NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

17 August 2025

Donau: Von Esztergom nach Fenyveshegy

Dieser Tag lief anders als geplant, und das war gut so. Wir schauten uns noch bis mittags Esztergom an. Am Fuße einer Treppe sprach uns ein Ungar in exzellentem Deutsch an und fragte uns, wohin es weitergehen solle. Da waren wir uns selber noch nicht sicher. Fünf Kilometer Hauptstraße am ungarischen Ufer? Keine gute Idee, der Verkehr sei d wirklich heftig. Lieber durch die Berge, dort wurden schöne neue Waldwege geteert - ach so, das ist Ihnen zu steil? Und Sie wollen dann die Fähre nach Szob nehmen? Auch keine gute Idee, man weiß nie, ob die fährt. Dann fahren Sie doch lieber gleich komplett am slowakischen Nordufer.
Dass uns dieser gute Geist rechtzeitig erschien, ist wohl ein Beweis, dass der Hügel von Esztergom tatsächlich recht nah dran an Gott ist.

Und so fanden wir uns, entgegen aller Erwartung, noch ein letztes Mal in der Slowakei wieder. Und bereits sehr hungrig. An der Uferpromenade von Štúrovo stand, gegenüber vom klassischen Bufet, ein asiatisches Restaurant. Da der Jüngste Lust auf Sushi hatte und uns die panierten Bufet-Sachen schon aus den Ohren rauskamen, gingen wir rein, setzten uns mit Blick auf ein Riesenrad und die ungarische Basilica und bestellten eine ganze Menge. Aber ob das auch gut wird?
War es. Richtig, richtig lecker.


Wir hatten diese Strecke nicht geplant, weil sie a) in den Kartenbüchern überhaupt nicht vorkommt und b) etwas länger ist, weil wir um zwei Nebenflüsse bis zur nächsten Brücke herumfahren musste. Mag sein, trotzdem war das hier wahrscheinlich die bessere Wahl.

Auf dem Weg saßen immer wieder Gruppen von Heuschrecken im Kreis herum, als hätten sie etwas Wichtiges zu besprechen. Sie wirkten irgendwie zarter und zerbrechlicher als deutsche Heuschrecken, als seien sie aus Papier gemacht. Aber das spielt keine Rolle, denn im Gegensatz zu Nacktschnecken sind sie in der Lage, rechtzeitig aus dem Weg zu hüpfen.

Schon von der Basilica war zu erkennen, wie es nun weitergeht: Die Donau bricht durch zwischen dem Visegráder und Börszöny-Gebirge. Jetzt sind an beiden Ufern felsige Berge.

Diese Berge haben mich an die zwischen Wien und Bratislava erinnert - man könnte meinen, die Gebirge seien überhaupt nicht durch eine große Tiefebene getrennt und wir hätten die letzten Tage einfach halluziniert.
Die Felswände sind das genaue Gegenteil von nackt und kahl: Bäume drängen sich auf allen Seiten um sie herum, und ein paar vorwitzige Exemplare sind sogar unter die Bergsteiger gegangen und klammern sich mit ihren Wurzeln im Stein fest. Auch dann, wenn sie längst abgestorben und vertrocknet sind. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von menschlichen Bergsteigern.
Weil unter der ersten Felswand so wenig Platz war, mussten wir auch am Nordufer auf einer Straße fahren, aber der Verkehr war deutlich schwächer.

Und dann, in Chl'aba (Brot?), folgt die Brücke über den Ipel/Ipoly, und der ist nun die Staatsgrenze. Die Donau ist ab jetzt auf beiden Ufern ungarisch, und nachdem wir wirklich das absolute Maximum an Slowakei aus dieser Tour herausgeholt haben, bleibt uns keine andere Wahl, als in Ungarn weiterzufahren.

Auf den ersten Blick scheint sich nicht viel verändert zu haben: Immer noch diese geschnitzten Holzsäulen. Nur dieses doppelte Kreuz ist neu.

Aber schon hinter der nächsten Kurve sah alles anders aus. Szob empfing uns mit aktiven und stillgelegten Bahnhöfen. In diesem alten Bahnhofsturm befinden sich Ferienwohnungen, umringt von einem alten Bahnwagen, einem Blumentopf, in dem Gleise und Wagen einer Modelleisenbahn zusammenhanglos herumliegen, und einem derart heruntergekommenen Klavier, dass wir keinen einzigen Ton herausbekommen haben. Ist auch schwierig, so ohne Tasten.

Diese Schranken mit Fahrrad-Lücke gab es schon in der Slowakei, in Ungarn kommen sie aber viel öfter vor und enthalten keine nervige Bremsschwelle in der Mitte.
Doch der größte Unterschied ist: Schatten. Auf einmal ist der überwiegende Teil des Donauradwegs beschattet, und die Imbisse kamen in immer kürzeren Abständen. Whaat? Was haben wir die ganze Zeit verpasst? Hätten wir gleich hinter Bratislava nach Ungarn abbiegen sollen?
Wahrscheinlich nicht. Ich bezweifle, dass der ungarische Donauradweg hinter Čunovo oder an der Grenze zu Serbien auch so aussieht. Denn erstens befinden wir uns schon im Einzugsbereich von Budapest, und zweitens kommt gleich eine der zwei beliebtesten Landschaften Ungarns.
Nur die kleinen Donaustrände verschlechterten sich rapide, denn sie waren voller Glasscherben und Bauschutt.

Wir wichen auf einen offiziellen Strand aus. Die Steine waren immer noch spitz, aber es gab Betonrampen zum Reingehen. Und so eine Begrenzung im Wasser ist auch nicht schlecht, um beim Schwimmen mit Gegenstromanlage immer die Richtung beizubehalten. Trotzdem kam es nicht an den Charme der Naturstrände der letzten Tage heran.

An den Straßen hat Ungarn manchmal getrennte Fahrspuren für Fußgänger und Radfahrer markiert. Im Prinzip eine sinnvolle Sache, außer man lässt den trennenden Strich verblassen und die Fußgängerhälfte vollkommen von Schlingpflanzen überwuchern.

Die historischen Holzhäuser zeigen Flagge und machen blau.

Nun macht die Donau einen scharfen Bogen nach Süden, die Bahn schießt dahin, die Felsen fallen etwas flacher ab. Sie bestehen aus Vulkangestein und Kalk. Ersteres liefert eine stabile Basis, letzteres kann sich die Donau nach Belieben zurechtschleifen.
Wir sind zwar nur kurz in Ungarn, doch auf dieser Strecke geben wir uns die volle Ungarn-Dröhnung: Kirchliche Hauptstadt, dieses Tal, weltliche Hauptstadt. Fehlt nur noch der Balaton, aber der ist woanders.
Willkommen im Donauknie! Es sieht aus, als hätte jemand die Toskana, die Schlögener Schlinge und das Mittelrheintal gekreuzt. Erst macht die Donau eine scharfe Schleife Richtung Süden, und dann knickt sie endgültig für die nächsten 500 Kilometer nach Süden ab.

Und diese Stelle ist wahrscheinlich so etwas wie die ungarische Loreley: Visegrád. Statt singender Nixen sind hier gleich zwei Burgen anzutreffen. Die untere scheint vor allem aus einem dicken Turm zu bestehen, die Lücken gefüllt mit Beton. Die Obere Burg wird ihrem Namen sehr gerecht, höher kann eine Burg nicht liegen. Die Mauern sehen wirklich sehr mittelalterlich aus, die Bögen sogar geradezu antik, und das ganze Ding scheint riesig zu sein. Diese Landschaft ist längst nicht so groß wie das Mittelrheintal, aber ich kann mich nicht erinnern, dort eine Burg wie diese gesehen zu haben. Es ist, als habe jemand versucht aufgrund der Kürze des Tals die maximale Burgigkeit in diesen Berg hineinzukomprimieren. (Und auf der Rückseite hat er dann noch ein Skigebiet mit Sommerrodelbahn angelegt.)
Sicher, dass die Könige nicht eigentlich hier gelebt haben? Ja. Das heißt, haben sie schon, aber nur einmal kurz zwischendurch. Und in der Unteren Burg lebte König Salomon, aber im eingekerkerten Zustand, weil er seinem Cousin schon zum zweiten Mal den Thron klauen wollte. Und in der Oberen Burg bewahrten die Könige ihre Krone auf. Zumindest, bis Königin Erzsébet/Elisabeth sie klaute, weil die diebische Helikoptermutter ganz ganz sichergehen wollte, dass ihr kleiner Sohn sie bekam. Erst 20 Jahre später kehrte die Krone zurück nach Ungarn.
Kurz gesagt: Obwohl dieser Berg an sich nur regionales Verwaltungszentrum war, war er für die Königsfamilie schon immer wieder wichtig.

Aber da kommen wir heute nicht mehr hoch. Stattdessen radelten wir gegenüber in Nagymaros durch einen Park mit obskuren, geduckten Statuen aus Pferdeköpfen, von einem Softeisstand zum nächsten.
Wer zu den Burgen will, kann einfach aus dem Bahnhof steigen, die Fähre nehmen und dann... äh, laufen, oder sich an die Bushalte stellen. In Deutschland gäbe es sicher eine Seilbahn, doch Ungarn wollte sich sein Panorama davon nicht versauen lassen.

Das letzte Wegstück durch Wiesen und Pferdeweiden entfernte sich von der Donau.

Die macht schon wieder etwas anderes: Kaum ist das Knie zu Ende, teilt sich die Donau in zwei Arme, zwei Drittel landen in der Donau (im Bild), der Rest in der schmaleren Szentendrei-Duna. In der Mitte liegt die große Insel Szentendrei Sziget (hinten im Bild), dahinter die Stadt Szentendre (=Sankt Andre[as]). Sziget heißt Insel, so viel habe ich verstanden, auch wenn Ungarn viele ähnlich klingende Worte hat, die auch mit Sz beginnen (sogar unser WLAN-Passwort gestern). Die Ungarn lieben ihr Eszett, und zwar kein ß, sondern ganz wortwörtlich Sz, auch wenn es wie unser ß ausgesprochen wird.
Die Szentendrei Sziget scheint ähnlich schöne Strände mit Kies und Weiden zu haben, ansonsten ist da aber nichts weiter Ungewöhnliches drauf. Die andere Seite ist mit Brücken ans Festland angebunden.
Wieder haben wir ein Hotel direkt am Wasser, diesmal aber scheint der Strand gar nicht so zum Baden gedacht zu sein, zumindest gibt es keinen erkennbaren Pfad nach unten. Als Blick beim Essen ist es natürlich trotzdem ein Traum, und der Rest lässt sich auch lösen, wie dieses Bild meines Vaters beweist.

Das Hotel ist von Kopf bis Fuß aus gebogenem Holz gestaltet, und Türen wie diese habe ich noch nie gesehen.
Vor dem Eingang steht ein Baum, an dem die Leitern und Stahlseile eines vergessenen Hochseilgartens beginnen und im Wald verschwinden.

Unsere Räder übernachten in einer Garage Rumpelkammer mit Hollywoodschaukel und Motorrad.

Schön und gut, aber wo sind wir eigentlich? Der Bahnhof nebenan trägt den wunderbaren Namen Fenyveshegy. Jawoll, ich wollte unbedingt in so einem ungarischen Zungenbrecher-Ort schlafen! Wobei der Bahnhof anscheinend nach einem benachbarten Berg benannt wurde, denn theoretisch sind wir schon auf dem Territorium der Barockstadt Vác.
Dieses Vác hat eine Parkpromenade mit einer noch obskureren, geduckten Statue einer in einem Umhang ganzkörperverschleiterten Frau, die Rosen in den Händen hält. Szent Erzsébet? Moment, das ist die Heilige Elisabeth? Etwa die gleiche wie die von der Wartburg, die Erfinderin des Krankenhauses? Korrekt, schließlich war sie eine ungarische Königstochter, auch wenn sie Ungarn mit vier Jahren verlassen hat. Bloß: Das hier dargestellte Rosenwunder (Brot in Rosen verwandeln) kommt eigentlich von der Heiligen Elisabeth aus Portugal, die Story wurde wahrscheinlich einfach für die Thüringisch-Ungarische Elisabeth abgeschrieben.
Laut Radführer sollen wir hier morgen die Fähre auf die Szentendrei Sziget nehmen. Die Zufahrt besteht einfach aus einer Rampe ins Wasser, ist die Fähre weg, hält keine Schranke die Fahrer davon ab, ins Wasser zu steuern. 

Der Hauptplatz von Vác ist ein wunderschöner, dreieckiger Platz voller Grün und bunter Häuser. Es ist der einzige barocke Platz in Ungarn, er hat einen Dom im Pariser Stil, und um dem ganzen noch die stark verschnörkelte Krone aufzusetzen, sind in der Mitte die Ruinen einer anderen Kirche.
Ich wollte in den Dom schauen und umrundete den großen weißen Lieferwagen. Doch unter dem großen Altarbild lagen Kränze, in der ersten Reihe knieten Menschen, und jetzt war mir auch klar, was das wohl für ein weißes Auto war. In vielen Kulturen ist weiß die Farbe des Todes. Wieder was gelernt.

Die Beschriftung des Wagens war keine Hilfe. In Ungarn verstehen viel, viel weniger. Spezielle Laute hörten wir eigentlich nicht heraus, trotzdem ist die schnell dahinplätschernde Aussprache seltsam undurchschaubar. Das Ungarische entstand bei der Völkerwanderung aus dem Slawischen, Finno-ugrischen und Turksprachen, aber so, dass etwas ganz, ganz Eigenes dabei rauskam. Bei den Wochentagen (hétfő, kedd, szerda,...) zum Beispiel, die ja für Öffnungszeiten und so nicht ganz unwichtig sind, kamen uns mit unseren Tschechischkenntnissen vier von sieben Tagen entfernt bekannt vor, die anderen drei klingen völlig fremd - und das ist schon eine echt gute Quote. Wer nur Deutsch spricht, erkennt maximal den szombat.

14 August 2025

Donau: Von Radvaň nach Esztergom

IV. Ungarn

Richtiger Name: Magyarország
Anteil an der Donau: 417,2 km (14,6 %)
Anteil am Donauradweg: max. 476,5 km (16,7 %)
Anteil der Donau an der Staatsgrenze: ca. 174 km (7,4 %)
Ufer: Weiden (beide Arten), Strände aus Kies und Schutt
Hauptstadt an der Donau? Ja (Budapest)
Größter Nebenfluss: Rába/Raab (250 km, mündet in die Mosoni-Duna)
Anzahl Inseln: 5
Größte Insel: Kleine Schüttinsel
Größter Wasserpark an der Donau: Aquaworld Budapest
Schönste Stelle: Donauknie bei Visegrád
Schlimmste Stelle: Maria-Valeria-Brücke und Straßenverkehr Esztergom
Radwege: schattiger mit gelben Linien, aber teils lückenhaft
Einreise: problemlos dank EU
Währung: 1 Forint=0,0025 € (was zur Hölle)


Was heute geschah, war unfassbar. Unbegreiflich. Niemand hätte es vorhersehen können. Hätte Donald Trump erklärt, er wolle fortan eine queerfeministische Abtreibungsklinik sponsoren, hätte mich das weniger überrascht als dieser Radweg im Schatten.

Auch wenn dieser Weg nicht völlig frei von Hindernissen war.

Und auch nicht die ganze Zeit im Schatten.
Dafür gab es in Kravany den römischen Wachturm Nr. 2, jetzt noch weniger römisch, stattdessen in der typisch neudeutschen Bauweise - Stahl im luftigen Holzmantel.

Allmählich wird der Donauradweg lebendiger. Im selben Stil wie der Turm wurde daneben ein Kiosk erbaut, der Softeis, Getränke und Snacks verkaufte. Und siehe da, auf einmal gab es doch andere Tourenradler, die das Zeug kauften. Wo wart ihr die ganze Zeit? Sind die die monotone Strecke an einem Tag so schnell durchgefahren, dass sie wir sie mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmen konnten? Entweder das, oder sie haben die ungarische Seite gewählt, das kann natürlich auch sein.
Ein ungelöstes Rätsel blieben diese geschnitzten slowakisch geschnitzten Säulen. Es sind Störche und andere Vögel darauf zu sehen und allerhand Kreuze und Sonnen. Einige wurden als Torbogen um Gedenkplatten für wichtige Persönlichkeiten gelegt.

Ein verschlossenes Danubium und ein noch größeres Lost Place deuten darauf hin, dass dieser Rastplatz ursprünglich sogar noch viel größere geplant war.

Während der nächsten Badepause fanden ein paar sehr kleine Donaukrebse meinen Rücken so anziehend, dass sie sich darauf niederließen - und leise zwickend protestierten, als das Wasser auf einmal weg war. Unsere Eltern ordneten sie als "eine Art Krill" ein. Das erklärt auch, warum die Kieselsteinchen am Ufer nur so von ihnen wimmeln. Es fehlt an natürlichen Feinden, denn der Donauwal wurde bekanntlich schon tragischerweise vor langer Zeit ausgerottet.

Das Schwimmen in der Donau ist eine eher junge Tradition. Die meiste Zeit war es verboten, bis sich ab 1850 der Schwimmunterricht verbreitete und erste Schwimmbäder aus Holzstegen gebaut wurden - natürlich mit getrennten Bereichen für Damen und Herren. Diese mussten aufpassen, dass sie nicht von einem planlosen Schiff gerammt wurden. Dampfschiffe hatten die "Brüllschiffe" (geschleppte Holzschiffe) abgelöst und brauchten Fachpersonal aus dem Ausland. Wenn aber der Kapitän aus Mainz, der Steuermann aus (Buda)Pest und der Maschinenmann aus Birmingham kam, und keiner von denen je eine Fremdsprache gelernt hat, dann lief der Stahlkoloss auch gerne mal fachmännisch auf Grund.

Und dann passierte etwas noch Unfassbareres: Der Deichradweg endete komplett. Finito. Ein Industriegebiet stand im Weg. Wir radelten durch sonnige Dörfer und noch sonnigere Felder. Bunte Wegweiser wiesen in zwei Sprachen darauf hin, was es im Dorf alles so gab. Eine Familie in Badebekleidung gruppierte sich um ein einziges Fahrrad, das sie gemeinsam aufzupumpen versuchten.

Und ein alter Mann mit lauter Musikbox und rostigem Rohr auf dem Gepäckträger radelte uns langsam entgegen. Rost, Kräne und Gleise kündigten die Nähe der nächsten Doppelstadt an. Dabei gibt es dort gar keine internationale Bahnverbindung über die Donau.
Und dann tauchte am Horizont (nicht im Bild) ein Bauwerk auf, das in dieser Umgebung auf den ersten Blick wie eine Fata Morgana erschien. Dazu später mehr.

Diese Doppelstadt ist sehr viel unausgewogener. Die slowakische Seite heißt Štúrovo und hat laut Radführer keine einzige Attraktion. Er empfiehlt zwar, eine Weile zu bleiben - aber nur, um den Blick auf Ungarn zu genießen.
Dabei hat die Stadt immerhin zwei Attraktionen: Einen Ferien- und Wasserpark mit gewaltig viel Beckenfläche, viel größer als die Anlage gestern, und ohne faule Eier.

"Guten Tag, zwei der größten Schließfächer bitte."
"Zwei?!"
"Sie haben mich schon richtig verstanden."

Und zweitens hat Štúrovo eine überraschend grüne Fußgängerzone mit einem sehr abenteuerlichen Sammelsurium an schöner und scheußlicher Architektur.
Vielleicht mag die Stadt nicht das beste Aushängeschild der Slowakei sein für alle, die aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Aber sie wurde nach einem der wichtigsten Slowaken überhaupt benannt. L'udovít Štúr war von Beruf Schriftsteller und Revolutionär. Im 19. Jahrhundert sammelte er die vielen Dialekte und schmiedete daraus die slowakische Sprache, wie sie heute gesprochen wird - eine Art Tschechisch, bei dem die Vokale durcheinandergeschüttelt wurden, mit einer besonderen Vorliebe für a, o, ie und ň. Den gefürchteten, unaussprechbaren Todesbuchstaben Ř (über kaum einen Buchstaben gibt es so viele Memes) dagegen fand Štúr unnötig und nahm ihn nicht in sein Alphabet auf. Allein dieser Verdienst für sein Land wäre wohl Grund genug, eine Stadt nach dem slowakischen Martin Luther zu benennen.
Umso schmählicher für den alten Štúrkopf ist es, dass das Märchentheater für Kinder in der Fußgängerzone auf Ungarisch gespielt wurde! Das verstanden wir sofort, weil wir nichts verstanden.

Vorbei mit der Slowakei! Über die grünliche Maria-Valeria-Brücke wechselten wir nach Ungarn. Ein total verrostetes Schild verbietet das Radfahren auf dem Bürgersteig, aber alle ignorierten es. Denn wer auf dieser Fahrbahn Fahrrad fahren will, dem sei stattdessen eine Reise in die Schweiz empfohlen - dort werden schmerzfreiere Möglichkeiten der freiwilligen Selbsttötung angeboten.
Und da ist sie auch wieder, die Fata Morgana, die Basilika von Esztergom. Ungarns größte Kirche zieht Kinnladen nach unten, Köpfe nach oben und Handys in die Hände. Inmitten wehrhafter Mauern auf dem Schlosshügel steht unbeeindruckt von all dem Verkehr da unten eine reine, weiße Kuppel.

Damit steht sie im Gegensatz zum Rest der Stadt, der uns wie schon Štúrovo mit sehr abenteuerlichen architektonischen Gegensätzen und Grünanlagen empfing.

Alles ist irgendwie abgewetzt und staubig, doch je tiefer wir reinfuhren, umso knuffiger fand ich die Stadt. Nur der Verkehr ist halt speziell und erfordert Umwege, um den großen Straßen auszuweichen. Manche Häuser hatten beinahe schon etwas von verwunschenen, überwucherten Ruinen aus einem Märchen, vielleicht ja dem in Štúrovos Fußgängerzone.
Abends sprudelte eine Reihe kleiner Fontänen in allen möglichen bunten Farben. Aber immer nur jeweils eine Farbe auf einmal. Hätten sie mehrere Farben gleichzeitig, könnte es sich ja um einen Regenbogen handeln.

Unser Häuschen ist nicht abgewetzt, sondern nur knuffig. Es liegt gegenüber vom (abgewetzten) Bahnhof, und abends schallten Durchsagen durch mein angekipptes Fenster, von denen ich rein gar nichts verstand. Was aber in dem Fall nicht an der ungarischen Sprache lag, sondern an Bahnhofsdurchsagen im Allgemeinen.

So, wir müssen erstmal dringend was nachkaufen. Die kleinen Supermärkte sind voller Fertiggerichte, selbst Tiefkühlware gibt es nur wenig, und frisches Obst und Gemüse überhaupt nicht - dafür sind offenbar Extrageschäfte da.

Um uns die "Wiege Ungarns", das "ungarische Rom" oder "Die Stadt der Schwarzen Reaktion" (laut den Sowjets) anzuschauen, mussten wir Treppen steigen. Auf der Karte sah der St.-Thomas-Hügel ganz interessant aus, und wir stiefelten an den alten Mauern und Felswänden hinauf. Eine Sonnenuhr verkündete auf Latein: EGO NIHIL SINE SOLI - TU NIHIL SINE DEO. So wie ich (also der Hügel, der hier anscheinend zu uns spricht) nichts ohne den Boden bin , bist du nichts ohne Gott. Demnach darf man Gott mit den Füßen treten?

Diese verwinkelten Gässchen da oben, ist das eine Altstadt?
Ist es nicht. Es ist ein offenbar sehr altes und grünes, aber eben auch stilles Wohngebiet. Die kleine weiße Thomaskapelle war verschlossen, und das mit Abstand Eindrucksvollste der Blick auf den nächsten Hügel. Wer nach außen schön baut, tut damit eben mehr Gutes für seinen Nachbarn als für sich. So von oben gesehen, sah das Ganze für mich eher nach Jerusalem als nach Rom aus.

Auf dem nächsten Hügel wanderten wir durch Burgtor um Burgtor um Burgtor. Während die ersten noch richtig alt aussagen, war das letzte Ziegeltor schon deutlich jünger. Von wann ist diese Burg denn nun?
Antwort: Es ist kompliziert. Bereits die Römer haben hier oben ihren Donaulimes gesichert. Als die Magyaren alles eroberten, machten sie Esztergom zu ihrer Hauptstadt - und damit zum Handlungsort eines sehr blutigen Finales. Denn das Nibelungenlied endet in der "Etzelsburg", und wahrscheinlich ist damit Esztergom gemeint. Nach all den Nibelungenstädten, die sich damit rühmen, dass die Protagonisten dort mal kurz Pinkelpause gemacht haben, sind wir nun am Ende der Geschichte angekommen - und es gibt keinerlei Hinweis darauf.

Esztergom konzentriert sich lieber auf echte Personen wie den ersten König von Ungarn: Stephan der Heilige wurde auf diesem Berg geboren und im Jahr 1000 gekrönt. Und hält sich hier auch heute noch auf, zumindest ein Teil von ihm: Der oberste Knochen in diesem Reliquiengefäß ist seiner, darunter schwimmen seine Nachkommen Prinz St. Emeric und König St. Ladislav - gleich drei aus der Familie wurden heiliggesprochen, eine Quote, die unsere Familie vermutlich nicht mehr erreichen wird.

Nachdem die Mongolen eingefallen waren, zogen die Könige nach Budapest. Der Primat der ungarischen Katholiken nahm den leeren Schlossberg in Beschlag, und seine Nachfolger gaben ihr Bestes, um die Könige an Prunk zu übertreffen. Viele Bischöfe waren begeisterte Kunstsammler, und ihre Sammlung wuchs.
Im ersten Raum der Burg waren Kunstwerke zu sehen, die vermutlich nicht zu ihrer ursprünglichen Sammlung gehörten. Die Free Art Gallery beherbergte kühle Luft und kunterbunte Bilder von Menschen, Wasser und Menschen am Wasser.
Das Burgmuseum dahinter wirbt auf Englisch mit See where the Archbishop had his sauna! Die Eintrittstabelle ist dann aber nur auf Ungarisch, sehr clever. Daher übersprangen wir das und gingen gleich auf den Mittelpunkt des ganzen Komplexes zu. Und der sah erstaunlich neu aus. Das hier soll die Wiege Ungarns sein?

Der Grund dafür ist der übliche Verdächtige, das Osmanische Reich. Als sich die Türken nach 140 Jahren zurückzogen, ließen sie eine Ruinenstadt mit gerade mal 400 Einwohnern zurück. Doch die Kirche war fest entschlossen: Wir bauen das wieder auf, größer als je zuvor! Auch wenn sie sich schon im 19. Jahrhundert befanden. Egal, wie viel Mühe sie sich gaben, bei der Jahreszahl konnte kein klassisches Bauwerk mehr bei rauskommen, höchstens ein neoklassisches.
Meine Eltern wirkten etwas ernüchtert, dass das Herz dieser ach so alten Kirchenstadt gar nicht wirklich alt ist. Aber, ich meine: Die Stadt heißt Esztergom, nicht Echterdom.
Auch als uns endlich die kühlen und - verhältnismäßig - stillen Hallen der Basilika umfingen, war der Anblick erstmal ernüchternd: Baugerüste. Auch ohne Rückkehr der türkischen Truppen nagt der Zahn der Zeit an Gottes Haus. Ah, das Bild da hinten zeigt Christi Himmelfahrt, oder? Fast, es ist Mariä Himmelfahrt. Das größte Leinwand-Altarbild der Welt war noch zu erkennen, doch zu einem Viertel verdeckt büßte es sehr an Wirkung ein, wie der Rest. Es sei denn, wir legten den Kopf in den Nacken und schauten senkrecht nach oben in die goldenen Verzierungen der Riesenkuppel und blendeten die Pfosten am Rande des Blickfelds aus. Dann ging's eigentlich.

Einen Raum weiter schwimmen die Knochen und Zähne der Heiligen in Flüssigkeit herum. Die einen wurden schon vor Jahrhunderten handschriftlich beschriftet und in kleinen rechteckigen Pillenboxen gesammelt, die wichtigeren schwimmen in altertümlichen oder moderner gestalteten Goldpokalen. Niemand betete zu ihnen, und die Atmosphäre war auch nicht gerade andächtig, denn sie standen im Religious Gift Shop (immerhin nicht zum Verkauf).
Das Kirchenschiff, die Reliquien, der Shop und das Panorama-Café im zweiten Stock (WC-Besuch nur gegen Entgelt, oder bei Verzehr im Café gegen Vorlage der Quittung) sind kostenlos zugänglich. Der Rest kostet Eintritt, und da wir besagten Eintritt bezahlten, kann ich verraten, woraus dieser Rest besteht.

Die Schatzkammer ist voller Sammelobjekte der Bischöfe: Wandteppiche und Talare mit eingewebten Gestalten, ihre Gesichter sind längst vergilbt, dazu Goldpokale und goldene Bischofsstäbe. Überraschenderweise stammt nur wenig davon aus Ungarn, sondern fast alles aus dem Italien der Renaissance.
Fotografieren darf man darin nicht. Immerhin konnte ich dieses Modell ablichten. Hö, diese Seitenflügel habe ich da draußen gar nicht gesehen? Der Wiederaufbau des Schlosshügels ist nicht so groß ausgefallen wie ursprünglich geplant, trotzdem war die Wiedereröffnung natürlich ein Riesending in Österreich-Ungarn, Franz Liszt komponierte extra eine Messe.

Am Eingang stiegen wir dann eine Treppe runter - und befanden uns in einer anderen Welt. Einer kühleren und erhebenderen Welt. Die sogenannte Unterkirche wirkt gleich viel älter, es war, als würden wir die (sehr gut erschlossenen) Katakomben zu einer vergessenen Zivilisation betreten. Dabei sind die Menschen, die hier begraben wurden, oft gar nicht so alt.
Diese Räume werden als Krypta der Kardinäle benutzt. Sie liegen hinter schlichten, zubetonierten Betonplatten (hinten im Bild), und ihre Namen wurden im Nebenraum auf marmorne Scheiben (rechts) eingraviert. Die allermeisten Scheiben sind noch frei, die ungarische Kirche blickt optimistisch in die Zukunft.

Ein Grab aber steht im Mittelpunkt all dessen, ist mit bunten Tüchern und Blumen geschmückt.
All das hier riecht derart nach reichem, religiösen Establishment, dass man leicht übersehen kann, dass es auch unter den Klerikern manchmal mutige und unbequeme Menschen gab. So wie József Mindszenty. Dieser Kardinal machte den Mund auf, schrieb und predigte gegen alles, was ihm ungerecht erschien: Eine zu linke Regierung in der Republik, aber eben auch die Deportation der Juden, Hinrichtungen und Verstaatlichung aller Schulen im Kommunismus. Die Arbeiterpartei ließ ihn foltern, unter Drogen setzen, ein Geständnis unterschreiben und im Schauprozess verurteilen. Beim Ungarischen Volksaufstand 1956 befreiten ihn die Aufständischen und trugen ihn in einem Triumphzug nach Ungarn. Als dann aber Russland einmarschierte, um den Aufstand niederzuschießen, floh er in die amerikanische Botschaft und lebte schließlich im Exil in Wien. Dort verscherzte er es sich sogar mit dem Papst, der laut Mindszenty viel zu nachgiebig gegenüber den Kommunisten war - am Ende enthob ihn der Papst seines Postens.
Das klingt alles nach weit entfernter, dunkler Vergangenheit. Aber zeitliche Abstände hängen immer vom Blickwinkel ab. Als wir unserer Oma ein Bild schickten, schrieb sie, in Esztergom sei sie 1970 auch einmal gewesen.
Da war der Mann in dieser Gruft noch am Leben und verschanzte sich in der US-Botschaft.

In die gegenteilige Richtung der Gruft zu steigen, ist das genaue Gegenteil von erhebend. Bisher waren die Räume mäßig gefüllt, aber auf die Kuppel wollten auf einmal alle. Und der komfortable Aufzug zur Schatzkammer und zum Panoramacafé reicht nicht so weit nach oben. Ich landete eingekeilt auf einer endlosen, wahnsinnig engen Wendeltreppe voller schnaufender Touristen, so viel Platzangst hat weder der Aufstieg auf den Kölner Dom noch das Ulmer Münster zu bieten.
"Digger, wieso seid ihr alle so fit?", keuchte ein digger Junge auf Deutsch.
Naja, so fit klang die Geräuschkulisse für mich nicht. Wieso bin ich, der ich im Schulsport immer zu den schlechtesten gehörte, auf einmal derjenige, dem dieser Aufstieg und diese Tour am wenigsten auszumachen scheint? Wo sind die fitten Leute von damals? Offenbar nicht in Esztergom.
Schließlich ließen die Mitarbeiter eine großzügige Portion Touristen die finale Treppe hinauf in die nicht sehr prunkvolle Innenseite der Kuppel. Wie das schwarze Hinterzimmer eines Theaters.
Und dann raus.

Die Aussicht über die Donau ist wirklich toll, auch wenn das Donauknie noch nicht zu sehen war. In Štúrovo war der Wasserrutschenturm klar zu erkennen. Eine Wasserrutsche hier runter wäre jetzt nicht das schlechteste für die schwitzenden Menschenmassen, dann wäre auch der Besucherfluss deutlich schneller.
Es ist ein seltsames Gefühl, von außen um so eine Kuppel zu gehen, ganz anders als bei einem klassischen Turm. Kleiner Tipp: Egal, wie erschöpft du bist, lehne dich nicht an die Wand neben dir an.
Das Metall war glühend heiß.

Unser Räder übernachten in einer völlig überdimensionierten Garage.