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23 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Hirschberg nach Oberzech

Die Bergbayerngrenze IV

Länge: 34,5 km (+12,5 km Saale +20 km nach Aš)
Grenzquerungen: 6
Bundesländer: Bayern/Thüringen/Sachsen/Tschechien (Karlsbader Region)
Seite: etwas mehr Ost als West
Erkenntnis: Die letzte Etappe wird aktuell noch fertiggebaut.

Finale! Mal sehen, was es auf den letzte Kilometern des Grünen Bands noch so zu entdecken gibt. (Verdammt viel, wie sich herausstellt.)
Erst einmal gibt es die Saale zu entdeckenden letzten großen Grenzfluss des Grünen Bands.

Hinter der Saalegrenze geht Deutschlands Rückgrat weiter - auf und ab wellt sich die Straße, wenn auch etwas weniger auf und ab als gestern. Diese Region nennt sich Vogtland und ragt in drei Bundesländer hinein. Ach, guck an, da ist ja doch noch eine Kaserne.

Doch das ist nichts gegen die Überraschung, die hinter der nächsten Hügelkuppe wartete. Durch das gesamte Tal zog sich wie ein klaffender, verrosteter Strich, ein gewaltiger Zaun. Ist das... der Grenzzaun? So lang? Moment mal, da hinten geht er ja immer noch weiter, bis ins Dorf rein.

Das Dorf heißt Mödlareuth, die Amerikaner nannten es allerdings Little Berlin. Dieser Spitzname passt hier sogar noch besser als in Zicherie-Böckwitz, schließlich ist das wirklich ein einziges, einheitliches Dorf. Es hat sogar denselben Namen, ganz ohne Bindestrich.
Trotz dieser Einheitlichkeit wurden 1810 Grenzsteine am Tannbach verlegt, die das Dorf zwischen Thüringen und Bayern aufteilten. Seitdem hat Mödlareuth zwei Postleitzahlen, zwei Bürgermeister, zwei Landkreise und zwischendurch sogar zwei Wirtschaftssysteme.

Und heute hat das Dorf den längsten, aufwendigsten Nachbau der Grenzanlagen an der kompletten innerdeutschen Grenze. Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht, dass auf den allerletzten Kilometern noch die Anlage in Hötensleben getoppt wird.
Ich konnte mir das Ganze jedoch nur aus der Ferne ansehen, denn: An der Anlage wurde noch gebaut, Arbeiter verlegten die letzten Steinplatten, alle Zugänge waren mit Bauzäunen versperrt. All die neuen Infotafeln und Wege sahen aus wie aus dem Ei gepellt. Das wunderte mich, denn die Grenzzäune schienen mir alles andere als neu zu sein. Wahrscheinlich stand da schon vorher eine Gedenkstätte und es war nur an der Zeit, alles von Grund auf zu sanieren. Die werden ja wohl kaum die alten Zäune 30 Jahre lang mitten im Dorf stehengelassen haben, um erst dann zu überlegen, was man draus machen könnte. Schließlich wollten die meisten Menschen diese dunklen Erinnerungsstücke am liebsten direkt verschwinden lassen. Auch deshalb finde ich diese gigantisch geratene Gedenkstätte überraschend - ist das denn schön für die Einwohner, wenn sie morgens aus dem Fenster gucken und alles sieht fast so aus wie damals?

Über die Grünanlagen hinweg erspähte ich praktisch all das Zeug, das ich bisher am Grünen Band gesehen hatte, an einem Ort versammelt, sogar alte Panzer und Mauern. Mit einer Ausnahme: Es fehlt der typische rechteckige Grenzturm. In die Grenzmauer ist ein komischer halber Beobachtungsturm eingebaut. Ansonsten hatten die Soldaten von Mödlareuth anscheinend bloß die dünnen, runden Billigtürme ohne Heizung. Zumindest bekamen sie im Winter mobile Elektroheizkörper, damit für "Frostsicherheit" gesorgt war.


In Mödlareuth stehen also die letzte große Outdoor-Gedenkstätte und das letzte Indoor-Museum. Als nächstes folgen das letzte innerdeutsche Dreiländereck und das letzte Bundesland. Dazu verlässt die Radroute die Straße und folgt einem Pfad entlang eines Bachlaufs.
Auf dem Bächlein wurde eine imposantes Dreieck aus Pflastersteinen installiert. Obendrauf thront der Dreifreistaatenstein, ein altes Stück Grenzmarkierung in neuer Umgebung. Dieses Gestaltungskonzept hat bei einem Studentenwettstreit gewonnen - zu Recht, diese dreieckige Mischung aus Natur und Pflaster hat was.
An diesem Stein treffen die einzigen drei Bundesländer aufeinander, die sich als Freistaaten bezeichnen. Warum Sachsen, Thüringen und Bayern das machen, weiß keiner so richtig - Freistaat ist einfach nur ein anderes Wort für Republik, in der Weimarer Republik haben sich die meisten Reichsländer so genannt. Manche Sprachpuristen bevorzugen das Wort, weil Republik aus dem Lateinischen kommt und diese verdammten Latinismen unsere schöne deutsche Sprache verhunzen. Aber eine solche Begründung ist vermutlich nicht mal aus Sicht der CSU zeitgemäß.
Sachsen und Bayern hatten hier schon lange eine gemeinsame Grenze. Zumindest ungefähr hier. Wo genau, war umstritten. Um dieses Problem zu lösen, stellte man 1840 den Grenzstein auf, der damals noch Dreiherrenstein genannt wurde.

Anschließend bin ich auf einem gut befahrbaren, sächsischen Kolonnenweg zwischen Windrädern zur Straße zurückgekehrt. Der zweisprachige Wegweiser übersetzt bereits das Wort Kolonnenweg ins Tschechische (Signálka).
Das Grüne Band besteht hier aus einem sogenanntem Offenlandbiotop. Würde man das einfach wachsen lassen, entstünde daraus irgendwann ein Wald. Dann kämen die gefährdeten Arten des Offenlands, die im Kalten Krieg eingezogen sind, aber nicht mehr so gut klar. Deswegen werden die Pflanzen ab und zu vorsichtig gemäht. Das Grüne Band wurde sogar nachträglich verbreitert, nachdem der Vogtlandkreis ein paar private Feldflächen aufgekauft hat.
Auch der KfZ-Sperrgraben hat in diesem Biotop eine wichtige Funktion: Füchse und Dachse verstecken sich darin.

Hm, wenn das hier Sachsen ist, dann grenzen ja ausnahmslos alle neuen Bundesländer an den ehemaligen Eisernen Vorhang. (Sogar Ostberlin grenzt ja an die Berliner Mauer.) Der sächsische Abschnitt ist aber echt kurz, gerade mal 3 % des Grünen Bands (wobei allein auf diesen 3 % mindestens 11 Menschen starben) bzw. etwa 26 Kilometer Radweg verlaufen an der sächsischen Grenze.
Selbst die grausamste Grenze der Welt scheint Berührungsängste mit diesem Bundesland zu haben.

Okay, okay, ich will jetzt keine 26 Kilometer Sachsenbashing betreiben. Aber wie soll ich das hinkriegen, wenn das erste sächsische Dorf verflixt nochmal Grobau heißt?
Vielleicht, indem ich zugebe, dass Grobau echt nett aussieht. Vor allem die Eisenbahnbrücke quer durchs Dorf ist ein prächtiger Anblick. Ich freue mich schon, darauf nachher mit der Bahn heimzufahren.

In Gutenfürst passieren die Züge dann den letzten Grenzbahnhof der Innerdeutschen Grenze. Allerdings fuhren hier bloß Interzonenzüge von München nach Westberlin. In der DDR durfte niemand aussteigen, nur die Grenzer verließen in Gutenfürst den Zug.
Auf dieser Strecke düsten auch die Sonderzüge nach Hof für jene 4500 Flüchtlinge, welche die Westdeutsche Botschaft in Prag besetzt hatten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Die DDR war am Ende eingeknickt und ließ sie raus - aber nur, wenn die Züge noch einmal den Bogen über DDR-Gebiet machen, schließlich könne ja nur die DDR die Menschen aus ihrer Staatsbürgerschaft entlassen.

Noch etwas Letztes gefällig? Wie wäre es mit dem letzten Grenzturm? Moment mal, ist da etwa die Tür offen? Ungeduldig biege ich auf einen miesen Kies- und Kolonnenweg ab. Kann das wahr sein - auf den letzten Kilometern Innerdeutsche Grenze gibt es doch noch einen Grenzturm, wo ich so richtig reingehen kann?
Nö, kann es nicht.
Jedenfalls noch nicht. Aus der offenen Tür ertönten fröhliche Popmusik, im ersten Stock wurde lautstark gebohrt, Werkzeug und Steinstaub lagen herum. Dieser Turm wird erst noch besucherfertig gemacht. Hoffentlich ist er dann auch allgemein zugänglich, zumindest über ein Drehkreuz wie der Bayernturm.

Gleich nebenan verläuft eine Autobahn. Ein Flüchtling versuchte sich an ihrem Verlauf zu orientieren. Gegen die tödlichen Selbstschussanlagen half das allerdings nicht.

Der Weg kurvt auf und ab durch grüngelbe Felder, versteckte Täler und Schluchten. Es ist alles superidyllisch, und doch wäre ich allmählich gern am Ziel, denn meine Waden sind nach vier Tagen intensivem Gestrampel allmählich nur noch so mittemäßig motiviert.
In einem verlassenen Löwenzahntal entdeckte ich den letzten Streckmetallzaun der Strecke - im Wasser. Reste des Eisernen Vorhangs dienen heute als Fischzaun.

Zum Schluss bin ich nochmal ganz kurz nach Bayern hinübergefahren. Ah, da vorne muss es eigentlich schon sein, auf dieser Hügelkette... verdammt, die Kette! Muss die Fahrradkette ausgerechnet jetzt abspringen? Aua, warum ist das Ding auch noch so messerscharf?
Gut, jetzt aber: Da oben muss es sein. Auf der letzten Hügelkette warten die Holzscheunen des Dorfes Oberzech.

Ich entschied mich für eine Abkürzung durchs Dorf, die mir meine App vorschlug. Als ich an der Seite der Dorfstraße herauskam, sausten plötzlich gleich fünf E-Biker auf der Zielgeraden vorbei. Nanu, die ganze Zeit waren die Straßen leer - wo kommen die auf einmal her? Und muss ich jetzt eine La-Ola-Welle für die machen?
An der nächsten Ecke wies mich der Wegweiser Dreiländereck in den Sumpf. Doch bis zu besagtem Eck sind noch ein paar Hindernisse zu überwinden. Heutzutage zwar keine tödlichen, aber doch welche, die einen Radfahrer effektiv ausbremsen: Ein hölzernes Drängelgitter, ein Weg aus Rindenmulch, vorbei am Grab eines unbekannten deutschen Soldaten, dann eine hölzerne Brücke, noch mehr Rindenmulch, noch eine Brücke...
Das komplette Dreiländereck ist durchzogen von den klaren Windungen der Südlichen Regnitz (die später in die Saale mündet), und im Frühling findet man kaum einen besseren Ort für einen sonnigen Spaziergang. In diesem Bach gab es früher den größten Bestand an Flussperlmuscheln in Mitteleuropa. Im extrem heißen Sommer 1947 starben viele Muscheln ab, aber ein paar überlebten, und die Kinder und Enkel (immerhin können sie 50 Jahre alt werden) der Muscheln wuscheln noch heute durch den Grenzbach. Es sieht hier ganz anders aus als an der Ostsee, aber zumindest die Muscheln haben der Anfang und das Ende der Innerdeutschen Grenze als gemeinsamen Nenner.

Aber gehen wir noch ein Stück in der Zeit zurück: Vor langer Zeit galt das schwer zugängliche Terrain als Niemandsland, und die Grenze war eher ein breiter Streifen als eine Linie. Als das Land immer weiter besiedelt wurde, schrumpfte der Streifen zusammen, bis man 1844 die Grenze endgültig festlegte und die Muscheln zum ersten Mal gestört wurden. Sie lagen jetzt im Grenzgebiet von Österreich-Ungarn (zu dem Tschechien damals gehörte), Sachsen und Bayern (die noch eigene Staaten waren). Zu der Zeit war im Eck ordentlich was los, es gab regen Grenzverkehr zwischen den drei Staaten.
Vom Kalten Krieg kann man das natürlich nicht sagen. Auf einmal lag in diesem friedlichen Tälchen das Dreiländereck zwischen BRD, DDR und ČSSR (die Tschechoslowakische Sozialistische Republik). Die Grenzanlagen der DDR gingen in die tschechoslowakischen über. Ob es wohl leichter war, den Bogen über Tschechien zu schlagen und statt einer scharf gesicherten Grenze zwei etwas weniger scharf gesicherte zu überwinden? Ein DDR-Bürger probierte es 1986 auf diesem Weg und hatte Erfolg.
Heute ist der Punkt, international gesehen, nur noch ein Zweiländereck aus Tschechien und Deutschland (Bayern/Sachsen). Ohne Zweifel jedoch ist es ein Eck: Dies ist die Stelle, an der die Spitze Tschechiens weit nach Deutschland hineinragt, der vielleicht auffälligste Punkt, wenn man Deutschlands Umriss auf einer Landkarte anguckt.
Wie markiert man einen solchen Punkt? Die Tschechen haben ihr obligatorisches, ovales Česká-Republika-Schild hingestellt, das man überall an der tschechischen Grenze findet. (Hier ist es deutlich sauberer als am Elberadweg.) Die Deutschen machen es etwas nüchterner mit STAATSGRENZE auf einem weißen Rechteck. Doch das echte Dreiländereck befindet sich in einem grünlichen Ausläufer des Bachs. Ein neuer, dreieckiger Stein ragt aus den Algen und zeigt zweisprachig und übersichtlich an, dass zum Beispiel die Kühe dort hinten zu Sachsen gehören (und vermutlich Müh machen). Daneben stehen noch historische Grenzsteine mit rätselhaften Ziffern, deren Bedeutung ein tschechischer Grenzstein-Nerd auf einer eigenen Infotafel erläutert.

2013 flutete ein schweres Hochwasser das Eck, nur die Bäume und die Spitzen der Grenzsteine guckten hilflos aus den Wassermassen.
Am Ende eines langen Stegs musste ich das Rad schließlich die Schieberinnen einer Treppe hinaufhieven. Erst dann hieß mich der gelbe Wegweiser so richtig in Tschechien willkommen.

Zugegeben, die Tschechen machen es den Radlern nicht zu leicht, ihr Land zu betreten. Aber sie belohnen sie auch gebührlich für die Mühe, und zwar mit hölzernen Schränkchen. Im ersten verbergen sich ein Gipfelbuch und Stempel für Reisetagebücher, im zweiten eine Minibar mit verschiedensten Getränken.
Die E-Radler von e-ben luden mich an ihren Tisch ein, und wir tauschten die Ereignisse unserer Iron Curtain Touren aus. Sie hatten die Strecke in zwei Touren absolviert und in Eschwege unterbrochen. Ich staunte, wie kühl die Getränkedose war, und spekulierte über die übernatürlichen Kühlfähigkeiten des Schränkchens. Die anderen klärten mich auf, dass gerade eben ein Auto weggefahren sei, dessen Fahrer das doch nicht so magische Schränkchen vermutlich aufgefüllt hatte.

Und so erreichte ich im Frühling 2023, als das Grüne Band gelb vom Löwenzahn und meine Finger schwarz und rot von meiner störrischen, scharfen Fahrradkette waren, das Ende der Innerdeutschen Grenze.
Und jetzt? Man muss nicht googeln, um zu wissen, dass Nahverkehr in Oberzech praktisch nicht existiert. Wer zum nächsten Bahnhof will, soll die 17 Kilometer nach Hof an der Saale runterfahren.
Doch irgendwann, als ich diese Tour plante, kam mir auf einmal die Idee: Wenn ich sowieso noch weiterfahren muss, warum soll ich mir dann nicht anschauen, wie die Grenze in Tschechien aussieht? Nur 20 Kilometer entfernt wartet ein tschechischer Bahnhof auf mich, und 20 und 17, och, das ist doch quasi dasselbe.

21 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Alsleben nach Rödental

Die Bergbayerngrenze II

Länge: 96 km
Grenzquerungen: 6
Bundesländer: Bayern/Thüringen
Seite: etwa gleich
Erkenntnis: Das genaue Schneckentempo der DDR-Bürokratie entschied darüber, an welchen Orten heute Menschen leben und wo nicht.

Nach der Fränkischen Saale durchquert das Grüne Band die Haßberge. Der moosige Wald ist Heimat einiger seltener Tierarten. Weil ich über die Hügel zügig rüberkam, gelang es mir nicht, einen echten Hass auf die Haßberge zu entwickeln.


Im nächsten Dorf wartete das erste Highlight des Tages. Oder jedenfalls irgendetwas in der Art.
Im Jahre 1964 hatten die Gemeinderäte von Sternberg-Zimmerau nichts zu lachen. Die Grenze schreckte alle ab, nirgendwo wollte sich Industrie ansiedeln. Das einzige, was die Leute interessierte, war der Blick vom Büchelberg auf die tödlichen Grenzanlagen. Pragmatisch entschieden sie, dann halt mit diesen Schaulustigen Geld zu verdienen: Der Bayernturm sollte entstehen. (Eigentlich liegt das Dorf ja in Franken und nicht im "richtigen" Bayern, aber der Turm wurde extra so genannt, um zu feiern, dass Franken seit 150 Jahren zu Bayern gehört.) Man plante einen 56 Meter hohen Turm mit Restaurantterrasse, Aufzug und Hotel. Und was kam am Ende raus?

Nun ja, das hier. Ein Monstrum aus Wellblech von wahrhaft ehrfurchtgebietender Scheußlichkeit, welches das Land in der Form eines gigantischen Stehtischs überragt.
Hotel, Restaurant und Aufzug wurden gestrichen, die Höhe stark gekürzt, nur eine Aussichtsplattform blieb. Aber die wurde wurde zum echten Besuchermagneten - zumindest, bis die neue A7 der nahen Bundesstraße die Besucher wegnahm. Nach der Wende erlebte der Turm noch einen kurzen Aufschwung, und seitdem scheint er vor sich hin zu rosten.
Und dennoch kann man immer noch rein. Alles, was man benötigt, ist eine Ein-Euro-Münze und etwas Geduld. Meine erste Münze verschwand im Schacht, ohne dass sich das Drehkreuz bewegte. Ach ja, da standen ja Öffnungszeiten dran. Erst ab um acht? Dann mache ich jetzt eben eine ausgiebige Frühstückspause am Bayernturm.
Eigentlich finde ich die Drehkreuz-Lösung klasse und finde, das sollte bei viel mehr historischen Türmen, Burgen und Gebäuden gemacht werden, wenn man die schon aufwendig instand hält, aber kein Personal für die Kasse hat. Ist doch viel besser, als wenn man erst jemanden anrufen muss, um so ein Ding aufzuschließen - welcher Tourist macht sich schon die Mühe?

Punkt acht ging der Strom an, und das Drehkreuz reagierte auf meine zweite Münze. Ich marschierte polternd ein rostiges Treppenhaus hinauf. Sonnenlicht fiel durch (mehr oder weniger) transparente Wellblechstücke und beleuchtete meinen Weg. Adolf Hitler war hier März 1939, behauptet eine Kritzelei. Das ist historisch zwar ausgeschlossen, aber angesichts des abgenutzten Zustands trotzdem irgendwie glaubhaft. Immerhin wirkte die Konstruktion stabil.
Noch.

Als ich die letzte rostige Stufe verließ, fand ich mich auf einem ca. 200 Quadratmeter großen Bretterfeld wieder. Neugierig ging ich auf die Fenster zu, um mehr zu erkennen. Erst nach ein paar Schritten wurde mir klar, dass alles, was mich jetzt noch von einem 38 Meter tiefen Sturz bewahrte, diese abgenutzten Bretter waren.
Bretter, zwischen denen Lücken klafften, durch die ich besagte 38 Meter Tiefe gut erkennen konnte.
Bretter, von denen manche deutlich wackelten.
Und da war mir doch etwas komisch im Magen. Der Turm ist auf seine Art ein beeindruckendes Gebäude, aber etwas Mut braucht es schon.

Am Rande des Waldes (hinten im Bild) konnten die Besucher früher die tödlichen Zäune begutachten. Wer heute den Wald begutachten will, hat die Wahl zwischen einer schmierigen Scheibe oder einem scharfkantigen Loch in besagter Scheibe.

So viel zum innovativen Industriestandort Bayern. Ich fahre mal zurück nach Thüringen. Und dann wieder nach Bayern. Und wieder Thüringen. An der Grenze wurden immer mal wieder einzelne alte Grenzzäune aufgestellt.

In den Dörfern steht häufig ein historisches Back- oder Brauhaus, das zu besonderen Anlässen noch genutzt wird. Zweimal im Jahr durfte sich einst jeder Dörfler unter Anleitung des Dorfbraumeisters genug Bier für sechs Monate (wenn man sparsam war) zusammenbrauen. Die Bank vor dem Poppenhäuser Backhaus verkündet das Motto jeder Radtour: Auch Umwege erweitern unseren Horizont.
Die Informationstafel über die Dorfgeschichte reicht von den Bauernkriegen bis zur Coronapandemie. Das eigensinnige evangelische Dorf litt schon während der Reformation darunter, dass es direkt an katholisches Gebiet grenzte. In der DDR entging es haarscharf der Schleifung.
Aber vergessen Sie all das, das echte Highlight von Poppenhausen ist etwas, das ich bislang schmerzlich vermisst habe: Ein Mülleimer! Die Bergbayerngrenze ist voller Rastplätze, aber ein Müllbehälter wurde bisher jedes Mal vergessen. Endlich kann ich den Haufen Abfall loswerden, den ich seit gestern quer durch Deutschland transportiere. Ob der Poppenhauser Papierkorb überhaupt genug Platz dafür hat?

Dieses Kreuz erinnert daran, wie die traditionelle Männerwallfahrt 1990 zum ersten Mal wieder ins Ostgebiet stattfinden konnte. Man ließ die Männer über die Grenze nach Thüringen wallfahren, doch als die männlichen Wallfahrer nach Bayern zurückwollten, war das Tor auf einmal wieder geschlossen. Sie bekamen es aber irgendwie auf, denn: "Christus hat noch viel größere Schranken überwunden."
In den Nachbardörfern lief die Wende weniger fromm ab: In Rieth und Albingshausen gab es anscheinend eine absolut legendäre Wiedervereinigungsparty, über welche die Infotafel aber keine Details verrät. Möglicherweise, weil der Verfasser immer noch Erinnerungslücken hat.

Weil die Adligen nach dem Ersten Weltkrieg ihre Macht verloren, wurden Herzogtümer aufgelöst und Grenzen neu sortiert. Die Menschen im Coburger Land beschlossen in einem Volksentscheid, dass sie zu Bayern gehören wollten. Der Heldburger Zipfel dagegen kam zu Thüringen und wurde ab jetzt von drei Seiten von Bayern umschlossen. So bekam der spätere Eiserne Vorhang seine Gestalt. Als ich diese kleine Hügelkette überquerte, bog ich in den Heldburger Zipfel a.k.a. Rodachtal ein. Dieses kleine Burgen- und Thermaltal ist eine völlig versteckte, aber echt süße Ecke Deutschlands.
Das erste Dorf im Zipfel hieß Erlenbach. Die Betonung liegt auf hieß. Wie zu erwarten, ist von diesem geschleiften Dorf absolut nichts übrig. Die Aussiedelung der Bewohner erfolgte wie in den meisten Dörfern Stück für Stück, erst 1986 mussten die letzten raus und alles wurde plattgemacht. Das macht es irgendwie noch tragischer. Es hätte nur noch drei zusätzliche Jahre bürokratische Verzögerungen gebraucht, und Erlenbach würde noch existieren.

Gibt es überhaupt Orte im Rodachtal, von denen noch etwas übrig ist? Ja, da kommt einer. Ummerstadt hatte nach dem Krieg etwa 1000 Einwohner, und zwar weil so viele auswanderten, manche freiwillig, andere unfreiwillig, manche vor, manche nach der Wende. So wurde Ummerstadt in den 80ern zur kleinsten Stadt der DDR. Heute sind die Hügel von Ummerstadt ein Fluggebiet für Gleitschirmflieger.
Hier war eine Kompanie Grenzsoldaten stationiert. Zu ihren Aufgaben gehörte auch, in Umfragen herauszufinden, wie zufrieden die Bürger mit der Grenzsituation sind, um dann exakt gar nicht darauf zu reagieren. Wenn ein Soldat aus dem Urlaub zurückkehrte, durfte er erstmal sechs Stunden nicht in den Dienst. Bei einem persönlichen Gespräch musste zuerst geprüft werden, ob er zu Hause persönliche Krisen hatte und deshalb fliehen könnte.

Etwas unerwartet: Mitten im Nirgendwo des Rodachtals versteckt sich die gewaltige gläserne Terassentherme. In der Kurstadt Bad Colberg hat das gesunde Baden nämlich eine lange Tradition.
Vor dem Kurpark und dem historischen Kurhaus steht ein gekühlter Automat mit regionalen Spezialitäten. Wenn ich schon nicht essen gehe, dann probiere ich wenigstens auf diesem Wege etwas Bayrisches wie zum Beispiel... mal sehen... Curry-Maultauschen ("Die Maultaschen-Innovation") und Ofen-Leberkäse. Ob man das auf dem Campingkocher zubereiten kann?
Ja, kann man, zumindest die Maultaschen.

Heute entdeckte ich deutlich mehr Radwege, und der im Rodachtal ist einer der schönsten. Und dann, kurz vor dem Wald, erwartet mich eine Überraschung. Wieder einmal wurde ein Dorf geschleift. Aber diesmal, halten Sie sich fest, ist etwas davon zu sehen!
Billmuthausen war ziemlich groß, es hatte immerhin einen Kindergarten, eine Mühle und ein Schullandheim, an dem die berühmten Geschwister Scholl unterrichtet wurden.
Zuerst floh ein Großteil der Einwohner, sodass die DDR acht Vertriebenenfamilien ansiedelte. Aber sogar von denen hauten sieben hab - nicht mal Flüchtlinge wollten hier bleiben. Wer den weiten Weg aus Ostpreußen hinter sich hat, für den sind die paar Kilometer nach Bayern ja auch nur noch ein (potentiell tödlicher) Katzensprung.
Vom geschleiften Dorf Billmuthhausen ist folgendes übrig:
  • Der Ludloff-Brunnen: Eine steinerne Viehtränke mit Gießkannen
  • Die Mauern eines Grünfuttersilos, das später als Trinkwasserspeicher diente
  • Ein Mühlstein, aber der ist bloß eine Leihgabe des Museums in Veßra an der Werra
  • Ein Trafoturm (hinten links)
  • Eine Gedächtniskapelle auf dem Friedhof, die allerdings erst nachträglich zur Erinnerung gebaut wurde
  • Der Friedhof, auf dem früher die Kirche stand. Auf dem kleinen Gelände entdeckte ich fast sofort das Familiengrab der Ludloffs, denen das Rittergut Billmuthausen früher gehörte. Der größte Grabstein erinnert an das Dorf selbst. Das dazugehörige Kreuz wurde mit einem makabren Kreis aus Streckmetall dekoriert.
Fast alles davon sieht neu aus, lediglich das Silo und Teile des Friedhofs sind vermutlich original erhalten. Ach ja, und in der Wand der Gedächtniskapelle steckt der einzige erhaltene Stein der alten Kirche.
Engagierte Bürger haben diese Gedenkstätte aufgebaut. Wenn ich bedenke, wie von den anderen geschleiften Dörfern einfach null zu sehen war, dann muss es ein enormer Kraftakt gewesen sein, so viel wiederherzustellen. Keimzelle der Gedenkstätte war die Gedenkplatte auf dem Friedhof - die kurz nach ihrer Aufstellung erstmal geklaut wurde.

Als nächstes geht es quer durch den Wald nach Heldburg. Die Wegweiser schickten mich auf eine andere Route als die Karte, und zwar auf den Radweg der Deutschen Burgenstraße. Ich probierte es aus und, was soll ich sagen, es war super. Die geschmeidige Fahrt durch den hohen, hellen Wald hat mich ein wenig an Rügen-Jasmund erinnert. Und ganz zum Schluss konnte ich auch noch den Ausblick auf die prächtige Veste Heldburg genießen.

Die Renaissaince-Burg thront auf einem 400 Meter hohen Felsen. Der entstand wie das ganze Land durch Vulkane. Sie hinterließen jede Menge Phonolith. Das bedeutet so viel wie Klingstein. Wenn man mit einem Metallstab ganz sachte dagegenschlägt, ertönt ein zartes Bimmm. Das heißt, sofern einem keine Spaziergänger dazwischenquatschen.
Ich hatte zwar gerade keinen passenden Stab zur Hand, aber zum Glück hingen Stab und Stein an einer passende Station zum Ausprobieren.

Nächste Station ist Streufdorf. Hier geschah etwas Ungewöhnliches: Die Bewohner wehrten sich mit Gewalt gegen die Zwangsaussiedelung, verprügelten Polizisten mit ihren eigenen Knüppeln und holten ihre aufgeladenen Möbel wieder von den LKWs runter. 500 Polizisten, Wasserwerfer und Pferde waren nötig, um dieses Dorf unter Kontrolle zu bringen, sogar die Sowjetarmee drohte einzugreifen.

Der recht eigene Umgang der Bewohner mit der Grenze zeigt sich auch darin, dass sie aus dem alten Streckmetallzaun nicht bloß (wie so oft) irgendwelche Kompostzäune gebastelt haben, sondern richtige repräsentative Eingangstore.

Moment mal, diesen Doppelgipfel da hinten kenne ich doch. Waren diese Berge nicht gestern schon den ganzen Tag zu sehen? Ich habe das Gefühl, im Kreis zu fahren. Nicht ganz zu Unrecht: Das grüne Band umkreist im großen Abstand den Thüringer Wald.

Es ist ja schön, dass diese Thüringer Dörfer auf den sonst obligatorischen Ernst-Thälmann-Weg verzichten - aber ihre Alternativen sind auch nicht gerade klangvoll.

Und jetzt etwas, das ich eher mit norddeutschen Radwegen assoziiere: Ich fahre durch ein Gatter und quer über den Acker. In der Viehsperre wächst eine Hecke.

Der Bauer hat sogar eine olle Hütte mit Aussichtsplattform auf sein Feld stellen lassen, in der man etwas über seine Tierhaltung in der Hutelandschaft nachlesen kann. Hier werden Wildpferde und Heckrinder gehalten. Heckrinder sind eine Rückzüchtung, bei der 15 Rinderrassen solange gut durchgemixt wurden, bis das Ergebnis (zumindest optisch) aussah wie der ausgestorbene Auerochse.

Danach verläuft der Radweg auf einem Mühlenwanderweg. Aber auf den Infotafeln über die abgerissenen Mühlen stand einfach so überhaupt nichts Interessantes. Sie wurden halt von A zu B zu C verkauft und verpachtet... joa, okay, weiter.
Auf einem kurzen Stück durch den Westen kam ich an ungefähr 326 Baumstammstapeln vorbei. Dies ist offensichtlich das natürliche Habitat einer großen Population von Holzfällern. Manche legen ihr Holz zwischendurch quer über einem Graben ab. Sehr zum Verdruss der Bauern: An den Eigentümer des Holzes!, schrieb ein verärgerter Farmer auf ein Schild. Machen Sie hinterher gefälligst ihre Rindenreste weg und hinterlassen Sie den Platz sauber, damit der Graben im Sommer gemäht werden kann!

Hinauf, hinunter, in den Westen, in den Osten, noch ein Kolonnenweg, ein Stück Mauer... irgendwann habe ich gar nicht mehr mitbekommen, in welchem Bundesland ich aktuell bin. Puh, ich brauch ne Pause. Zeit fürs Maultaschen-Curry!

Als sich der Nachmittag schon seinem Ende zuneigte, bin ich in Weißenbrunn vorm Wald herausgekommen. Dieses Dorf ist irrsinnig stolz darauf, dass es vom Dichter Heinrich Schaumberger ausgiebig beschrieben wurde (auch wenn es in seinen Geschichten anders hieß). Dabei hat Weißenbrunn noch viel mehr, auf dass es stolz sein kann. Der weiße Brunnen im Namen ist nämlich eigentlich ein Bach namens Itz, der aus dem Kalkstein kommt und sich in moosig-matschigen Kaskaden abwärts stürzt. Dieses Flüsschen verströmt fast schon mediterranes Flair.

Anschließend sammelt sich die Itz in einem kleinen Teich, fließt unter der großen ICE-Brücke hindurch und wird nochmal so richtig gestaut, damit sie weiter unten kein Hochwasser verursacht. Statt ganz langweilig vom Itz-Stausee zu sprechen, hat man dem Hochwasserrückhaltebecken lieber den kreativen Namen Froschgrundsee verpasst. Die Plattform auf der Talsperre darf niemand betreten, nicht einmal Fahrräder (ein recht sinnloses Verbot, wenn schon Menschen an sich verboten sind). Aber gut, kann ja nicht schaden, das Fahrradverbotsschild auf die Schranke zu kleben, falls irgendwann mal selbstfahrende Fahrräder erfunden werden.
Ist ja auch egal, der Froschgrundsee kann von vielen anderen Stellen ebenso gut bewundert werden.

Wahnsinn, wie vielseitig die Bergbayerngrenze ist! Jetzt schlägt die Grenze eine neue Seite auf und bringt mich ins Coburger Zickzacktal (so nenne ich das jetzt einfach mal).
Also dann, Endspurt! Im Itztal sauste ich bequem am Wasser den Coburger Vororten entgegen.

Bis in die Stadt Coburg fuhr ich aber nicht rein. An diesem lila Kreisverkehr wuchtete ich mein Rad über den Hügel hinüber ins Rödental.

Dort befindet sich der Vorort namens, ähm, Rödental. Er sieht eher weiß und unscheinbar aus, also beschränkte ich meine Sightseeingtour auf den lokalen Edeka.

Für das Abendessen ist gesorgt, jetzt brauche ich nur noch einen Schlafplatz. Dieser sollte im Idealfall viel, viel besser sein als der letzte Nacht.
Dieser Idealfall trat ein. Dieses fabelhafte Wäldchen direkt am Radweg war nicht nur superleise und bequem, sondern auch noch viel trockener als die letzte Nacht - obwohl es direkt am Fluss Rodach lag. Wunderbar, so sollte ich fit sein für das, was morgen kommt.