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03 November 2022

Ems: Von Westbevern nach Salzbergen

Ems-Tag III

Die fremde Stadt des Fahrrads - Der Egal-Kanal - Angebaggert von einem Huhn  - Ein ungewöhnlich großzügiges Museum, sofern man das überhaupt als Museum bezeichnen kann - Was Sandlandschaften verschönert und was sie vorübergehend verhässlicht - Die Stadt der Handwerker - Fahrradfreunde und Fahrradfeinde - Der falsche Name - 1S - Massive Überinterpretation eines Weihnachtslieds - Noch mehr Megamühlen - Nebeluntergang

Ich war ganz besonders neugierig auf die Stadt Münster, denn das gilt ja quasi als das andere Göttingen, eine junge Fahrrad- und Studentenstadt, nur teurer. Da ich mich dort nur eine Stunde aufgehalten habe, kann ich mir natürlich nur ein begrenztes Urteil erlauben, wo es sich besser radeln lässt. Dieses begrenzte Urteil lautet: Gleichstand.
Ich habe den Eindruck, dass die Münsteraner deutlich platzsparender als die Göttinger sind - dabei haben sie in Münster eigentlich mehr Platz. Das Fahrrad-Parkhaus am Bahnhof wurde zum Beispiel kurzerhand unter die Erde verlegt.
Göttingen hat am Rande der Innenstadt sowohl einen Fahrradschnellweg als auch einen Spazierweg auf dem Stadtwall. Die Münsteraner haben beides kombiniert. Das Ergebnis lässt sich auf jeden Fall sehen, ich konnte die Altstadt superbequem umrunden.
Doch wer sich in einer Fahrradstadt von derartigen Prestige-Radwegen entfernt, sieht ein durchwachsenes Bild: Mal wird den Radlern eine extraflache Rampe aufgebaut, damit sie ein Kabel überqueren können, ein andermal ist der Radstreifen verblasst und übermalt.

Ansonsten sieht Münster ganz anders aus: Die Münsteraner haben ihre zerbombte Altstadt nach dem Krieg wieder aufgebaut, aber dabei handelt es sich nicht um schiefe Fachwerkhäuschen, sondern große graubraun aufragende Bürgerhäuser mit Arkaden und stufenförmigen Giebeln, die recht harmonisch in ähnlich gefärbte neuzeitliche Shoppingcenter übergehen.
Mir hat Münster durchaus gefallen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, komme ich gern mal wieder.

Münster liegt nicht direkt am Emsradweg, sondern am Dortmund-Ems-Kanal-Radweg. Der führt (wie der eine oder andere vielleicht schon vermutet) am Dortmund-Ems-Kanal entlang und verbindet (kaum zu glauben, aber wahr) Dortmund und die Ems.

Nördlich von Münster trifft der Dortmund-Ems-Kanal zum ersten Mal auf die Ems. (Spoiler: Nicht zum letzten Mal.)
Jetzt müsste doch eigentlich bald mal der Kanal kommen, oder... nanu? Sollte da nicht Wasser drin sein?


Nein, sollte es nicht. Das ist die Historische Kanalüberführung (links), die tatsächlich ganz schön historisch aussieht. Sie wurde 1899 gebaut, ähnelt aber mehr einer dieser mittelalterlichen Steinbrücken.
Inzwischen hat der Kanal eine moderne Überführung bekommen, damit er über die Ems rüberkommt. Dazu musste er seine Route ein bisschen verändern. Die alte Überführung überführt bloß noch Fußgänger und Emsradler. Wenig später überqueren die Radler auch den Kanal auf einer Brücke, die nicht nur deutlich weniger schön, sondern weniger angenehm zu fahren ist - weiße Bauzäune lassen nur einen winzigen Streifen zur Überquerung übrig.

An diesem Wendepunkt mündet die Werse und die Ems wechselt die Richtung. Sie fließt ab jetzt nach Norden und durch Niedersachsen. Naja, streng genommen ist das hier noch nicht Niedersachsen, aber in meinem Kopf gefühlt schon. Was wohl daran liegt, dass man hier überall mit dem Niedersachsen-Ticket hinkommt.

Im nächsten Dorf wird die Straße neu geteert. Das geht etwas langsam voran, da auf der Baustelle ausschließlich Hühner arbeiten.


Sand ist ein ständiger Begleiter der Ems. Immer macht mich die Karte auf Naturschutzgebiete oder Dünen aufmerksam und leitet mich da durch, damit ich auch mal was anderes sehe als Äcker. Die erste Sandschaft (die sogenannten Bockholter Berge) wurde gerade aufgebaggert und sah dementsprechend aktuell nicht so dolle aus. Die Baustelle soll die Bockhokter Baggerberge auf nicht näher erklärte Weise erweitern.

Auch an der Ems wurde irgendwas gebaut oder gestaut, so ganz habe ich das auch nicht verstanden. Die Baustelle bildet irgendwelche Erdhaufen-Inseln und lässt den Fluss breiter und wieder schmaler werden. Von der Uferpromenade in Greven konnte ich das genau sehen. Das ist ehrlich gesagt auch schon der interessanteste Anblick in Greven.
Die Uferpromenade brachte mich zum Schwimmbad. Hinter den Fenstern schwammen Leute, direkt darunter fand gerade ein Fußballspiel statt. In Greven tobt das Leben!

Die zweite Sandschaft (Wentruper Berge) bietet Büsche statt Bagger, das ist doch schon mal eine Verbesserung. Ein Meer stachliger Ranken hat den Boden um mich herum eingenommen, nur der Radweg ist frei.

Kurz darauf stieß ich auf einen kleinen Parkplatz mit einem Haus, dahinter scheint sich eine Art Freilichtmuseum zu erstrecken. Ein Mann kam gerade heraus, schließt es ab und fährt mit dem Auto weg. Sieht ganz so aus, als wäre dieses Museum, oder was auch immer das ist, geschlossen.
Oder?
Ich entdecke nirgendwo eine Absperrung oder ein Schild mit Öffnungszeiten oder so. Zögerlich betrete ich den Pfad. Als ich am Zaun vorbeikomme, bittet mich ein Schild, doch bitte alles pfleglich zu hinterlassen und keine Pflanzen aus dem Kräutergarten auszureißen. Sonst nichts.
Meine Karte sagt, dass ich mich auf dem Sachsenhof befinde. Die westfälischen Städte in der Gegend sind praktisch alle aus einem Hof entstanden. (Für das große Münster brauchte es mehrere Höfe.) Der Sachsenhof war die Keimzelle von Greven. In der Mitte stand ein großes Wohn- und Stallhaus für Menschen und Tiere. Rundherum liegen kleine Anlagen, wo die Sachsen alles mögliche gearbeitet haben. Ein extratiefes, halb in die Erde gebuddeltes Häuschen enthielt einen Webstuhl (weil die Feuchtigkeit gut zum Weben war, wusste ich auch noch nicht). Und das vorn im Bild ist so was wie ein erster Hochofen, um Eisen zu gewinnen.

Die Sachsen kamen so um das Jahr 500 hierher. Die Römer hatten damals schon Taxameter, während auf dem Sachsenhof noch nicht mal Pflüge benutzt wurden, das war für die schon zu viel Hightech. Wer den deutschen Rückstand in der Digitalisierung für schlimm hält, kann froh sein, dass er damals kein Sachse war.
Um den Hof zu bauen, mussten die Sachsen erstmal das Land erobern. Das war nicht so schwierig, denn hier lebte vorher quasi keiner. Wenn doch nur alle Eroberungen der Geschichte so friedlich verlaufen wären.
Dieser tiefe Frieden hat offenbar die Jahrtausende überdauert und liegt noch heute wie ein sanfter Schutzschirm über der Anlage. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso die nachgebauten Anlagen nicht von Vandalen (nein, nicht denen von der Völkerwanderung) verwüstet wurden. Man kann einfach so rein und sich anschauen, was da so alles nachgebaut, angepflanzt und an die Infotafeln geschrieben wurde. Auch ein Rastplatz für Radler gehört dazu. Solch ein aufwändiger Nachbau kostet sonst immer was.

Die Ems habe ich nur gesehen, wenn ich sie überquert habe. Das geschah ziemlich oft. Auf der Brücke schält sich meistens schon der Kirchturm des nächsten Dorfes aus dem Nebel. Einmal geriet ich in eine Geschwindigkeitsmessanlage, die mir 15 km/h bescheinigte.

Die nächste Stadt heißt Emsdetten. Weil der Ackerboden nicht viel hergibt, lebten da schon immer viele Handwerker. Die stellten sowohl Wannen, mit denen Getreide gesiebt wurde, als auch Polypropylen, mit dem der Reichstag verhüllt wurde, her. (Zugegeben, dazwischen lagen ein paar Generationen.)
Der Radweg hat mir allerdings nichts von der Stadt gezeigt, sondern nur das Naturschutzgebiet der Emsauen. Von der Ems ist da kaum was zu sehen. Sie fließt in einigen Metern Abstand und ist total zugewachsen.
Früher gab es hier keine Brücken, sondern sieben Fähren. Manche gehörten der Gemeinde, andere der Kirche. 1953 wurde die vorletzte Fähre stillgelegt, weil sie total abgewrackt war und keiner mehr damit fahren wollte. Den Bewohnern des Emslands scheinen ihre alten Fähren sehr wichtig zu sein: An der ganzen Ems gibts ungewöhnlich viele Hinweistafeln, die erklären, was für Fähren hier früher fuhren.

Die nächste Brücke sieht besonders eindrucksvoll aus. Da steige ich doch gern ab und schiebe ein bisschen, um sie zu bewundern.

Die Brücke entlässt mich in die dritte Sandschaft (Elter Dünen), die mit seltsamen Industrie-Ruinen und einer erstaunlich großen Heidefläche am interessantesten ist.

Hier befindet sich die letzte der sieben Fähren, die heute noch fährt - zumindest in den Sommermonaten, momentan ist sie im Winterschlaf. Schade. Wobei, ich wäre eh nicht damit gefahren, denn am anderen Ufer ist weder der Emsradweg noch sonst irgendwas. Aber immerhin ist das die einzige handbetriebene Fähre auf der Ems, wär schon interessant zu sehen, wie die fährt.

Erst Heide, und jetzt auch noch eine militärische Sperrzone? Bin ich etwa wieder bei der Emsquelle gelandet?
Ganz wichtig: In dieser Sperrzone darf auf keinen Fall gepinkelt werden. Ein Zusatzschild erweitert das Pinkelverbot auch für Frauen. Man könnte dabei Munition treffen.

In den westfälischen Städten sind die Fahrradstreifen komplett zugeparkt. So extrem habe ich das selten gesehen. Die Nähe zur Fahrradstadt Münster hat offenbar keine große Ausstrahlungswirkung.

Die größte und wohl auch schönste Stadt auf diesem Abschnitt heißt Rheine. Die Altstadt besteht vorwiegend aus graubraunen Sandsteinhäusern, quasi ein kleineres Münster. Die Hase-Ems-Tour verbindet Rheine mit Osnabrück.
Ich weiß auch nicht, wer auf die glorreiche Idee gekommen ist, eine Stadt an der Ems Rheine zu nennen, aber welch ein Glück, dass dieser Typ nicht noch mehr Städte benannt hat. Sonst hieße Fulda wahrscheinlich Donauwörth.
Andererseits: Emse gibt auch nicht wirklich einen tollen Namen ab. Das klingt eher nach irgendeiner abwertenden antiquierten Bezeichnung für Frauen.

Auch Rheine hat einen Uferweg, diesmal ist der aber deutlich urbaner. Ich bin an einem Shoppingcenter vorbei- und unter der Fußgängerzone durchgeradelt. Dort fand bereits der Weihnachtsmarkt statt. Mit den Weihnachtsmärkten ist das in diesem Jahr bekanntlich etwas schwierig. In Rheine hat man sich ein ganz besonderes Corona-Konzept einfallen lassen: Hier gilt nicht etwa 3G oder 2G, sondern 1S. Heißt: Der Weihnachtsmarkt besteht aus einem einzigen Stand. Dieser steht auf der Brücke über der Ems und verkauft in Baileys-Likör gebrannte Mandeln, die im Umkreis von 18,7 Kilometern extrem verführerisch duften. Was auch erklärt, warum trotzdem fast so viele Leute herumliefen wie auf einem normalen Weihnachtsmarkt.
Die Ludgerusbrücke war lange Zeit die einzige Brücke der Stadt und zugleich wichtigster Schutz (bei einem Angriff leicht zu verteidigen) und Einnahmequelle (Zoll). Erst 1828, als beides nicht mehr so richtig funktionierte, traute sich zum ersten Mal jemand, ein Haus am anderen Ufer zu bauen.

Auf der Brücke spielte ein Mann Harfe. Wie schafft er das, ohne dass ihm die Finger abfrieren? Seine melancholische Melodie berührte irgendwas in mir. Auf einem gewöhnlichen Weihnachtsmarkt wäre diese Musik eher unpassend. Aber das ist kein gewöhnlicher Weihnachtsmarkt, kein gewöhnliches Weihnachten und kein gewöhnlicher Winter. Schon wieder, obwohl sich viele etwas anderes erhofft hatten. Und dieselbe europäische Novemberkälte, die mich trotz fünf Kleidungsschichten frösteln lässt, tötet in diesem Moment an unseren Grenzen Menschen. All das scheint in dieser Melodie mitzuklingen.
Wobei ich nicht weiß, ob der Harfenspieler das wirklich alles mitklingen lassen wollte. Wahrscheinlich nicht.

Hinter Rheine strömt die Ems durch eine ganz besonders große Mühle. Von den Mühlrädern ist nicht wirklich was zu sehen, aber an der Stelle, wo sich der Mühlenkanal wieder mit dem Hauptfluss vereint, entstehen ganz schön heftige Stromschnellen.

EMSSPORT verkünden die Buchstaben auf diesem komischen Käfig. Ich habe ja schon allerhand Trimm-Dich-Pfade und Freiluft-Fitnessgeräte in Parks gesehen - aber was bitte soll man in dem Kasten für Sport machen? Und warum steht davor ein Trampolin, das nicht elastisch ist?
Neugierig fahre ich heran - und stelle fest, dass ich mal wieder alles falsch verstanden habe. Es handelt sich um die Utensilien einer vergessenen Sportart, die sich nie durchgesetzt hat. Was daran liegt, dass es sie nie gab. Das ist ein Kunstwerk, das gegen krampfhafte Fitness und Leistungssport in der Freizeit gerichtet ist. Eine Botschaft, die ich voll und ganz unterstütze. Und jetzt schnell weiter, ich will heute unbedingt noch die 70 Kilometer nach Salzbergen schaffen!

Nördlich der Stadt bin ich ich an einem Kloster vorbeigefahren. Die Mönche hatten ihre eigene Saline und nannten sie Gottesgabe. Direkt dahinter folgt die Grenze von NRW nach Niedersachsen.
Die Felder und Wälder haben mich immer wieder an den zweiten sommerlichen Ems-Tag erinnert. Ein Asphaltweg schlängelt sich geschmeidig durch diese Landschaft.
Die Bäume befinden sich inzwischen fest in der Hand des Novembers - die meisten sind grau, ein paar andere noch orange.


Aber, was zum Geier, auf manchen Feldern scheint immer noch Sommer zu herrschen! Ich habe immer noch strahlend gelbe Rapsfelder, blau blühende Kornblumen und grasgrünen Rasen gesehen. Zwar deutlich weniger als während der letzten Tour, aber trotzdem nicht wenig.
Auf dem letzten Aussichtsturm des Tages hatte ich einen eigenartigen Blick: Auf dem einen Ufer herrschte Sommer, auf dem anderen Herbst.

Ein Landwirt erntete noch sein Getreide ab und schoss es in einem goldenen Strahl aus dem Mähdrescherrohr in einen Container.
Zielstrebig radelte ich auf Salzbergen zu und rechnete schon damit, den Sonnenuntergang am Horizont zu sehen. Doch es gab keinen Sonnenuntergang. Überhaupt nicht. Dafür war der Himmel einfach zu feucht. Stattdessen übernahm der Nebel die Aufgabe, den langsamen Übergang zur Dunkelheit zu überbrücken - er senkte sich über das Land und schien alles Licht aus der Landschaft herauszufiltern.
Ausgenommen natürlich künstliches Licht. Wobei ich diesbezüglich nicht viel zu bieten habe. Mist, mein Vorderlicht ist schon wieder kaputt.

Macht nichts, ich bin ja eh gleich in Salzbergen. Das Zifferblatt der Kirchturmuhr leuchtete mir entgegen und verriet mir, dass der nächste Zug sogar früher kommt als der Sonnenuntergang.
Die Stadt selbst ist ziemlich schmucklos, aber die Kirche ist ein Prachtbau aus strahlenden Spitzbögen.
 

Zufrieden schob ich mein Rad an der dekorativen Dampflok vorbei eine superangenehme Fahrradrampe hinunter und nahm mir schon vor, ein paar lobende Worte über diesen kleinen Bahnhof zu verlieren - da sah ich, dass die zweite Treppe zum Bahnsteig wieder nur mit diesen nutzlosen 0,2 Millimeter breiten Rampen am Rande der Treppe ausgestattet war. Dann also doch keine lobenden Worte. Stattdessen tadelnde. Die ich hiermit geschrieben habe.

05 September 2010

Luhe: Von Winsen nach Schneverdingen

Lüneburger Elbnebenfluss #2: Die Luhe


Der zweite Heidefluss ist landschaftlich der interessanteste, allerdings auch am schlechtesten mit der Bahn erreichbar, nur kurz vor der Mündung gibts einen Bahnhof. Auf dieser vergleichsweise dünn besiedelten Route quer durch die mittlere Lüneburger Heide gibts keine Möglichkeit, in die Bahn auszusteigen. Wer mit dem Luheradweg beginnt, der muss da durch.

Die Luhe endet fast an derselben Stelle wie der erste Fluss: Kurz vor der Elbe fließt sie zwischen dicken Hecken in die längere Ilmenau rein, in der Nähe vom des Dorfes Stöckte.

Es folgt ein wunderbarer Deichradweg. Hinter dem Deich liegen ein paar schilfgedeckte Dorfhäuser, auf der anderen Seite erstrecken die Auen der Luhe. Die Mündung und diese paar Kilometer habe ich schon auf der Ilmenau-Tour gesehen, als ich am Bahnhof von Winsen gestartet bin.

Deswegen bin ich diesmal gleich von Winsen nach Süden geradelt.
Zwischen den Winsener Backsteinhäusern zwängt sich der Luhekanal hindurch. Ein Kanal durch die Innenstadt, über den sich die Stadtbewohner vorübergehend ein bisschen Wasserkraft schnorren - das kenne ich schon von vielen niedersächsischen Städten.


Das Zentrum und Highlight von Winsen ist der Schlosspark.


Dort beginnen fantastische Flusswege durch ausgesprochen ansprechende Auenlandschaften.

Aber solche tollen Wege gibts an kleineren Flüssen meistens nur innerhalb der Ortschaften. Sobald ich das Gebiet von Winsen verlassen hatte, bin ich zwischen Äckern, Autobahnen und Dörfern durchgegurkt. In Luhdorf lösen sich die Fahrradstreifen langsam auf.

Über der Luhe hängen Slalomstangen für Kanufahrer. Sie scheint ein besonders beliebter Paddelfluss zu sein, denn die Karte ist übersäht mit eingetragenen Kanu-Einstiegsstellen.


Auf diesem Abschnitt nennt sich die Luhe noch Luhekanal, und genau so sieht sie auch aus. Das meine ich nicht negativ, wie so viele Kanäle bietet der Luhekanal Radfahrern eine schöne, gerade Allee.

Der Übergang vom Deichland in die Lüneburger Heide erfolgt nicht so plötzlich wie an der Ilmenau, sondern sanfter durch die Park- und Kanallandschaft rund um Winsen, auf der sich die Bäume immer mehr zum Wald verdichten. Naja, vielleicht lag es auch daran, dass ich diesmal damit gerechnet habe.

Hinter der ersten Waldkette liegt Salzhausen, eine Gemeinde mit den üblichen historischen Heide-Bauernhäusern und drei merkwürdigen Türmen. Merkwürdiger Turm Nr. 1 ist ein Feuerwehrschlauchturm aus dem Jahr 1870. Ich habe ihn zuerst für einen Solebohrturm gehalten, das würde ja auch zum Ortsnamen passen.

Merkwürdige Turm Nr. 2 ist der Johanniskirchturm, der mit Übergewicht und einer goldenen Uhr im dänischen Stil ins Auge sticht.

Merkwürdiger Turm Nr. 3 ist der Paaschbergturm. Der jüngste der drei merkwürdigen Türme besteht aus Holz und steht, wie der Name verrät, auf dem Paaschberg. Dieser hohe Hügel ist übersät mit Waldwegen, in alle vier Himmelsrichtungen. Sie sehen sich derart ähnlich, dass ich vier Anläufe brauchte, um den Weg zurück zu meinem Fahrrad zu finden.

Durch seine Lage überragt er die anderen beiden Türme bei Weitem. Nachdem ich sämtliche Treppenstufen des Hügels und des Turms bewältigt hatte, konnte ich mich umsehen - und es sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Salzhausen befindet sich nicht in einem langgestreckten Luhetal, es sah eher nach einem runden Ring aus Hügeln und Wald aus, der die Gemeinde umschließt. Wo genau die dünne Luhe da rein- und rausfließt, konnte ich nicht sagen. Es herrschten auch keine optimalen Sichtverhältnisse.

Ab jetzt besteht der Luheradweg vorwiegend aus Zickzack-Waldwegen. Weil die meistens gar nicht an der Luhe entlangführen, habe ich mir einen Großteil davon auf der Straße abgekürzt. Die Hauptstraßen haben in der Lüneburger Heide meistens Radwege. (Oder hat sich das mittlerweile generell in Deutschland verbessert?) Natürlich habe ich die Straße verlassen, wenn es etwas Interessantes zu entdecken gab.

Die Oldendorfer Totenstatt fällt ganz sicher in die Kategorie Etwas Interessantes - allein schon deshalb, weil hier Heidekraut wächst. Heideflächen direkt an der Luhe gibts ausschließlich in Kombination mit uralten Friedhöfen. Vor mehr als 4000 Jahren hat man angefangen, hier tote Menschen zu vergraben, und erst so 2500 Jahre später hat man damit aufgehört. Dieser Friedhof war länger in Betrieb, als das Christentum existiert (und sehr viel länger, als mein Campingkocher in Betrieb war, der mir hier mitteilte, sein Gas sei alle und ich müsse bestenfalls lauwarme Nudeln futtern oder verhungert auf der Totenstatt begraben werden).

Anfangs verwendeten die Oldendorfer Steinzeitmenschen langgestreckte Hünenbetten (für extragroße Tote oder solche, die für die Nachwelt extragroß erscheinen wollten) und ovale Grabhügel, in der Jungsteinzeit dann runde Steingräber. Ihr Eingang ist mit großen und kleineren Steinchen zugemauert. Die Leute stellten ihren Omas und Uropas dort gern was zu essen hin und fragten sie um Rat. Gleichzeitig machten ihnen die Toten auch etwas Angst, und sie wollten gern eine Barriere haben, damit die Seelen nicht nach drüben ins Dorf wandern und die Großtante wie schon zu Lebzeiten herummeckert, was man alles falsch macht. Und wie schützt man sich am besten vor griesgrämigen Geistern, bevor die Ghostbusters erfunden wurden? Richtig, mit Fließgewässern.

Zum Glück liegen zwei davon gleich um die Ecke, denn hier fließt die Lopau in die Luhe. Die Luhe ist also nicht nur ein Fluss, sondern auch ein Geisterschutzwall. Sie beschützt das Dorf Oldendorf auf der anderen Seite.

Die Lopau hingegen beschützt einen Hügel, auf dem zwei schicke spitze Kirchen aufragen - schon wieder mit so einer dänischen Uhr. Das ist Amelinghausen. Es liegt oberhalb der Lopau und dem Lopausee, von der Luhe ist also ein steiler Umweg nötig.

Die Luhe bildet unterdessen ein paar spritzige Stromschnellen - ausgerechnet hier, wo vor tausend Jahren die Händler auf dem Weg von Hannover nach Lüneburg hurtig durch Wasser furten mussten.

Was ist sonst noch typisch Luhe außer Heide-Grabstätten und Kanu-Einstiegsstellen? Wassermühlen, die gibts auch noch. Sodersdorf hat sogar zwei dieser typischen Sachen: eine Grabstätte (die sich hier ganz seriös Nekropole nennt) und eine Mühle. Die gehört seit 1650 derselben Familie und steht zusammen mit einem schiefen Backhaus auf einer Insel, die von einem künstlichen Luhearm umschlossen wird. Bis 1960 drehte sich das Mühlenrad, seitdem rauscht das Wasser einfach nur so zwischen den Brettern durch.
 

Nun wartet eine weitere Besonderheit abseits der Hauptroute. Da ich schon den Ausflug nach Amelinghausen gemacht hatte, fragte ich mich: Soll ich jetzt wirklich noch einen 5-Kilometer-Umweg machen? Und Gott sei Dank entschied ich mich dafür. Auf diesem Umweg sah ich das Erstaunlichste, das diese Tour zu bieten hat.
Hier sprudelt der Schwindebach aus dem Boden, ein Zufluss der Luhe. Die Schwindebachquelle schillert in exotischen Farbtönen, die sich vom Wald drumherum abheben, als käme sie von einem anderen Planeten. Wächst hier eine orangefarbene Alge? Nee, das orange Zeug fühlt sich nach nichts an, es hat keinerlei Festigkeit. Die Farbe entsteht, wenn kaltes Wasser mit Eisen drin aus dem Boden sprudelt, auf warmes Wasser trifft, zusätzlich Eisenbakterien am Eisen rumknabbern und es so oxidiert. Das heraussprudelnde Wasser ist indirekt daran zu erkennen, dass es türkisfarbenen Sand zu nach oben wirbelt - nicht "explosionsartig", wie es die Hinweistafel behauptet, sondern in einer sich langsam und endlos ausdehnenden Wolke - "ein fast schon hypnotischer Anblick, finden sie nicht?" Ja, in dem Punkt muss ich der Hinweistafel vorbehaltlos zustimmen. Etwas ähnliches habe ich allenfalls bei der Donauquelle gesehen, aber im Vergleich hierzu kann die Donau nur blubbern wie ein defekter Whirlpool.
Solche Wolken treten an vielen Stellen unter den Baumwurzeln hervor, sodass eine ganze Menge Wasser zusammenkommt, bis die Mulde überläuft und sich in den Bach nebenan ergießt - eine Tümpelquelle nennt sich das, eine seltene Quellenart.
Der Wassermenge nach ist die Schwindebachquelle nach der Rhumequelle am Harz die zweitgrößte Quelle Niedersachsens. Die Rhumequelle hat mich aber längst nicht so beeindruckt, und eigentlich auch keine andere der zahlreichen Quellen, die ich schon gesehen habe. Wenn man wirklich nur die Quelle an sich betrachtet (also nicht die landschaftliche Kulisse drumherum), ist das die schönste und außergewöhnlichste Quelle, die ich kenne.

Um den Umweg ein bisschen auszugleichen, bin ich dann der geraden Hauptstraße gefolgt. Sie führt durch ein Dorf, das aus den üblichen Heide-Bauernhäusern und holzgeschnitzten Figuren besteht. Es heißt Hützel. Bisher kannte ich Hützel nur aus einem Dieter-Hallervorden-Sketch:
"Woher kommen Sie?"
"Hützel."
"Wo ist denn das?"
"In der der Nähe von Hatzel."
"Aha."
"Landkreis Hotzel."
 "..."
"Lüneburger Heide."
"Ach soo..."
Ich hätte nicht gedacht, dass Hützel wirklich existiert.

Die letzte (offiziell erste) Stadt am Luheradweg ist Bispingen. Auch dieses Städtchen hat ein nettes Zentrum mit historischen Bauernhäusern, zwei Kirchen, Parkanlagen und allem Drum und Dran, doch dafür ist die Stadt nicht bekannt.
Mittelpunkt Bispingens ist die kleine Statue eines Heideschäfers, die an die Vergangenheit erinnert. Als Schäfer lässt sich heute nicht mehr so viel verdienen, weshalb Bispingen auf andere Geldquellen zurückgreift.

Schon am Ortseingang ist zu sehen: Bispingens ist eigentlich ein Heide-Erlebnisresort, dessen wahrer Reichtum in den Außenbezirken entsteht. Ich bin zuerst an einer der vielen Reitkoppeln vorbeigefahren, dann an einer wilden BMX-Fahrrad-Strecke und einem Schwimmbad. Nicht gesehen habe ich das Abenteuerlabyrinth, das Kopfüber-Haus, die Skihalle und die CenterParcs-Ferienanlage, die an sich schon zig verschiedene Erlebnissachen beinhaltet. All diese Dinge sind um Bispingen verteilt.

Südlich von Bispingen bin ich wieder in einen Wald eingetaucht. Auf der einen Seite rauschen Güterzüge und eine Autobahn, auf der anderen konnte die Schleifen der Luhe anhand der Bäume erkennen - bis es auf einmal nicht mehr konnte. Ich fuhr unter einer größeren Straße hindurch und auf der anderen Seite war kein Fluss mehr zu sehen. Habe ich etwa die Quelle verpasst?

Dieser Abenteuerspielplatz ist auch noch Teil des Bispinger Erlebnisprogramms.

Da ist ja die Luhequelle! Oder auch nicht, denn der Teich neben dem entsprechenden Schild ist leer.

Das ist aber nur der erste von drei Teichen, die zusammen irgendwie die Quelle bilden. Da drüber liegt Teich Nr. 2, und der ist voll. Wie genau die Teiche verbunden sind, weiß ich nicht.

Teich Nr. 3 ist halbvoll.
Das Wasser verschwindet gleich wieder unter der Erde und taucht erst später auf - eben dort, wo ich die Luhe im Wald verloren hatte. Deshalb wurde erst vor 100 Jahren entdeckt, dass das hier die Sickerquelle der Luhe ist. Damals war die Quelle von Heide umgeben, wie eine schöne Grafik auf der Infotafel zeigt. Heute ist alles aufgeforstet.
Die Quelle ist also schon ein bisschen ungewöhnlich und der Fläche nach sehr großzügig (nur die Rheinquelle ist noch größer). Gegen die Schwindebachquelle kann sie freilich nicht anstinken.

Obwohl mich seit Amelinghausen ein Gleis begleitet, fährt hier kein normaler Personenzug. Nur Güterzüge rumpelten vorbei, und an manchen Tagen im Sommer bummelt eine Museumsbahn nach Lüneburg. Der nächste richtige Bahnhof liegt 19 Kilometer entfernt in Schneverdingen am Wümmeradweg. Offiziell gehört diese Strecke nicht zum Luheradweg, aber eigentlich schon. Der Luheradweg ist ja keine Rundtour, also müssen sogar diejenigen, die mit dem Auto anreisen, mit der Bahn zum Startpunkt zurück
Meine Reaktion darauf: Och nö. Als ich auf dem Weg fuhr, wurde daraus jedoch ein: Oh, wow! Denn die straßenbegleitenden Radwege führen durch einen dichten dunkelgrünen Nadelwald, der alle Wälder an der Luhe alt aussehen lässt. Er türmt sich zu Hügeln auf, die aus der Ferne fast wie Sprungschanzen aussehen. Vor allem aber merkte ich, dass ich mich dem Herzen der Lüneburger Heide näherte, denn das Heidekraut wächst am Wegesrand und sogar in der Mitte der Kreisverkehre, bis der Weg am Ende die große Heidefläche von Schneverdingen durchquert.