Der Harz liegt hinter mir, also wird es jetzt wieder flach? Falsch! Heute durchquere ich das Eichsfeld, und das bedeutet eine Hügelkette nach der anderen.
Hinter Walkenried führt die Grenze durch eine Wald- und Moorlandschaft zur 1. Kutzhütter Fabrik-Hügelkette. (Hinweis: Die Fabrik befindet sich nicht in dem kleinen Fachwerkhäuschen.)
Es folgt die 2. Tettenborner Hügelkette. In Tettenborn sollte es ein kleines Grenzmuseum geben, das hatte aber noch zu. Macht nichts, später kommt noch eins. Hinter der Autobahn erreicht die Straße Thüringen.
Auf der 3. Limlingeroder Hügelkette stehen zahlreiche Holzbänke aus Paletten. Hier konnte ich den Autoverkehr verlassen und ein bisschen die Einsamkeit eines Radwegs genießen.
Kurz darauf beginnt ein Wald, den ich über ein kleines Tal wieder verlassen habe. Ein Bach, dessen Namen ich nicht weiß, hat das Tal gebildet. Diesem kleinen, anonymen Wasserlauf bin ich wirklich dankbar. Er hat mir an diesem Tag die einzigen paar Kilometer ohne Steigungen geschenkt.
Beschilderung für Radfahrer ist kaum vorhanden. Ich habe mich überwiegend an gelben Autoschildern orientiert.
Hier wendet sich die Grenze (links im Wald) wieder nach Süden. Entlang der Straße geht es direkt nach Duderstadt. Auf dem Weg liegt noch die Rothe Warte, eine bekannte Waldgaststätte (nicht nach dem Rot des Kommunismus benannt).
Duderstadt besteht aus rotem Fachwerk. Es ist nämlich eines dieser bezaubernden Fachwerkstädtchen im südlichen Niedersachsen, die ich so gern mag. Auch wenn Göttingen, Einbeck und Hann. Münden noch fachwerkiger sind - direkt am Grünen Band werden Sie in Niedersachsen keine schönere Stadt finden. Duderstadt wurde 1989 kurzzeitig Trabbi Town genannt, die Stadt mit den meisten Trabbis, als nach dem Fall alle durch den nahen Grenzübergang hierher trabten.
Als nächstes leitet mich die Karte auf die 4. Duderstädter Hügelkette rauf und wieder runter (und später nochmal rauf und wieder runter, und weil es so viel Spaß macht, auch noch ein drittes Mal). Der Radfahrer strampelt über die grünen Felder nach Thüringen. Das nächste Grenzdenkmal nennt sich OstWestliches Tor und ist wieder sehr abstrakt: Zwei geschälte Bäume auf einem Stahlband.
Im Dorf Wehnde habe ich mich ziemlich verfahren, bis ich auf einen Betonplattenweg nach Teistungen gelangte.
Im Mittelalter hatte Teistungen ein großes Kloster namens Teistungenberg. 1962 wurde es abgerissen, nur ein paar alte Efeumauern stehen noch.
Heute steht dort ein neuer Gebäudekomplex, der ein Luxushotel beinhaltet (hinten am Berghang). Auch ein kleiner Freizeitpark soll dort entstehen.
Falls die Hotelgäste mal Lust auf politische Bildung statt Poolbaden haben, können sie die Straße in einem gläsernen Tunnel überqueren. Dort erwartet sie das Grenzlandmuseum Eichsfeld.
Kleiner Grenzverkehr bedeutet: Die Westdeutschen durften maximal neun Tage in die Landkreise nahe am Grenzübergang reisen, an diesem Übergang also ins Eichsfeld und in den Ostharz. Für neugierige Touristen war das erfreulich, für Menschen mit Verwandten auf der anderen Seite ein Segen (sofern sie die Verwandten mochten). Ein Visum kostete 15 Mark, außerdem musste jeder Reisende 25 DDR-Mark pro Tag umtauschen. Die BRD-Regierung forderte die Bürger auf, diese Reisemöglichkeit oft zu nutzen, damit sich die Deutschen wieder annähern.
Außerdem wurde 1973 eine direkte Telefonleitung zu den westlichen Beamten eingerichtet, um Grenzprobleme zu klären, zum Beispiel bei der Brandbekämpfung.
Das dürfte das einzige Grenzmuseum mit einem Spiegellabyrinth sein. (Begründung: Grenzen spiegeln Systeme.)
Anschließend muss der Besucher eine Passkontrolle passieren. Die Schaufensterpuppe sagt "Ihren Pass bitte." Ich hatte meinen nicht dabei, durfte aber trotzdem ins nächste Zimmer.
Ein paar Texttafeln widmen sich dem katholischen Eichsfeld. Die DDR-Regierung wollte diese zurückgebliebene Region industrialisieren und den Bürgern durch diesen Aufstieg ihre Religion abgewöhnen. Ersteres gelang sogar ein bisschen, letzteres gar nicht. Auch wenn neue Kalibergwerke, Zementwerke und die größte Baumwollspinnerei Europas (in Leinefelde) neue Arbeitsplätze schufen, hielten die Eichsfelder weiterhin ihre katholischen Prozessionen quer durchs Dorf ab. Anders als im Rest des Landes machen nur wenige Jugendliche die Jugendweihe, in einigen Dörfern sogar null Prozent.
Hinter dem Hauptgebäude stehen noch ein paar alte Militärfahrzeuge und den Mühlenturm, in dem die Stasi die ganze Anlage kontrollierte. Bis 1970 befand sich in dem Turm tatsächlich eine Mühle. Er ist das einzige zivile Gebäude, das jemals zu einem Teil der DDR-Grenzanlagen umgebaut wurde.
Falls jemand versuchte, die langen Kontrollen abzukürzen, mit dem Auto auf die harte Tour durch den Grenzübergang zu brechen und einfach alles kaputtzufahren, wurde dieser fette Schlagbaum heruntergelassen. Der brachte selbst einen LKW zum Stehen. Der Knopf zum Absenken befand sich ebenfalls im Mühlenturm.
Diese Straße führt zurück nach Duderstadt. Da war ich schon, also lieber kurz vor der Grenze nach links!
Zuerst überquert der Kolonnenweg einen Bach namens Hahle. Die Brücke haben die Grenztruppen damals gebaut. Ein paar Meter weiter stellten sie einen Gitterzaun in den Fluss, in dem sich Treibgut verfing. Manchmal war der Zaun so verstopft, dass die Hahle die umliegenden Äcker überflutete. (Nicht einmal Wasser durfte die DDR ohne Erlaubnis verlassen.) Dann kurbelten die Grenzsoldaten das Gitter nach oben und eine Flutwelle mit Treibgut schwappte in den Westen. Das sorgte nicht nur für Sachschäden, sondern tötete 1981 sogar einen Menschen.
Ein anderes Drama ereignete sich 1964 in diesen Hügeln, als DDR-Soldaten Grenzpfähle herauszogen und weiter im Westen wieder reinsteckten. Laut dem Potsdamer Abkommen sollte die Grenze nämlich genau dort verlaufen (wie früher schon zwischen dem Königreich Hannover und Preußen). Die Briten wichen bei einem Gebietstausch um ein paar Meter davon ab und hielten das in einem Extra-Abkommen mit den Sowjets fest, und die DDR-Führung war anscheinend zu dem Schluss gelangt, dieses Extra-Abkommen sei voll doof und somit völkerrechtlich unwirksam. Als der Bundesgrenzschutz mit Verstärkung zurückkehrte, musste die DDR wortwörtlich zurückstecken.
Ab und zu standen solche kleinen Beobachtungsbunker an der Grenze. Sie sollten offiziell die Grenzsoldaten vor Schüssen aus dem Westen schützen. Auch wenn sie nie auf diese Weise eingesetzt wurden.
Die Flüchtlinge konnten nie wissen, ob sie durch den schmalen Spalt beobachtet wurden, und vermutlich war genau das der Sinn der kleinen Klötze.
Ich hatte so viel Zeit im Museum und auf dem Grenzweg verbracht, dass es zeitlich langsam eng wurde. Eigentlich wollte ich nicht auch noch zum Pferdebergturm, aber irgendwie hatte ich mich in diesem Wald ein bisschen verirrt. Als sich der Turm plötzlich vor mir erhob, bin ich dann aber doch hinaufgestiegen und konnte das ganze Grenzgebiet nochmal im Überblick sehen.
Okay, neuer Versuch. Ah, das ist der Immingeröder Kreuzweg! Jetzt wusste ich wieder, wo ich war - ungefähr jedenfalls. Und ich wusste, wo es langging - steil nach unten, wieder runter von den Duderstädter Hügeln.
Dieses Kreuz stiftete 1984 die Jungfrau (woher auch immer Informationstafel das so genau weiß) Christine Borchardt aus Dankbarkeit, als sie eine schwere Krankheit heil überstand.
Unten im Tal habe ich Böseckendorf durchquert. Das Dorf wurde 1961 bekannt für die größten Massenfluchten über die Grenze: Hier ist fast ein ganzes Dorf abgehauen. Zweimal rannten jeweils 13 Menschen (je ein Viertel der Einwohner) trotz Tretminen zwei Kilometer in den Westen. Beim zweiten Mal war furchtbares Winterwetter und der Schlitten mit ihren Habseligkeiten kippte dreimal um. Aber die Zeit drängte, denn ein lokaler Grenzsoldat wollte mitflüchten und helfen, und der sollte bald ausgewechselt werden. In der BRD gründeten sie Neu-Böseckendorf.
Der Rest der Strecke bietet kaum noch historische Relikte, sondern nur noch Steigungen, Steigungen und Steigungen. Besonders steil ist die 5. ätzend hohe Hügelkette bei Etzenborn und Neuendorf.
Uff! Dann noch die 6. Weißenborner Hügelkette und die 7. finale Hügelkette ins Leinetal. Bei Mengelrode bietet sich ein Ausflug ins schöne Heiligenstadt an.
Eigentlich sollte es hier Radwege geben. Nun ja. Grundsätzlich ist das ein Radweg, aber Autos sind erlaubt... alles klar. Diese merkwürdigen "Radwege" waren teilweise zweispurig mit Leitlinie und so breit wie eine gewöhnliche Landstraße.
An der Autobahn hatte ich dann das Schlimmste hinter mir, ab jetzt ging es vor allem bergab.
Dabei entdeckte ich doch noch ein Zeugnis der Vergangenheit: Ein Bauer benutzt den alten Streckmetallzaun, um seine Weide zu begrenzen. Laut dem Museumswärter in Sorge kam das ziemlich häufig vor, dass sich alle am Zaun bedienten, denn sie wussten, dass dieses Material für die Ewigkeit gemacht war. Zwischen "Weg damit, ich will das nie mehr sehen!" und "Wir müssen das unbedingt als Zeugnis und Mahnung für unsere Nachkommen erhalten." gab es auch diese ganz pragmatische, eigennützige Herangehensweise.
Ein weiteres Kuriosum ist diese Riesenbank.
Noch ein bisschen bergauf, bald ist es geschafft. Im Hintergrund erhebt sich die restaurierte Burg Rusteberg. Die Burgen hier sehen irgendwie alle nur wie gelbe Hotels aus.
In Marth führt eine Pflasterstraße steil nach unten. So bin ich rasend schnell wie ein sehr holpriger Falke ins Leinetal hinuntergesaust.