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11 August 2025

Donau: Von Vrakúň nach Komárno

Hinter der zweiten Staumauer wird der Privodný kanál zum Odpadový kanál (Müllkanal?). Aus irgendeinem Grund ist er genauso breit wie oberhalb der Mauer. Wirklich eine seltsame Stauanlage.
Ein paar Kilometer weiter vereinigt sich das alte Flussbett (hinten) mit dem Odpadový kanál (rechts), womit wir wieder eine einheitliche Donau hätten, auf der jetzt auch die Grenze nach Ungarn verläuft.

Raider wird zu Twix, sonst ändert sich nix.
Am slowakischen Nordufer wurden wir nach wie vor auf dem Deich gebacken, auf der einen Seite Bäume mit zu viel Abstand, auf der anderen tote Dörfer. Nur ein einziges hatte ein Bufet, und an dem fuhren mein vorauspreschender Bruder und ich schnurstracks vorbei.

Und Badeseen? In Klížska Nemá sollte es einen geben. Aber wo ist kristallklare Blau von gestern geblieben? Der schmutzige Kies bricht abrupt ab in eine kotzgrüne Suppe. Dass mitten an einem Samstag kein einziges Dorfkind da drin baden wollte, stimmte uns skeptisch.

Schatten? Gab es auf dem Radweg insgesamt zweimal für jeweils fünf Meter.
Rasthütten? Das hier war die einzige. Immerhin zur Hälfte im Schatten, doch um reinzukommen, musste man sich ducken, und die Hitze staute sich unter dem Teerdach.

So wurde dieser Tag und nicht der letzte zum anstrengendsten der ganzen Tour.
Naja, immerhin bestand fast alles aus Asphalt oder brauchbaren Betonplatten. Lieber so auf dem Deich gebacken werden als auf den längeren Dorfstraßen, wo laut Karte manchmal die Hauptroute verläuft.
Trotzdem ist es tragisch. Was die Qualität des Radwegs angeht, scheint Wien-Budapest die beste Staffel des Donauradwegs zu sein, und was die Infrastruktur drumherum angeht, bisher die schlechteste. Solch einen Gegensatz habe ich noch nie erlebt.
Kein findiger Unternehmer traut sich, in einem der leerstehenden Häuser eine Radlerunterkunft zu öffnen. Für wen habt ihr dann diesen Asphaltweg auf den Deich gegossen? Für lokale Rennradler? Davon zischten viele vorbei, auf jeden Fall mehr als die Tourenradler, von denen erst ab 11 zaghaft ganz wenige herauskamen. Aber ist ja auch gut, wenn die Menschen vor Ort etwas von den EuroVelo-Radwegen haben.
Immer wieder fielen uns rätselhafte weiße Steinreihen auf. Da hat jemand mit den Grenzsteinen aber komplett übertrieben. Trennen die die Gemarkungen der Dörfer voneinander oder nur Privatgrundstücke? Egal, es ist zu heiß, um darüber nachzudenken.

Was also tun, um die Familie heil durch das slowakische Bratblech zu bringen?
Es hilft nichts: Immer wieder runter vom Deich und im Schatten der Bäume ausruhen. Und nochmal. Und nochmal.
Abgesehen davon fanden wir noch zwei andere Ansätze.
Am staubigen Rande der Hauptstraße nach Gabčikovo saß eine einsame Frau an einem Melonenstand. Die Melonen sahen tatsächlich gut aus (auf jedem Fall viel besser als die fliegenübersäten aufgeschnittenen Melonen auf dem Bauernhof ein paar Kilometer vorher). Sie pickte für uns die kleinste heraus, die immer noch verdammt groß war und happige 13 Euro kostete. Mit Ach und Krach bekamen wir sie provisorisch für ein paar Kilometer in meine Fahrradtasche. Ob das eine gute Idee war?
War es. Wir schnitten, schlürften und löffelten das Obst zu viert leer, und sie war so süß und saftig, wie eine Wassermelone nur sein kann, möglicherweise die perfekte Melone. Mit vollem Bauch, satt und das genaue Gegenteil von dehydriert, lagen wir im Gras, und ich konnte nicht anders, mir entwich ein Melonenrülpser. Nur die Idee, die halbe Schale als Helm zu tragen, trug keine Früchte. Für die ersten Kilometer kühlte er noch, dann heizte er sich viel stärker auf als ein Fahrradhelm. Außerdem denken dann alle, man hätte das berühmte Melonen-Fahrradhelm-Experiment komplett missverstanden.

Die andere Idee: Einfach wieder in der wiedervereinigten Donau baden. Das Wasser ist zwar nicht unbedingt klarer (auch nicht bedingt), doch nach dem Zusammenfluss entdeckten wir wieder erstaunlich schöne Strände mit Sand, Muscheln und Baumwurzeln, die bis ins Wasser ragten. Die Fahrrinne für Schiffe lag auf der anderen Seite, und so sind zumindest ein paar Schwimmzüge in Ufernähe unter diesen Umständen hoffentlich verzeihlich. Die Gegenstromanlage war eingebaut, denn die Strömung war verdammt stark, die Wellen des einzigen Lastschiffs dagegen noch relativ zahm.
Als ich bis zum Hals im Wasser steckte, hörte ich folgendes: Rrschschsch... Es war das endlose Rauschen der Donaukiesel am Grund, der Gesang des Flusses, aber eben auch, wie Andreas Fath es über den Rhein formuliert hat, "eine große Plastikmühle".
Wobei die Slowakei in der Hinsicht gar nicht so schlimm zu sein scheint. Nach einer Weile fuhren zwei Autos vorbei und parkten direkt am Strand, packten bei laufendem Motor Liegestühle und einen Grill aus. Die waren eindeutig gekommen, um zu bleiben, zumindest länger als wir. Wenn die hier öfter so was veranstalten, dann ist es bemerkenswert, dass wir an diesem herrlichen Strand überhaupt keinen Müll gefunden haben.

Wie gehen die Slowaken sonst mit der Hitze um? Machohaft und nicht unbedingt auf die schlauste Art. Viele radeln oberkörperfrei oder im Bikini. Sonnencreme ist unerwartet teuer und scheint nicht so wahnsinnig verbreitet zu sein. Kurz vorm Ziel kam uns ein Herr in Unterhose entgegen, und seine krebsrote Haut verkündete, dass dem Hautkrebs das gelungen war, woran die Türken einst gescheitert waren: Die Donauufer dauerhaft zu erobern.
Auch scheinen die Slowaken etwas distanzierter und weniger sozial zu sein als die Tschechen. Es dauert, bis sie auftauen - der einzige, bei dem ich lange genug anwesend war, war mein Sitznachbar im Nachtzug nach Wien auf der Anreise. Meine Mutter war sehr froh, dass sie einen Tschechen geheiratet hatte.

Schließlich guckte am anderen Ufer ein fetter skeptischer Kreis aus Backsteinen mit grünem Dach herüber, das Fort Monostor. Es stammt von 1850, damit ist es die größte neuzeitliche Festung in Europa.

Das Fort ist Teil der ungarischen Stadt Komárom, die sich ansonsten mit ein paar Kirchtürmen und Blocks eher bedeckt hält. Aber gut, bei einem derart breiten Fluss kann man nicht erwarten, allzu viel zu erkennen.
Als das Nordufer an die Slowakei ging, wurde diese Stadt in zwei Hälften geteilt, und damit man die auch auseinanderhalten kann, heißt der slowakische Teil Komárno. (Obwohl der Name wahrscheinlich von komár, also Mücke, kommt, nahm die Mückendichte mit der Einfahrt in die Stadt rapide ab.) Eine neue Straßenbrücke, eine Eisenbahnbrücke und schließlich eine alte Straßenbrücke verbinden die beiden - erst gibt es ewig keine Brücken und dann gleich ganz viele auf einen Streich. Eine davon muss die Brücke der Freundschaft sein. Dabei war durchaus wenig Freundschaft zu spüren, als diese Donaugrenze 1918 gezogen und die Stadt geteilt wurde. Der größte Feind waren damals nicht irgendwelche fernen Deutschen oder Russen, sondern der Nachbar direkt gegenüber. Es gab ungeklärte Konflikte um den Grenzverlauf, Aufrüstung und die Befürchtung, dass Ungarn als Verlierer des Ersten Weltkriegs sich das verlorene Ufer (auf dem eine beträchtliche ungarische Minderheit lebte) zurückholen will. Wollte es auch unbedingt, aber durch Verhandlungen. Bei der Konferenz in Komárno 1938 machte die Tschechoslowakei verschiedene Kompromissvorschläge, aber einen so großen Teil ihres Gebiets wollten sie natürlich nicht einfach so abgeben. Weil sie sich auf nichts einigen konnten, wollten sie durch Schiedsspruch entscheiden lassen, und als Schiedsrichter wählten sie zwei ganz objektive, vernünftige Männer namens... Hitler und Mussolini. What?! Beide hatten sich heimlich mit Hitler verständigt und waren sicher, er würde in ihrem Sinne entscheiden. Aber Ungarn hatte zusätzlich Mussolini auf seiner Seite, und der überzeugte Hitler, Ungarn vollumfänglich Recht zu geben. Mit den Ersten Wiener Schiedsspruch kam das Nordufer also nochmal für ein paar Jahre zurück nach Ungarn.

Über eine kleinere und sehr viel ältere Brücke radelten wir in die Stadt rein. Schranken, Kräne, Schornsteine und Rost, so richtig einladend war das alles nicht. Komárno (unnötige Eindeutschung: Komorn) ist etwas, das ich so weit vom Meer entfernt nicht erwartet hätte: Eine Werftstadt. Hier entstehen Donau- und sogar Hochseeschiffe für die Slowakei.

Dann aber bogen wir ab und standen urplötzlich in einer richtig gemütlichen Altstadt. Auf dem Klapka-Marktplatz musizierte ein Saxophonist, in den Restaurants klapperte das Besteck. Alles war ein bisschen niedriger und unaufgeregter als in Bratislava. Und es gab Schatten!
Der Platz wurde nach General Georg Klapka benannt, der da auch als Statue rumsteht. In seiner militärischen Karriere stand die Stadt immer wieder im Mittelpunkt, er hat sie gegen Russen und die Revolutionäre von 1848 verteidigt, wurde zwischendurch bei einer Belagerung komplett eingeschlossen und brachte es dabei zum provisorischen Kriegsminister und Abgeordneten.
Neben dem Schiffbau scheint die Stadt noch einen zweiten Wirtschaftszweig zu haben: Goldhandel und Pfandleihen. Die Stadt wimmelt von diesem Geschäftsmodell, das ich eigentlich nur noch aus Geschichten kannte. Im Dönerhandel dagegen bekleckert sich diese Stadt wirklich nicht mit Ruhm, sondern lediglich mit Tatarská und Ketchup.

In der eindrucksvollen Barockkirche haben alle Omis Stammplätze, die an der mit Vornamen beschrifteten Tüte zu erkennen sind. Darin steckt das Kissen, auf dass sie sich im Gottesdienst niederknien.
 
Von dem Fenster unserer Wohnung sahen wir direkt auf den Europa-Platz, ein etwas versteckter zweiter Marktplatz mit Hinterhof-Aura, der ursprünglich Teil einer Festung war. Um den Springbrunnen stehen die Statuen europäischer Monarchen. Nur der Sockel von Bela III. ist leer. Was hat er angestellt, damit er nicht gezeigt werden darf - eine Punkband gegründet?
Rundherum drängen sich 45 Häuser, die verschiedene Länder und Regionen in Europa repräsentieren sollen. Der genaue Plan, welches Haus welches ist, findet sich nirgendwo online, sondern nur versteckt in einer Ecke am Platz, damit alle erstmal raten. Das deutsche Haus (das Fachwerkhaus rechts) stammt als einziges nicht vom Ende des 20. Jahrhunderts, sondern ist das älteste der Stadt. Wir übernachten allerdings im rosaroten dänischen Haus in einer Wohnung, deren Architekt alles superfancy machen wollte, selbst wenn dafür die Funktion komplett baden geht, oder der komplette Flur, weil die Dusche ausläuft.

Preisfrage: Welches ist das tschechische Haus?
Das ganz rechts.
Wohl dem, der auf einem Kontinent lebt, auf dem Kriege durch solch fiesen Spitzen ersetzt wurden.

Doch in Komárno tobten vorher viele Kriege, natürklich auch wieder gegen die Türken. Die fette Festung hat einen massiven Wall aus Gras und Backsteinen, dahinter gehen die langen Kasernen los, die eine Hälfte weiß gestrichen, die andere heruntergekommen. Wer mehr sehen will, muss eine Führung mitmachen, die nur zweimal täglich startet.
Es war damals die größte Festung in Ungarn, und weder das Osmanische Reich noch die Revolutionäre von 1848 schafften es rein. Weder mit List noch mit Kraft soll irgendwo an der Spitze reingeschrieben sein. Mag sein, aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Die Türken gingen einfach außenrum und schafften es so bekanntlich bis kurz vor Wien.

Die Festung steht in der Landspitze zwischen Donau und Váh (Waag), der zentrale Fluss der Slowakei,  welcher der Donau jede Menge Wasser aus der Hohen Tatra mitbringt. Quasi die slowakische Moldau.

Unsere Räder stehen heute Nacht in einer Art Wäscheraum.

10 August 2025

Donau: Von Bratislava nach Vrakúň

Wir verließen Bratislava auf direktem Weg über die Alte Brücke, was eine gute Idee war, auch wenn mir zuerst eine Fahrschule abrupt in den Fahrradstreifen grätschte und dann zwei Polizeiautos darauf parkten.


Dafür waren wir ruckzuck auf dem Deichradweg am Südufer - und zur härtesten Etappe.
Wegen der mangelnden Einkehr- und Verpflegungsmöglichkeiten sollten sie diese Route sorgfältig planen!, warnt der Reiseführer. Wie um seine Worte zu verhöhnen, überhäufte Bratislava die ersten Kilometer mit Imbissen am Wegesrand. Außerdem ratterte ein leeres Kiesfließband unter dem Radweg hindurch (sonst führen die Dinger immer obendrüber) zu einem Altarm der Donau.

Während die letzten hochwertigen Speckgürtelhäuser und Luxuswohnungen verschwanden, genossen den Luxus, zwischen zwei Wegen wählen zu können: Dem Deichradweg und einer Art Fahrradstraße auf der anderen Seite des Grabens. Die Sonne stieg immer höher, und um uns gegen sie zur Wehr zu setzen, wechselten wir rechtzeitig auf die Fahrradstraße.

Denn direkt am Straßenrand sollte laut Google Maps ein Badesee liegen.
Lag er auch. Und was für einer!
Er heißt Rusovské Jezero (Rosa See? Rosensee? Russensee?) und hat eine tiefblaue Farbe, als käme er frisch aus den Alpen und nicht im flachen Grenzland zwischen der Slowakei und Österreich. Nichts wie hinein! Sogar unser Vater sah ein, dass ihm nichts anderes übrigblieb, nachdem er sich mit einer durchgeschüttelten Kofola-Flasche bekleckert hatte.
Das Wasser ist unglaublich klar (übrigens auch in den Flüssen und Gräben), silbrige Fische wuseln über dem steinigen Grund mit 1,5 Meter Sicherheitsabstand zu menschlichen Füßen herum. Wir schwammen hinaus und steuerten eine Insel an. Doch kurz vor dem Ziel, wir konnten bereits wieder stehen, richtete sich hinter einer Palisade aus geflochtenen Zweigen eine Slowakin auf und rief "Nuda, nuda!" Eine kleine Gemeinschaft scheint die Insel zu einem FKK-Resort ausgebaut zu haben. Da uns nicht der Sinn danach stand, die Badehosen auf den letzten Metern auszuziehen und dann durch die Gegend zu tragen, kehrten wir um.
Ein anderer Anziehungspunkt ist dieser Baum, an dem sich bereits ein paar teils mutige, teils zögerliche slowakische Kinder angestellt hatten. Das Wasser wird rasch tief, deshalb bietet er Möglichkeiten für mehrere Mutproben.
Level 1: Vom seitlichen Ast springen.
Level 2: Ganz weit raufklettern und das Seil der Schaukel herbeiziehen, dann wieder ein Stück runter und sich daran seitlich in den See schwingen.
Level 3: Wie Level 2, nur dass dabei eine Wespe auf dir herumkrabbelt.

Die Donau verbarg sich immerfort hinter Bäumen. Kleine Betonpyramiden wiesen darauf hin, dass wir uns noch immer im Grenzgebiet des ehemaligen Eisernen Vorhangs befanden und die österreichischen, ungarischen oder sonstigen Panzer nicht auf dumme Ideen kommen sollten, denn diese Teile machen bestimmt mehr als einen platten Reifen.
Kurz darauf bogen wir bei Čunčovo links ab. Wären wir geradeaus weitergefahren, wären wir kurz darauf in Ungarn gelandet. Nur ein kurzes Stück weiter rechts, hinter der Autobahn, liegt das Dreiländereck Österreich/Slowakei/Ungarn. Dadurch ist Bratislava die einzige Hauptstradt auf diesemm Planeten, die an zwei andere Staaten grenzt. Die ungarische Variante des Donauradwegs geht hier weiter durch die Städte mit den wunderbaren Namen Mosonmagyaróvár und Győr.

Wir haben uns aber aus verschiedenen Gründen entschieden, auf der slowakischen Seite weiterzufahren. Und das heißt, wir müssen jetzt zu einem Stausee. Es ist der größte der gesamten Donau und einer der merkwürdigsten, die ich je gesehen habe.
Die erste Staumauer hat die Aufgabe, ein bisschen Donau auszusortieren, das mehr oder weniger naturbelassen weiterfließen (und vorher ein bisschen Strom produzieren) soll, und den Rest schon mal kräftig anzustauen.
Als erstes fuhren wir über die ganz schmale Mosoni-Duna (Kleine Donau), die rein nach Ungarn und manchmal kurz am ungarischen Donauradweg fließt, wobei sie sich noch weiter aufteilt. Im Vergleich zum Rest ist sie aber wirklich eine Mini-Donau.

Als zweites holperten wir auf kleinen Blechplatten über sehr großen Blechplatten dahin. (Die Mutter bestand darauf, diesen schmalen Fußweg zu benutzen statt die stark befahrene Straße.) Unter uns rieselte und rauschte etwas Wasser auf die andere Seite und sammelte sich im alten Flussbett der Donau, das auch in heutigen Landkarten einfach Donau heißt.

Viel wilder ist das Wasser an diesem Rafting-Parcour für Paddler, das letztlich auch im alten Donau-Flussbett landet. (Auch anderswo waren Slowaken gerade dabei, ihre Schlauchboote vom Auto zu holen.)
Die weiten Auen und Arme dieser Donau waren die Heimat von Seeadlern, Großtrappen und anderer seltener Arten. Aber sie bereiteten den Menschen auch viel Kummer, vor allem 1965, als das größte Hochwasser jemals die Slowakei heimsuchte. 1977 schlossen die sozialistischen Bruderstaaten Ungarn und die Tschechoslowakei einen Vertrag über den Bau des Wasserkraftwerks, und trotz großer Proteste ging es los mit der Zerstörung einer einzigartigen Auenlandschaft. Weil das meiste auf slowakischer Seite liegen sollte, sollte Ungarn auch ein paar komplett slowakische Bauwerke bezahlen, aber der Strom sollte Hälfte-Hälfte aufgeteilt werden. Doch 1989 wurde der Umweltschutz in Ungarn ein viel größeres Thema. Die neue Regierung ließ die ökologischen Folgen genauer untersuchen und stoppte die Bauarbeiten einfach, ohne ihre Gründe zu verraten. Streit, erfolglose Verhandlungen, und sogar der Internationale Gerichtshof in Den Haag musste entscheiden, dass der sozialistische Vertrag von 1977 rechtmäßig war.

An der Spitze des Stauwehrs steht das Meulensteen Danubiana Art Museum. Ein Name, der in unserer Gruppe große Vorfreude und Erwartungen weckte.
Erwartungen wir: "Prima, da gibt es bestimmt ein Cafe und ein Klo."
Gab es nicht, zumindest für niemanden, der nicht erst einmal den Eintritt bezahlt. Durch den Zaun erspähte ich dieses Kunstwerk, das auf Englisch schlicht Transformation heißt, auf Slowakisch dagegen so viel wie... Erstes Selbstportrait? Okay, was sagt man zu einem Künstler, der sich selbst so wahrnimmt? Glückwunsch zur erfolgreichen Diät?
Zumindest gab es im Foyer den letzten kühlen Moment.

Und dann: Das hier.
Die Slowakei hat sichergestellt, dass 97,5 Prozent des Donauwassers auf ihrer Seite bleiben. Damit auch Platz dafür ist, hat sie 150 Kubikmeter Naturlandschaft weggebaggert. Das Ergebnis ist eine endlose Fläche namens Vodné Dielo Gabčikovo, durchsetzt mit kleinen Grasinseln und... Moment, sind das da hinten Schiffswracks?
Eine der größten Auswirkungen auf die Natur scheint zu sein, dass a) das Wasser auf einmal eine trübe dümpelnde Suppe mit Algeninseln ist und b) nur noch weiße Vögel überleben, von den aber echt viele in allen Größen. Das Ufer besteht aus Asphalt oder Betonplatten, die unter dem Unkraut manchmal kaum zu erkennen sein. Was für ein komisches Gewässer.
Wir gewährten einem Fahrzeug vom Water Management Vorfahrt, dann bogen wir ein auf einen der monotonsten Abschnitte des Donauradwegs. Und kamen dort richtig, richtig fix voran. Ausgerechnet auf der längsten Etappe bekam ich das Gefühl, dass wir uns endlich eingegroovt hatten.
Wir hatten genug Verpflegung, waren noch erfrischt vom Badesee, der auf diesem Abschnitt gefürchtete Gegenwind hielt sich sehr in Grenzen, und alles war asphaltiert.
Nur ein Problem gab es: Schatten. Denn Schatten gibt es auf dieser Strecke ungefähr so häufig wie Pride-Paraden in Afghanistan. Was zu abenteuerlichen Kopfbedeckungen mit nassen Lappen und schützenden Handtüchern führte, sodass ich eine Weile in Begleitung von Deichscheichen dahinradelte. Es gibt zwar Bäume auf diesem Streifen Land, aber sie sind einfach zu weit weg!

Wir erinnern uns: Daneben ist ja immer noch die Donau, also das alte Flussbett, das gar nicht mal so schmal ist. Sie ist jetzt die Grenze. Obwohl wir genau zwischen den Strömen fuhren, war diese Donau sehr schüchtern. Und so war das erste, was ich in meinem Leben von Ungarn sah, ein paar äußerst zaghafte Baumspitzen hinter slowakischen Bäumen.
Um mehr von Ungarn (das heißt, komplette Bäume) zu sehen, musste ich den Deich runter, die Straße überqueren und einem Waldweg folgen. Auch an diesem kurzen Erdstrand hatte sich bereits eine Familie zum Baden niedergelassen.

Nur ganz kurz ist diese Donaugrenze auch vom Radweg aus zu sehen, dort beginnt sie sich zu teilen, wobei ein Arm auch gleich von einem kleineren Wehr gestaut wird. Aber immerhin haben wir dank der ungarischen Umweltschützer der Wendezeit eine grobe Ahnung, wie die Donauauen in der Kleinen Ungarischen Tiefebene damals wohl überall ausgesehen haben.

Allmählich normalisiert sich die Landschaft ein bisschen, der Stausee verjüngt sich zum Privodný kanál, und die Donau entfernt sich ein bisschen lässt Platz für slowakische Dörfer, jedes mit einer silbernen Kugel auf einem Mast. Damit die auch irgendwie von der restlichen Slowakei aus gut erreichbar sind, pendelt eine Fähre nach drüben. Ein paar Autos standen an, doch der Fährmann war zunächst damit beschäftigt, sein modernes Schiff mit einem Wasserschlauch abzuspritzen.

Schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als über die Straße in den Schatten der Bäume zu fliehen. Dort kamen wir in Berührung mit der slowakischen Insektenwelt, die, ohne dass wir jetzt alle Arten bestimmen können, schon irgendwie anders aussieht. Neben einer ganz grünen Gottesanbeterin gehörten dazu viele kleine graue hüpfende Dreiecke.
Das Gras in der prallen Sonne war übrigens grün und saftig, es hatte wohl vom Regen der letzten Wochen gut getankt und profitierte natürlich auch von der Flussnähe.

An der Fähre stießen wir jedoch auf ein vergilbtes Schild.
Kotva Bufet, Ankerbuffet, 5 km? Mit großer Skepsis folgten wir dem Schild weiter den Deich entlang, dann runter auf einen alternativen Radweg am Waldrand (immer noch kaum Schatten), und schließlich rein ins nächste Dorf und... oho! Da ist es wieder, das paradiesische Blau von heute Morgen. Das Šulianské Jezero wurde bereits eifrig zum Baden genutzt, zum Springen gab es einen hohen Steg. Eine Familie plantschte liebevoll mit ihren Kindern, nur das behinderte Mädchen blieb an Land und sah von seinem Wagen aus zu. Zum Schwimmen war der See fast so herrlich wie der erste, abgesehen von einem einzigen scharfen Metallstück am Grund und der Tatsache, dass irgendwann Bojen den Badebereich begrenzten.
Und das "Buffet"? War natürlich ein Imbiss mit Holzbänken (diesmal abgedeckt mit Folie gegen tropfende Badegäste). Inzwischen war auch ich vom Englischen ins Tschechische gewechselt, und es funktionierte problemlos. Die Slowaken, die sich einst von einem fehlenden Bindestrich getriggert fühlten, sehen es nicht als Zeichen für tschechischen Zentrismus, wenn man ganz selbstverständlich auf Tschechisch bestellt und erwartet, dass jeder es versteht.

Endlich, endlich erschien am Horizont ein rostrotes Dreieck, welches das Ende der Strecke verkündete. Wir radelten abermals auf der Hauptstraße über eine Staumauer. Die Mauer von Gabčikovo hat acht Kaplan-Turbinen und macht aus dem aufgestauten Donauwasser Strom. Dabei ist die Mauer in der heutigen Form nur eine Notlösung, nachdem die Ungarn ausgestiegen waren - eigentlich waren mehr Turbinen auf ungarischer Seite geplant.

Damit sich die Menschen das Bauwerk ansehen können, wurde direkt unter das rostrote Kontrollgebäude eine Aussichtsplattform in derselben dreieckigen Form gebaut. Sehr schön, dass habe ich so noch nicht gesehen. Und über der Seite, wo das Wasser abfließt, ragt zusätzlich ein Glasbalkon in die Donau. Ich bin schon abgehärtet vom Arnhemer Kirchturm am Rhein, aber trotzdem... aiaiai, das geht tief runter, und wenn ich da unten lande, sind die Strömungen bestimmt richtig fies.

Durch zwei Schleusenkammern passieren die Schiffe durch das Bauwerk. Angeblich sind es jedes Jahr 15 000 Schiffe und 6 Millionen Tonnen Güter, die hier durchtuckern.
Ich habe da meine Zweifel, ob diese Zahlen noch aktuell sind. Obwohl wir heute die Donau fast die ganze Zeit im Blick hatten, war die Anzahl der Lastschiffe, die wir gesehen haben, Trommelwirbel:
3.
Sogar bei den Flusskreuzfahrtschiffen gab es eins mehr.
Was ist los mit der Wasserstraße? Wasser schien es genug zu geben, doch angesichts der ständigen Unsicherheit mit Niedrigwasser haben sich vielleicht mehr Unternehmen auf den Landweg zurückgezogen. Obwohl der Rhein ja schlimmeres Niedrigwasser zu haben schien, und dort ist trotzdem noch viel mehr Schiffsverkehr.

Das reicht für heute, waren schon deutlich über 50 Kilometer. Aber wohin nun? Direkt am Wehr stehen ein paar verfallene Bungalows, die laut Onlinebewertungen total heruntergekommen sind und in denen man sich nicht waschen kann. Üblich und unvermeidlich ist es daher, der Hauptstraße bis in die Stadt Gabčikovo hinein zu folgen. Aber selbst dort hatten wir nichts gefunden. Nein, die nächste freie Übernachtung gab es erst im Dorf hinter Gabčikovo namens Vrakúň, 10 Kilometer vom Ufer entfernt. So einen weiten Umweg nur zum Schlafen hatten wir noch nie gemacht. Immerhin mussten wir nicht die Straße nehmen, es gab auch eine Route über Feld- und Radwege.
Ohne Schatten, versteht sich.
Noch weiter hinten liegt übrigens die Stadt Dunajská Streda, also Donau-Mittwoch, oder eher Donau-Mitte. Hä, das ist doch total weitab von der Donau? Nicht ganz, hinter Dunajská Streda gibt es noch den Malý Dunaj, die slowakische Kleine Donau, die sich schon bei Bratislava abgespalten hat. Auch die Stauwehranlage konnte nicht ganz verhindern, dass die Donau hier ein weit verzweigtes Binnendelta hat. Manche sehen die Große Schüttinsel, auf der wir gerade fahren, als die größte Flussinsel Europas an. Inselflair kommt aber nicht auf.

Aber so weit wollen wir ja gar nicht, uns genügt Vrakúň. Die kurz gemähten und gesprengten Rasenflächen hinter abweisenden Mauern deuten darauf hin, dass es sich eher um ein wohlhabendes Dorf handelt. "Die bauen erstmal ne Mauer und überlegen dann, was reinkommt.", beschrieb unser Vater den Baustil.
Nur unser Hotel fällt da ein bisschen aus der Reihe. Das erkannten wir nicht nur daran, dass der Rasen einen Tacken höher wuchs. Sondern vor allem, weil über den Parkplatz ein brauner Hase hoppelte, welcher sich an besagtem Rasen gütlich tat. Zum Streicheln war er leider zu schüchtern.

Ganz anders dieses Kätzchen, das beim Frühstück um die Tische strich und um Streicheleinheiten bettelte. Leider war es in der Nacht offenbar in eine Wanne voll Klebstoff gefallen und hatte sich anschließend in einer Wiese gewälzt. Der Schwanz klebte am linken Hinterbein, es konnte nur ungeschickt durch die Gegend taumeln, und niemand wollte es in diesem klebrigen Zustand während des Frühstücks berühren.

Unsere Fahrräder übernachten in der Speisekammer zwischen Bierfässern und Kühltruhen. Damit sie auch genügend Platz haben, hauten wir abends im Restaurant kräftig rein.

24 April 2023

Eiserner Vorhang: Von Oberzech nach Aš

Die Böhmische Waldgrenze I

Länge: 20 km (24 km laut Beschilderung/App)
Grenzquerungen: 0 auf der Strecke (nur 1 am Dreiländereck und 1 per Bahn)
Länder: Deutschland (Bayern/Sachsen), Tschechien (Karlovarský kraj=Karlsbader Region)
Seite: nur Ost
Erkenntnis: Sogar in der evangelischsten Stadt Tschechiens reicht es nicht für eine komplette Kirche.

Die erste Etappe des tschechischen Eisernen Vorhangs beginnt in einem Zipfel in einem Zipfel: Am Dreiländereck von Oberzech streckt sich Tschechien so weit es geht nach Deutschland rein. Als erstes bin ich also aus dem Zipfel herausgefahren, dazu musste ich einfach nur dem Bach Rokytnice alias Regnitz folgen. Auf seinem Wasser verläuft die Grenze.
Das Grüne Band in Tschechien ist nicht nur grün und gelb, sondern auch noch weiß: Im Tal blühen die Buschwindröschen. Kaum zu glauben, aber in diesem unberührten Sumpf lebten vor nicht allzu langer Zeit Menschen. Das Dorf Kaiserhammer war bekannt für das Bier in seinem Gasthaus, die älteste Mühle an der Rokytnice und seinen Bergschiefer. Die Bergleute suchten im Bach auch nach Zinn und Eisenerz.
Kaiserhammer musste gleich aus zwei Gründen weg: Erstens stand es nah an der Grenze in einem sozialistischen Staat, und zweitens war das Dorf größtenteils von Deutschen bewohnt, und das in einem Staat, der gerade erst von Deutschen überfallen worden war. Zwangsaussiedlung und Vertreibung fielen an diesem Ort zusammen, die Informationstafel spricht trotzdem beschönigend vom "Auszug" der Bevölkerung.
Einziger Überrest ist ein schiefes Sühnekreuz. Es erinnert an ein brutales Duell, bei dem ein Offizier den anderen erstach. Zur Strafe sollte er am Ort des Verbrechens dieses Kreuz zurechthauen.

Das Tal ist der einzige Ort in Tschechien, an dem die bedrohte Flussperlmuschel lebt. Früher suchte so mancher Tscheche die Muscheln nach Perlen ab - aber nicht aus Gier oder Böswilligkeit gegenüber der Natur, sondern um sein täglich Brot zu verdienen und zu überleben, wie die Infotafel klarstellt.
Schilder informieren per skizzierter Landkarte, welche Teile der Natur geschützt sind und aufgrund welcher Paragraphen sie nicht betreten werden dürfen.
Nach kurzer Zeit teilt sich die Rokytnice in zwei Quellbäche, den Ziegenbach, der auf Tschechisch immer noch Rokytnice heißt, und den Aubach alias Lužní potok, der von jetzt an die Grenze bildet. Er ist etwas stärker mit Bäumen bewachsen, der Idylle tut das kaum einen Abbruch. Was für ein herrlicher Waldweg, es war eine super Idee, durch Tschechien weiterzufahren!

Auf ehemaligen Grenzkontrollweg (auf Tschechisch Signálka) radelte ich allmählich eine Etage höher den Hügel hinauf und stieß bald auf eine Meinungsverschiedenheit: Die Schilder und meine App wiesen mich nach links, in einen Ort namens Hranice (das bedeutet buchstäblich Grenze) mitsamt dem Vorort Trojmezí (das bedeutet buchstäblich Dreiländereck, wirklich einfallsreiche Namen). Die analoge Karte aber sagt, ich soll geradeaus dem Radweg Nr. 2058 folgen. Diese kurze Route hatte ich auch eingeplant, mit der längeren wäre womöglich die Zeit knapp geworden.

Doch offenbar war meine Sehnsucht nach Deutschland schon nach einer halben Stunde derart stark, dass ich versehentlich vom Radweg 2058 abkam und noch weiter westlich auf einem wilden Waldweg strandete, der sich immer mehr zwischen Moos, Tannenzapfen und einer enormen Pfütze verlor. Uff, lieber weg hier. Notfalls schiebe ich eben quer über die Wiese zum richtigen Weg.

Joa, nur ist der ganz offizielle Iron Curtail Trail (bei dem sich all meine Karten wieder einig sind) auch nicht viel besser. Eigentlich sollte sich der Kiesweg jetzt in Asphalt verwandeln. Stattdessen wurde alles noch schlimmer.
Ich meine, ja, im Prinzip ist da Asphalt. Und ja, in der Wegbeschreibung stand was von Schlaglöchern. Dort wurde aber nicht erwähnt, dass es im Grunde nur zwei langgestreckte Schlaglöcher sind, die den gesamten Weg umfassen. Was ist denn bitte mit diesem Asphalt passiert, wurde der von Thors Hammer zertrümmert? Langsam verstehe ich, warum kaum ein Deutscher oder Tscheche Lust verspürte, an diesem herrlichen Frühlingstag ausgerechnet diesen Radweg zu erkunden, trotz der vielen Rastplätze und herrlichen Natur: Der holprige, ständig wechselnde Belag nervt halt. Von der Elbe weiß ich: Das kann Tschechien viel besser! Nur Waldarbeiter fuhren mit ihren Autos herum und gingen verschiedensten Waldarbeiten nach.

Weitere Hindernisse: Eine Schranke und die nächste Megapfütze.

Bisher hatte ich folgende Vorstellung: Die Grenze der anderen Ostblockstaaten war im Prinzip wie die der DDR, nur etwas weniger extrem. Das ist so nicht korrekt. Die Tschechoslowakische Sozialistische Republik machte einiges anders als die DDR, übertrieb dabei zum Teil noch viel mehr und musste deswegen schon in den 60ern, deutlich früher als die DDR, massiv zurückrudern.
Bis zu 15 Kilometer vor der Grenze musste man eine Genehmigung vorzeigen (das sind 10 Kilometer mehr als in der DDR), acht Kilometer vorher wurden alle Wegweiser abgebaut, und zwei Kilometer vorher (das sind 1,5 Kilometer mehr als in der DDR) durfte absolut niemand außer den Soldaten rumlaufen. Das war einfach dermaßen unpraktisch, dass die 15-Kilometer-Zone nachträglich auf drei Kilometer reduziert werden musste.
Statt Streckmetall setzte die ČSSR auf normalen Stacheldraht, statt gepflügter Erde verstreute sie Sand, um Fußspuren zu erkennen. Und vor allem benutzte sie statt Selbstschussanlagen Drähte mit 5000 Volt. Einen tödlichen Stromschlag erlitten so nicht nur Flüchtlinge, sondern auch umfallende Bäume, Tiere und mehrere Grenzsoldaten. Deswegen wurde der Zaun auf eine nicht tödliche Spannung herabgesetzt, die nur Alarm bei den Soldaten auslöste. Und das ganz ohne irgendeinen Micháil Gartenschlegr, der ein paar Volt klauen musste. Einfach nur, weil die Entscheidungsträger dermaßen blöd waren, dass sie einen Teil ihrer eigenen Blödheit von allein erkannt hatten.
Auch wenn der Elektrozaun 1991 abgebaut wurde, trauen sich tschechische Hirsche bis heute nicht über die imaginäre Linie.

Ein Imker nutzt den ehemaligen Grenzstreifen, um dort einen Tisch voller Bienenstöcke aufzustellen. Im Kalten Krieg hätte er die ČSSR womöglich auf dumme Ideen gebracht, zum Beispiel auf jedem Grenzkilometer 5000 aggressive Bienen pro Grenzkilometer zu halten und die Zahl dann, nachdem die eigenen Soldaten völlig zerstochen zurückgekommen sind, auf fünf Bienen zu reduzieren.

Der zerkloppte Asphalt geht in immer größeren Bögen auf und ab. (Achterbahnfans sprechen in diesem Zusammenhang von Camelbacks). Die beiden größten Gipfel haben sogar Namen. Der erste heißt Mlýnský vrch (Mühlenhöhe). Diesem Namen wird er voll und ganz gerecht, denn er ist bedeckt mit Windrädern.
Oben angekommen fiel mir ein seltsamer Turm am Horzont auf. Ist das schon der Bismarckturm von Aš? (Einer von nur drei Bismarcktürmen in Tschechien. Kein Wunder, Bismarck ist dort vermutlich weniger beliebt.) Nee, die Richtung passt überhaupt nicht, das muss irgendein bayrischer Turm sein. An dieser Stelle ragt Tschechien sogar noch weiter nach Deutschland hinein - nicht am Dreiländereck vorhin, sondern hier am Mühlenberg liegt Tschechiens westlichster Punkt, behauptet ein Wegweiser.

Der zweite Berg heißt Štítarský vrch, versteckt sich halb im Wald, ist mit einer Rasthütte ausgestattet und sogar zum Teil richtig asphaltiert. Alle fünf Meter durchzieht eine schräge Rinne den Asphalt, durch die wohl Regenwasser abfließen soll. Hoffentlich bleibe ich da nicht drin hängen, wenn ich mich gleich mit einem Affenzahn von der Schwerkraft runterziehen lasse.

Kurz vor dem Ziel treffe ich zum ersten Mal auf Gleise. Das kleine Städtchen Aš (eingedeutscht Asch) hat sage und schreibe drei Bahnhöfe. An den ersten beiden hält aber kein internationaler Grenzverkehr (Ich weiß, bei dem Anblick dieses Bahnhofs ist das sehr überraschend), sondern nur die Bummelbahn nach Hranice. Mein Ziel ist Bahnhof Nr. 3.

In Aš gibt es sogar eine Fahrradstraße. Naja, oder zumindest irgendetwas in der Art. Mit dem Asphalt bekommen die das nicht mal innerorts so richtig hin.
Dieser Weg brachte mich direkt ins Herz und Highlight von Aš: Dem Park.

Dieses gelbe Schlösschen ist das Ašer Rathaus. Es war einst von ganz ähnlichen Häusern umgeben, die einen typisch tschechischen Arkarden-Marktplatz bildeten. Damit man sich das heute vorstellen kann, braucht es eine Menge Phantasie. Nur das sture Rathaus hat den Lauf der Geschichte überdauert: Nach dem Stadtbrand 1814 benötigte es zum Beispiel bloß ein neues Dach, während ringsherum alles zerstört war. Damals wurde der komplette Verkehr durch den Rathausbogen durchgeleitet. Ursprünglich gehörten Teile des Rathauses den umliegenden Gemeinden, aber die Städter kauften ihnen ihre Anteile einfach ab. Und weil sie immer noch nicht genug Platz zum Verwalten hatten, setzten sie noch ein Stockwerk obendrauf, in einer, wie die Infotafel meint, "aufdringlichen Architektur". Ich schätze, um als Gebäude in Aš zu überleben, muss man auch etwas aufdringlich sein. Im Sozialismus diente das Haus zwischendurch als Museum und Bücherei.
Die Häuser rundherum hatten weniger Glück, sie brannten 1814 ab, wurden später zerbombt oder sind zerfallen, als sie ungenutzt in der Grenzzone herumstanden. Die Einwohner haben dann Nägel mit Köpfen gemacht und die letzten Reste abgerissen. Wer sagt denn, dass nur der tschechische Standard-Marktplatz gut aussieht? Wenn man die Wohnblocks bunt anmalt und dazwischen Grünanlagen pflanzt, dann ist die Stadt doch auch sehr einladend!

Ganz besonders, wenn der Park mit alten Mauerbögen, neuen Hängebrücken und kreativen Spielplätzen ausgestattet ist.

Mitten im Park steht kein anderer als Martin Luther, denn hier findet sich das einzige Lutherdenkmal in Tschechien. Die Statue wurde in Nürnberg gegossen und zu Luthers 400. Geburtstag aufgestellt. Aš war eine evangelische Stadt, und nach dem Dreißigjährigen Krieg durfte die Gemeinde ihren Glauben behalten und sich dem evangelischen Oberkirchenrat in Wien anschließen. Nach der "zwangsweisen Aussiedlung" der Deutschen (diesmal beschönigt die Infotafel nichts) erhielt die tschechische evangelische Landeskirche das Gebäude, und die ganz wenigen tschechischen Protestanten hatten auf einmal einen üppigen Barockbau mit 2500 Sitzplätzen.
Die Betonung liegt auf hatten.
1960 war die Kirche fast fertig saniert und alle Kriegsschäden beseitigt. Dann explodierte ein Heizofen und alles brannte wieder ab. Heute liegen im Park nur noch die Grundmauern und ein paar Grabplatten.

Ich musste noch ein Weilchen die Wellen der Hauptstraße auf und ab radeln, bis ich endlich den Abzweig zum Bahnhof entdeckte.
Auf der Bahnstrecke ins bayrische Selb-Plößberg ereignete sich 1952 eine tiptop organisierte und völlig reibungslose Flucht. Ein Lokführer und ein Fahrdienstleiter hatten von Widerstandskämpfern erfahren, dass Haftbefehle gegen sie beide vorlagen, weil sie anderen zur Flucht verholfen hatten. Sie luden ihren Zug voll mit einer letzten Ladung Flüchtlinge, denen ebenfalls Gefängnis oder Todesstrafe drohten. Dann ließen sie den Zug von Komplizen im Stellwerk illegal nach Bayern umleiten.
Ich brauchte zwar keine Komplizen im Stellwerk, aber so einfach wie gedacht war die Rückreise dann doch nicht. Zunächst einmal musste ich feststellen, wie zum Geier man überhaupt in diesen Baustellenbahnhof reinkommt und wo das richtige Gleis ist. Dann musste die Dame am Schalter irgendwo anrufen, weil sie nicht wusste, ob das 49-Euro-Ticket schon für diesen Grenzbahnhof gilt.

Und schließlich, als die bayrische Bahn endlich losfuhr, kontrollierte mich gleich zweimal die Polizei: Am ersten deutschen Bahnhof in Selb wollte man nur meinen Ausweis, doch als ich in Hof Hbf ausstieg, checkte ein zweites Team meine Taschen höflich nach Rauschgift und Feuerwerkskörpern. (Merke: Bei internationalen Radtouren nie wieder Jogginghose anziehen, das wirkt verdächtig.)
Zugegeben: Wenn das die intensivsten Kontrollen sind, die ich an den Grenzen meiner Heimat Zeit meines Lebens erleben werde, dann habe ich wenig Grund, mich zu beschweren. Und doch hat sich etwas verändert, seit der Iron Curtain Trail angelegt wurde: Das offene Europa, welches die Radroute zelebrieren soll, hat seine Unschuld verloren. Was das bedeutet, werden wir sehen.