Eigenschaft: Er speichert Wärme, was die Menschen früh herausgefunden haben. Als die obere Ahr noch praktisch unbesiedelt war, wurde unten schon fleißig Wein angebaut. Dieses Tal ist das größte zusammenhängende Weinbaugebiet Deutschlands - egal, wie viele Felszacken die Weinberge durchbrechen, über irgendeine Ecke sind sie alle miteinander verbunden, damit das mit dem Rekord hinhaut. Und dazu: Burgruine um Burgruine. Wow, meine Damen und Herren, was für ein Anblick! Auch der frühe Vogel legt staunend den Kopf in den Nacken, er hat sicher nicht damit gerechnet, dass an diesem kleinen Nebenfluss plötzlich ein paar Kilometer spektakulärer sind als der Mittelrhein oder die Mosel.

Aber um das ganze Panorama völlig bizarr zu machen, klafft mitten in diesem Tal immer wieder eine Art braune Mondlandschaft mit Baggern drin. Manche Häuser stehen nur noch halb herum, und auch einer der Weinberge ist braun und tot. Das ist der Teil, in dem die Flut am stärksten gewütet haben muss. Viele Brücken sind noch Baustellen, darunter auch für die Ahrtalbahn und den Ahrtal-Bahnradweg. Und selbst die geöffneten Brücken haben oft provisorische Geländer, weil das originale zerstört wurde.

Und ich sehe, auch auf den Transparenten ist die Flut immer wieder Thema:

KEINE BIOGASANLAGE IM ÜBERSCHWEMMUNGSGEBIET!
Ruine für die Ewigkeit [vor einem völlig zerstörten Haus]
Die Johanniter helfen beim Wiederaufbau. Haben Sie schon Unterstützung beantragt?
2016, 2021, 2026? Wo bleibt der Hochwasserschutz im Ahrtal?

Ja, schwere Hochwasser gab es hier schon immer: 1601, 1804, 1910, 2016 und 2021... leider ist klar zu erkennen, dass die Abstände immer kürzer werden. Am 14.7.2021 war der Boden nach wochenlangem normalen Regen schon völlig gesättigt, als in der Nacht das Tiefdruckgebiet Bernd ankam und nochmal zwölf Stunden lang Starkregen abließ. Alle Rückhaltebecken flossen über. Die Menschen rechneten mit einem normalen Hochwasser und stapelten 500 Sandsäcke auf. Mancherorts konnte noch etwas evakuiert werden, anderswo fuhr die Feuerwehr durch und warnte bloß, der Strom werde abgestellt - obwohl zur selben Zeit stromaufwärts schon Menschen ertranken.
Die Ahr und die Nebenbäche wuchsen um 5 bis 10 Meter in die Höhe. Im Grunde ist diese Formulierung Unsinn: Das Wasser war ja fast nur Regenwasser, und an die Ufer der Ahr hat es sich auch nicht gehalten, also hat das Ganze doch eigentlich gar nichts mit der Ahr zu tun und niemand kann dem kleinen Flüsschen die Schuld geben.
Was lese ich da neben dem hoffnungslos zerquetschten roten Auto?
DAS MUSST DU GESEHEN HABEN: DEUTSCHLANDS EMOTIONALSTE AUSSTELLUNG
Das klingt etwas reißerisch, aber wenn es die Bewohner selbst so schreiben, ist es vermutlich okay. Anscheinend hat jemand ein Ruinenhaus zum Flutmuseum umdekoriert, vollgestopft mit Gegenständen, Fotos, einem Gemälde des lachenden Laschet und insbesondere mit Bildschirmen, auf denen die Menschen erzählen, wie sie 50 Stunden auf einer Insel aus Baumstämmen auf einen Helikopter warteten, oder wie sie auf einem Stück ihres Dachbodens (dem letzten "intakten" Teil ihres Hauses) herumtrieben, gegen das Nachbarhaus stießen und dort durch die Fenster einbrachen. Vielen Häusern wurde zusätzlich das alte Heizöl im Keller zum Verhängnis. Es starben 135 Menschen, nicht nur wegen der Klimakrise, sondern auch, weil Institutionen versagt haben. Menschen mitten in Deutschland, die ebenso gut du und ich hätten sein können. Diese Tatsache will das Gehirn am liebsten ausblenden und so tun, als sei das alles zwar schon schlimm, aber auch irgendwie ganz weit weg in einem Dritte-Welt-Land passiert.

Man mag es sich nicht vorstellen, wie in diesen Tagen, als das Ahrtal von der Außenwelt komplett abgeschnitten war, ohne Helikopter und Rettungsfahrzeuge, die Menschen praktisch auf sich allein gestellt waren, keine staatliche Ordnung mehr herrschte und jeder sich selbst der nächste war im gnadenlosen Kampf ums Überl... ach, einen Moment, so war das gar nicht? Alle haben sich gegenseitig geholfen, Krisenstäbe gewählt und selbst organisiert? Und bei alledem noch nicht mal ihren Sinn für Wortwitze vergessen (SolidAHRität, DankbAHRkeit)? Unfassbar. Man könnte fast meinen, wir seien eigentlich gute Lebewesen und alles, was uns über den gewalttätigen, bösen Urzustand des Menschen erzählt wurde, sei eine Lüge, damit wir jede Maßnahme gegen Kriminalität bereitwillig akzeptieren.

Schließlich öffnet sich das Tal und die Weinberge haben keine Felsen mehr drin, sondern sind nur noch Wein pur, wie im Rheingau. Der frühe Vogel fährt durch die Doppelstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, wobei die Altstadt von Ahrweiler der mit Ahrbstand schönste Teil ist. Aber auch der vollste. Menschen in bunten Trachten und Uniformen schieben sich durch die Gassen, und am Stadttor warten die Menschen auf eine Art von Festumzug. Wie sollen die Ahrradler nun durch das Stadttor kommen? Ah, kein Problem, er hat einen kleineren Tordurchgang gefunden.
Und immer wieder sehen wir jetzt auch Menschen in auffälligen Trikots oder bunten Klamotten. Da ist Reinhard Renner, der den AHRaton läuft. Wilhelmine Weininger dagegen nimmt an einer Weinwanderung teil, das verrät uns schon ein um den Hals hängendes Weinglas.

Auch wenn das Tal hier nicht so eng ist, hat die Flut offensichtlich gewütet, aber die Aufbauten scheinen schneller voranzugehen als gedacht. Eine neue Stahlbrücke nach der anderen hat das THW hier hochgezogen, Wahnsinn. Alle haben das Stadtwappen drin, und eine soll sogar von einem Pflanzentunnel überwachsen werden. Ob dieses alte Casino von der Flut geschädigt wurde oder schon vorher, das bleibt ein Rätsel, und genauso, ob es überhaupt ein Casino ist.
Was macht er jetzt? Ach so, er watet hinein für ein kaltes Fußbad mitten in der Stadt, eine gute Idee, die meisten anderen Radler haben inzwischen ja sowieso aufgegeben. Wahnsinn, wie klar das Wasser ist - nanu, was hat er da gefunden? Einen Scheibenwischer? Und eine FFP2-Maske? Die Flut hat die seltsamsten Relikte angespült.
Doch da kommen zwei weitere AHRaton-Läufer auf ihn zu, die... im Wasser laufen? Ja, Willi und Veronika Watema legen am liebsten einen Teil des Rennens mit flüssiger Fußkühlung zurück, auch wenn das natürlich Tempo kostet, müssen sie selber wissen. Sie quatschen ein bisschen, aber nein, nein, er sollte lieber auf Pisso, den Hund der beiden, achten, der will nämlich gerade sein Revier auf dem Kleiderhaufen der Radfahrer am Ufer markieren, ufff, gerade noch rechtzeitig hat er es gesehen, angesprochen und sie pfeifen ihn zurück, na immerhin gehorsam ist er.

Jetzt muss er nicht mehr auf der Bundesstraße fahren. Die Radwege durch die schönen Alleen am geraden Ahrufer sind oft noch zerstört, aber auch die Ersatzroute geht nur über Nebenstraßen und Feldwege, alles nicht mehr so spektakulär.

Aber dann sind wir auch schon am Schluss, wohin will er denn jetzt? Bevor es zum Bahnhof Sinzig geht, muss er jetzt noch zur Mündung nach Kripp, wenn schon, denn schon. Wenigstens in Kripp haben sie viel aus der Flut gelernt und so eine Hochwassermauer installiert. Wie funktioniert die? Ich sehe gar keine Metallplatten, die von oben in die Maueröffnungen runterfallen? Nein, stattdessen werden die Metalltüren von außen zugeklappt. Das dauert natürlich etwas länger, also hoffen wir, dass beim nächsten Mal rechtzeitig gewarnt wird.

Die Ahr hat inzwischen schon mehrmals den Trikottausch zwischen Braun, Grau und Durchsichtig gemacht, kommt auch immer etwas drauf an, wie nah man herangeht. Sie schießt auf ihr Ziel zu, schlängelt sich noch ein bisschen durch den Kies, will sie es etwa spannend machen, vorbei an den letzten Bäumen und dann - jaa, Ziel erreicht, sie hat den Rhein getroffen. Und auch der frühe Vogel kommt an der Mündung an, etwas verwirrt, vielleicht weil hier vor wenigen Jahren noch eine stabile Holzbrücke stand, die nicht so aussah, als hätte sie nur noch zwei Jahre zu leben.
2019
2025








 

Ob er nun wirklich einen Gastronomiegutschein gewinnen wird, das können wir an dieser Stelle auch noch nicht sagen, auf jeden Fall hat er die gesamte Ahr abgefahren. Herzlichen Glückwunsch, darf ich Sie um einen kurzen Kommentar bitten?

"Das Ahrtal hat mich zutiefst beeindruckt und ich glaube, es ist ein Fenster in unsere Zukunft. Was hier passiert ist, im Guten wie im Schlechten, erwartet uns alle. Ich habe Hoffnung für die Menschen - aber zuerst muss es anscheinend noch einmal gewaltig knallen."

Oh, ähm, das war jetzt... unerwartet düster, aber, äh, vielen Dank.

03 November 2022

Ems: Von Westbevern nach Salzbergen

Ems-Tag III

Die fremde Stadt des Fahrrads - Der Egal-Kanal - Angebaggert von einem Huhn  - Ein ungewöhnlich großzügiges Museum, sofern man das überhaupt als Museum bezeichnen kann - Was Sandlandschaften verschönert und was sie vorübergehend verhässlicht - Die Stadt der Handwerker - Fahrradfreunde und Fahrradfeinde - Der falsche Name - 1S - Massive Überinterpretation eines Weihnachtslieds - Noch mehr Megamühlen - Nebeluntergang

Ich war ganz besonders neugierig auf die Stadt Münster, denn das gilt ja quasi als das andere Göttingen, eine junge Fahrrad- und Studentenstadt, nur teurer. Da ich mich dort nur eine Stunde aufgehalten habe, kann ich mir natürlich nur ein begrenztes Urteil erlauben, wo es sich besser radeln lässt. Dieses begrenzte Urteil lautet: Gleichstand.
Ich habe den Eindruck, dass die Münsteraner deutlich platzsparender als die Göttinger sind - dabei haben sie in Münster eigentlich mehr Platz. Das Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof wurde zum Beispiel kurzerhand unter die Erde verlegt.
Göttingen hat am Rande der Innenstadt sowohl einen Fahrradschnellweg als auch einen Spazierweg auf dem Stadtwall. Die Münsteraner haben beides kombiniert. Das Ergebnis lässt sich auf jeden Fall sehen, ich konnte die Altstadt superbequem umrunden.
Doch wer sich in einer Fahrradstadt von derartigen Prestige-Radwegen entfernt, sieht ein durchwachsenes Bild: Mal wird den Radlern eine extraflache Rampe aufgebaut, damit sie ein Kabel überqueren können, ein andermal ist der Radstreifen verblasst und übermalt.

Ansonsten sieht Münster ganz anders aus: Die Münsteraner haben ihre zerbombte Altstadt nach dem Krieg wieder aufgebaut, aber dabei handelt es sich nicht um schiefe Fachwerkhäuschen, sondern große graubraun aufragende Bürgerhäuser mit Arkaden und stufenförmigen Giebeln, die recht harmonisch in ähnlich gefärbte neuzeitliche Shoppingcenter übergehen.
Mir hat Münster durchaus gefallen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, komme ich gern mal wieder.

Münster liegt nicht direkt am Emsradweg, sondern am Dortmund-Ems-Kanal-Radweg. Der führt (wie der eine oder andere vielleicht schon vermutet) am Dortmund-Ems-Kanal entlang und verbindet (kaum zu glauben, aber wahr) Dortmund und die Ems.

Nördlich von Münster trifft der Dortmund-Ems-Kanal zum ersten Mal auf die Ems. (Spoiler: Nicht zum letzten Mal.)
Jetzt müsste doch eigentlich bald mal der Kanal kommen, oder... nanu? Sollte da nicht Wasser drin sein?


Nein, sollte es nicht. Das ist die Historische Kanalüberführung (links), die tatsächlich ganz schön historisch aussieht. Sie wurde 1899 gebaut, ähnelt aber mehr einer dieser mittelalterlichen Steinbrücken.
Inzwischen hat der Kanal eine moderne Überführung bekommen, damit er über die Ems rüberkommt. Dazu musste er seine Route ein bisschen verändern. Die alte Überführung überführt bloß noch Fußgänger und Emsradler. Wenig später überqueren die Radler auch den Kanal auf einer Brücke, die nicht nur deutlich weniger schön, sondern weniger angenehm zu fahren ist - weiße Bauzäune lassen nur einen winzigen Streifen zur Überquerung übrig.

An diesem Wendepunkt mündet die Werse und die Ems wechselt die Richtung. Sie fließt ab jetzt nach Norden und durch Niedersachsen. Naja, streng genommen ist das hier noch nicht Niedersachsen, aber in meinem Kopf gefühlt schon. Was wohl daran liegt, dass man hier überall mit dem Niedersachsen-Ticket hinkommt.

Im nächsten Dorf wird die Straße neu geteert. Das geht etwas langsam voran, da auf der Baustelle ausschließlich Hühner arbeiten.


Sand ist ein ständiger Begleiter der Ems. Immer macht mich die Karte auf Naturschutzgebiete oder Dünen aufmerksam und leitet mich da durch, damit ich auch mal was anderes sehe als Äcker. Die erste Sandschaft (die sogenannten Bockholter Berge) wurde gerade aufgebaggert und sah dementsprechend aktuell nicht so dolle aus. Die Baustelle soll die Bockhokter Baggerberge auf nicht näher erklärte Weise erweitern.

Auch an der Ems wurde irgendwas gebaut oder gestaut, so ganz habe ich das auch nicht verstanden. Die Baustelle bildet irgendwelche Erdhaufen-Inseln und lässt den Fluss breiter und wieder schmaler werden. Von der Uferpromenade in Greven konnte ich das genau sehen. Das ist ehrlich gesagt auch schon der interessanteste Anblick in Greven.
Die Uferpromenade brachte mich zum Schwimmbad. Hinter den Fenstern schwammen Leute, direkt darunter fand gerade ein Fußballspiel statt. In Greven tobt das Leben!

Die zweite Sandschaft (Wentruper Berge) bietet Büsche statt Bagger, das ist doch schon mal eine Verbesserung. Ein Meer stachliger Ranken hat den Boden um mich herum eingenommen, nur der Radweg ist frei.

Kurz darauf stieß ich auf einen kleinen Parkplatz mit einem Haus, dahinter scheint sich eine Art Freilichtmuseum zu erstrecken. Ein Mann kam gerade heraus, schließt es ab und fährt mit dem Auto weg. Sieht ganz so aus, als wäre dieses Museum, oder was auch immer das ist, geschlossen.
Oder?
Ich entdecke nirgendwo eine Absperrung oder ein Schild mit Öffnungszeiten oder so. Zögerlich betrete ich den Pfad. Als ich am Zaun vorbeikomme, bittet mich ein Schild, doch bitte alles pfleglich zu hinterlassen und keine Pflanzen aus dem Kräutergarten auszureißen. Sonst nichts.
Meine Karte sagt, dass ich mich auf dem Sachsenhof befinde. Die westfälischen Städte in der Gegend sind praktisch alle aus einem Hof entstanden. (Für das große Münster brauchte es mehrere Höfe.) Der Sachsenhof war die Keimzelle von Greven. In der Mitte stand ein großes Wohn- und Stallhaus für Menschen und Tiere. Rundherum liegen kleine Anlagen, wo die Sachsen alles mögliche gearbeitet haben. Ein extratiefes, halb in die Erde gebuddeltes Häuschen enthielt einen Webstuhl (weil die Feuchtigkeit gut zum Weben war, wusste ich auch noch nicht). Und das vorn im Bild ist so was wie ein erster Hochofen, um Eisen zu gewinnen.

Die Sachsen kamen so um das Jahr 500 hierher. Die Römer hatten damals schon Taxameter, während auf dem Sachsenhof noch nicht mal Pflüge benutzt wurden, das war für die schon zu viel Hightech. Wer den deutschen Rückstand in der Digitalisierung für schlimm hält, kann froh sein, dass er damals kein Sachse war.
Um den Hof zu bauen, mussten die Sachsen erstmal das Land erobern. Das war nicht so schwierig, denn hier lebte vorher quasi keiner. Wenn doch nur alle Eroberungen der Geschichte so friedlich verlaufen wären.
Dieser tiefe Frieden hat offenbar die Jahrtausende überdauert und liegt noch heute wie ein sanfter Schutzschirm über der Anlage. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso die nachgebauten Anlagen nicht von Vandalen (nein, nicht denen von der Völkerwanderung) verwüstet wurden. Man kann einfach so rein und sich anschauen, was da so alles nachgebaut, angepflanzt und an die Infotafeln geschrieben wurde. Auch ein Rastplatz für Radler gehört dazu. Solch ein aufwändiger Nachbau kostet sonst immer was.

Die Ems habe ich nur gesehen, wenn ich sie überquert habe. Das geschah ziemlich oft. Auf der Brücke schält sich meistens schon der Kirchturm des nächsten Dorfes aus dem Nebel. Einmal geriet ich in eine Geschwindigkeitsmessanlage, die mir 15 km/h bescheinigte.

Die nächste Stadt heißt Emsdetten. Weil der Ackerboden nicht viel hergibt, lebten da schon immer viele Handwerker. Die stellten sowohl Wannen, mit denen Getreide gesiebt wurde, als auch Polypropylen, mit dem der Reichstag verhüllt wurde, her. (Zugegeben, dazwischen lagen ein paar Generationen.)
Der Radweg hat mir allerdings nichts von der Stadt gezeigt, sondern nur das Naturschutzgebiet der Emsauen. Von der Ems ist da kaum was zu sehen. Sie fließt in einigen Metern Abstand und ist total zugewachsen.
Früher gab es hier keine Brücken, sondern sieben Fähren. Manche gehörten der Gemeinde, andere der Kirche. 1953 wurde die vorletzte Fähre stillgelegt, weil sie total abgewrackt war und keiner mehr damit fahren wollte. Den Bewohnern des Emslands scheinen ihre alten Fähren sehr wichtig zu sein: An der ganzen Ems gibts ungewöhnlich viele Hinweistafeln, die erklären, was für Fähren hier früher fuhren.

Die nächste Brücke sieht besonders eindrucksvoll aus. Da steige ich doch gern ab und schiebe ein bisschen, um sie zu bewundern.

Die Brücke entlässt mich in die dritte Sandschaft (Elter Dünen), die mit seltsamen Industrie-Ruinen und einer erstaunlich großen Heidefläche am interessantesten ist.

Hier befindet sich die letzte der sieben Fähren, die heute noch fährt - zumindest in den Sommermonaten, momentan ist sie im Winterschlaf. Schade. Wobei, ich wäre eh nicht damit gefahren, denn am anderen Ufer ist weder der Emsradweg noch sonst irgendwas. Aber immerhin ist das die einzige handbetriebene Fähre auf der Ems, wär schon interessant zu sehen, wie die fährt.

Erst Heide, und jetzt auch noch eine militärische Sperrzone? Bin ich etwa wieder bei der Emsquelle gelandet?
Ganz wichtig: In dieser Sperrzone darf auf keinen Fall gepinkelt werden. Ein Zusatzschild erweitert das Pinkelverbot auch für Frauen. Man könnte dabei Munition treffen.

In den westfälischen Städten sind die Fahrradstreifen komplett zugeparkt. So extrem habe ich das selten gesehen. Die Nähe zur Fahrradstadt Münster hat offenbar keine große Ausstrahlungswirkung.

Die größte und wohl auch schönste Stadt auf diesem Abschnitt heißt Rheine. Die Altstadt besteht vorwiegend aus graubraunen Sandsteinhäusern, quasi ein kleineres Münster. Die Hase-Ems-Tour verbindet Rheine mit Osnabrück.
Ich weiß auch nicht, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, eine Stadt an der Ems Rheine zu nennen, aber welch ein Glück, dass dieser Typ nicht noch mehr Städte benannt hat. Sonst hieße Fulda wahrscheinlich Donauwörth.
Andererseits: Emse gibt auch nicht wirklich einen tollen Namen ab. Das klingt eher nach irgendeiner abwertenden antiquierten Bezeichnung für Frauen.

Auch Rheine hat einen Uferweg, diesmal ist der aber deutlich urbaner. Ich bin an einem Shoppingcenter vorbei- und unter der Fußgängerzone durchgeradelt. Dort fand bereits der Weihnachtsmarkt statt. Mit den Weihnachtsmärkten ist das in diesem Jahr bekanntlich etwas schwierig. In Rheine hat man sich ein ganz besonderes Corona-Konzept einfallen lassen: Hier gilt nicht etwa 3G oder 2G, sondern 1S. Heißt: Der Weihnachtsmarkt besteht aus einem einzigen Stand. Dieser steht auf der Brücke über der Ems und verkauft in Baileys-Likör gebrannte Mandeln, die im Umkreis von 18,7 Kilometern extrem verführerisch duften. Was auch erklärt, warum trotzdem fast so viele Leute herumliefen wie auf einem normalen Weihnachtsmarkt.
Die Ludgerusbrücke war lange Zeit die einzige Brücke der Stadt und zugleich wichtigster Schutz (bei einem Angriff leicht zu verteidigen) und Einnahmequelle (Zoll). Erst 1828, als beides nicht mehr so richtig funktionierte, traute sich zum ersten Mal jemand, ein Haus am anderen Ufer zu bauen.

Auf der Brücke spielte ein Mann Harfe. Wie schafft er das, ohne dass ihm die Finger abfrieren? Seine melancholische Melodie berührte irgendwas in mir. Auf einem gewöhnlichen Weihnachtsmarkt wäre diese Musik eher unpassend. Aber das ist kein gewöhnlicher Weihnachtsmarkt, kein gewöhnliches Weihnachten und kein gewöhnlicher Winter. Schon wieder, obwohl sich viele etwas anderes erhofft hatten. Und dieselbe europäische Novemberkälte, die mich trotz fünf Kleidungsschichten frösteln lässt, tötet in diesem Moment an unseren Grenzen Menschen. All das scheint in dieser Melodie mitzuklingen.
Wobei ich nicht weiß, ob der Harfenspieler das wirklich alles mitklingen lassen wollte. Wahrscheinlich nicht.

Hinter Rheine strömt die Ems durch eine ganz besonders große Mühle. Von den Mühlrädern ist nicht wirklich was zu sehen, aber an der Stelle, wo sich der Mühlenkanal wieder mit dem Hauptfluss vereint, entstehen ganz schön heftige Stromschnellen.

EMSSPORT verkünden die Buchstaben auf diesem komischen Käfig. Ich habe ja schon allerhand Trimm-Dich-Pfade und Freiluft-Fitnessgeräte in Parks gesehen - aber was bitte soll man in dem Kasten für Sport machen? Und warum steht davor ein Trampolin, das nicht elastisch ist?
Neugierig fahre ich heran - und stelle fest, dass ich mal wieder alles falsch verstanden habe. Es handelt sich um die Utensilien einer vergessenen Sportart, die sich nie durchgesetzt hat. Was daran liegt, dass es sie nie gab. Das ist ein Kunstwerk, das gegen krampfhafte Fitness und Leistungssport in der Freizeit gerichtet ist. Eine Botschaft, die ich voll und ganz unterstütze. Und jetzt schnell weiter, ich will heute unbedingt noch die 70 Kilometer nach Salzbergen schaffen!

Nördlich der Stadt bin ich ich an einem Kloster vorbeigefahren. Die Mönche hatten ihre eigene Saline und nannten sie Gottesgabe. Direkt dahinter folgt die Grenze von NRW nach Niedersachsen.
Die Felder und Wälder haben mich immer wieder an den zweiten sommerlichen Ems-Tag erinnert. Ein Asphaltweg schlängelt sich geschmeidig durch diese Landschaft.
Die Bäume befinden sich inzwischen fest in der Hand des Novembers - die meisten sind grau, ein paar andere noch orange.


Aber, was zum Geier, auf manchen Feldern scheint immer noch Sommer zu herrschen! Ich habe immer noch strahlend gelbe Rapsfelder, blau blühende Kornblumen und grasgrünen Rasen gesehen. Zwar deutlich weniger als während der letzten Tour, aber trotzdem nicht wenig.
Auf dem letzten Aussichtsturm des Tages hatte ich einen eigenartigen Blick: Auf dem einen Ufer herrschte Sommer, auf dem anderen Herbst.

Ein Landwirt erntete noch sein Getreide ab und schoss es in einem goldenen Strahl aus dem Mähdrescherrohr in einen Container.
Zielstrebig radelte ich auf Salzbergen zu und rechnete schon damit, den Sonnenuntergang am Horizont zu sehen. Doch es gab keinen Sonnenuntergang. Überhaupt nicht. Dafür war der Himmel einfach zu feucht. Stattdessen übernahm der Nebel die Aufgabe, den langsamen Übergang zur Dunkelheit zu überbrücken - er senkte sich über das Land und schien alles Licht aus der Landschaft herauszufiltern.
Ausgenommen natürlich künstliches Licht. Wobei ich diesbezüglich nicht viel zu bieten habe. Mist, mein Vorderlicht ist schon wieder kaputt.

Macht nichts, ich bin ja eh gleich in Salzbergen. Das Zifferblatt der Kirchturmuhr leuchtete mir entgegen und verriet mir, dass der nächste Zug sogar früher kommt als der Sonnenuntergang.
Die Stadt selbst ist ziemlich schmucklos, aber die Kirche ist ein Prachtbau aus strahlenden Spitzbögen.
 

Zufrieden schob ich mein Rad an der dekorativen Dampflok vorbei eine superangenehme Fahrradrampe hinunter und nahm mir schon vor, ein paar lobende Worte über diesen kleinen Bahnhof zu verlieren - da sah ich, dass die zweite Treppe zum Bahnsteig wieder nur mit diesen nutzlosen 0,2 Millimeter breiten Rampen am Rande der Treppe ausgestattet war. Dann also doch keine lobenden Worte. Stattdessen tadelnde. Die ich hiermit geschrieben habe.