Posts mit dem Label Bifurkation werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Bifurkation werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

01 November 2022

Ems: Von Hövelriege nach Gütersloh

Ems-Tag I

Blutiger Boden - Quellenangaben jenseits der Welt - Wirkliche Wildpferde! - Ein Bi-Bach - Vollkommen objektiv-neutrale Argumentation für chemische Pflanzenschutzmittel - Mühlen - Der grüne Fluss und das weiße Haus - Wohin Bundesgartenirrwege führen - Die Stadt der Kaffeemaschinen

Die Ems ist zwar kein Nebenfluss der Weser, aber der einzige große Fluss in Niedersachsen, der mir noch fehlt - und über die Hase immerhin mit den Weserflüssen verbunden.

Los geht es aber erst einmal in NRW. Emsradler starten entweder im nahen Paderborn oder in Hövelhof. Ich bin noch eine Station weitergefahren und in Hövelriege ausgestiegen. Wenn man die Gedenkstätte Stalag besuchen möchte, ist es von dort aus kürzer. Der Bahnhof Hövelriege ist eigenartig: Er hat ein Gleis, aber zwei Bahnsteige, auf jeder Straßenseite einen. Wozu? Da werden wohl kaum zwei Züge gleichzeitig halten, nur um wenige Meter später zusammenzustoßen.


Einige Kilometer entfernt stand ein Gefangenenlager, in dem im Zweiten Weltkrieg sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert waren. Daran erinnert die Gedenkstätte Stalag in Stukenbrok-Senne. Wo auch immer sie sein mag. Dort, wo sie eigentlich sein sollte, befand sich das verschlossene Tor einer Polizeischule (das zweite Tor ist verschlossen, das erste nicht).

Dafür habe ich den Friedhof der Kriegsgefangenen gefunden. Der Reiseführer hat sich nicht getraut zu  erwähnen, was denn nun mit ihnen passiert ist, ich erfuhr es erst von dieser Steintafel. Dass es nichts Schönes ist, hatte ich mir schon gedacht. Doch es war noch schlimmer, als ich vermutet hätte: Jeder einzelne wurde zu Tode gequält. Unvorstellbar.

Hinter Stukenbrock-Senne beginnt das Naturschutzgebiet Moosheide. Das ist ein wunderschöner Wald, in dem sogar größere Flecken Heidekraut blühen. Er gehört zu einer größeren Landschaft, die sich Senne nennt.
Es ist herrlich hier, aber da ich noch etwas verstört von dem Friedhof des Grauens war, erinnerte mich das Heidekraut an auslaufendes Blut (auf dem Foto sogar noch mehr, weil meine Kamera es ein bisschen unscharf fotografiert hat). Gleich nebenan weisen Warnschilder auf eine militärische Sperrzone hin, in der Schusswaffen gebraucht werden. Doch selbst in den Pfützen der Panzertracks und Feuerschutzstreifen leben seltene Amphibienarten.

In der Senne wollte lange Zeit kein Schwein leben. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg motivierten die Adligen ein paar Menschen, sich hier niederzulassen. Sie wählten das geringste Übel und suchten sich Grundstücke an den Bächen, zum Beispiel der Ems, wo sie zumindest genug Wasser hatten. Dort bauten sie viele massenweise Wassermühlen, um das Maximum aus der Wasserkraft herauszuholen. Denn mit dem trockenen Sandboden war gar nix los, es brauchte extrem viel Aufwand, damit da irgendwas Essbares drin wuchs. Um irgendwie zu überleben, mussten die Männer im Sommer in Norddeutschland und Holland arbeiten gehen, meistens als Ziegler oder Grasmäher. Die Frauen waren dann allein für den Bauernhof und alle Tiere zuständig, was auch sauviel Arbeit war.

Eine der Tierarten, um die sich die Frauen kümmern mussten, war Deutschlands älteste Pferderasse. Die weißen Senner Pferde leben hier bis heute, und zwar wild - oder besser gesagt, halbwild, so werden sie schon seit Jahrhunderten gehalten. Die Pferde sind schon in einem Gehege, aber meistens werden sie von den Menschen in Ruhe gelassen, Hauptsache sie futtern und pflegen die Landschaft. Dadurch sind sie dermaßen gechillt, das zwei von drei Pferden entspannt auf der Wiese liegen. Dabei hatten es die Senner Pferde früher alles andere als gechillt: Die Senne hat nur wenige Wasserstellen und vor dem 19. Jahrhundert hatten die Pferde im Winter keinen Stall, der sie vor der Kälte schützte. Durch natürliche Auslese wurden die Pferde total hart und robust, deshalb werden sie auch gern geritten.
Anders als in der Geltinger Birk an der Ostsee habe ich die Wildpferde tatsächlich gesehen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Es war fast ein bisschen surreal, die weißen Wesen plötzlich im Wald liegen zu sehen, ein bisschen wie Einhörner, aber ohne Horn.

Emsquellen stand immer wieder auf den Wegweisern, da will ich hin. Warte mal, Quellen? Ich dachte, die Ems hätte nur eine Hauptquelle. Hat sie eigentlich auch.
Der letzte Wegweiser führte mich zu einer Holztreppe, wo ich in die untere Etage der Senne hinabstieg.
Die Emsquelle verbirgt sich in einem geheimnisvollen grünen Tal, ein magischer, zeitloser Ort, an dem das grünliche Licht durch tausende Blätter gefiltert wird. Für eine Weile fühlte ich mich abgeschnitten von der hektischen Welt da oben. Abgesehen vom Holzsteg ist alles in diesem Tal unberührt - auch die Quelle. Das Wasser sickert ganz natürlich aus der dunklen Erde, zwischen Farnen und Blättern hervor, ohne irgendwelche Brunnen, Rohre oder Mauern. Ich habe schon viele Quellen größerer Flüsse gesehen, aber keine war derart naturbelassen (die Eder ist so ähnlich, aber weniger beeindruckend, und sie war früher mal in Stein gefasst).
Wo genau das Wasser rauskommt, kann ich nicht sagen. Die Erde wird halt ganz allmählich nasser und nasser, doch das Wasser sieht völlig still und unbewegt aus. Könnte also sein, dass an mehreren Punkten etwas rauskommt, dann wären es gewissermaßen wirklich mehrere Quellen, wenn auch dicht beieinander.

Ein paar Meter weiter ist zu erkennen, wie ein ganz leichtes Zucken die Pfütze durchläuft. Eine unsichtbare Kraft scheint ganz sachte an der Ems zu ziehen, und sie beginnt zu fließen.

Ab jetzt wächst die Ems rasant heran. Zehn Meter später ist sie schon ein Bach, der kräftig plätschert. Hier verlässt der Holzweg das wundervolle Tal wieder. Der Emsquellen-Wanderweg geht oben am Rand des Tals weiter, wo der Bach durch das Dickicht nur noch spärlich zu erkennen ist. Nach einer Weile entfernt sich der Wanderweg noch weiter vom Tal, daraufhin bin ich zu meinem Fahrrad zurückgekehrt. Das schönste Stück des Wanderwegs habe ich jedenfalls gesehen.

Der Emsradweg ist wirklich gut erschlossen, und rund um die Quelle wird alles getan, um Radreisende anzulocken. Ein groß gepflastertes Logo des Emsradwegs markiert den offiziellen Startpunkt, dazu gibts kostenlose Toiletten und eine Trinkwasserpumpe.

In Stukenbrock-Senne steht das Ems-Erlebniszentrum, und nahe der Quelle steht das Ems-Infozentrum. Die beiden werden bestimmt öfter mal verwechselt. Merke:
Das Erlebniszentrum ist größer, hat diversen interaktiven Erlebniskram für Kinder und kostet Eintritt.
Das Infozentrum ist bloß ein Raum in einer modernen Scheune und kostenlos. Als sparsamer Student habe ich mich natürlich dafür entschieden. Eine große Landkarte, Fotos und Modelle zeigen die einzelnen Regionen an der Ems. Für ein Gratismuseum ist das echt nett gemacht, nach ein paar Minuten war ich dann aber auch durch.

Dahinter beginnt eine Straße, die noch einmal über das Tal der jungen Ems führt. Das Wasser ist noch weiter angeschwollen - wie es wohl aussieht, wenn ich die Ems nach 10 Kilometern wiedersehe? Inzwischen erstreckt sich der geheimnisvolle Wald nur noch auf einer Seite und sieht daher nicht mehr ganz so geheimnisvoll aus. Auf der anderen Seite ist Acker.

Nach ein paar weiteren Heideflächen endet die Senne und ich bin an dieser Straße herausgekommen.
Da stand ein seltsames Schild. Sind das kyrillische Buchstaben oder... ach nee, der Text steht auf dem Kopf. Nach einer leichten Verrenkung las ich, die Bundeswehr habe die Straße für eine Militärübung gesperrt. Seltsam. Heißt das, die Panzer fahren falschrum? Quatsch, das Schild wird umgeklappt, wenn die Straße blockiert ist.

Die Ems fließt hier nicht am Radweg, dafür bin ich dem Krollbach begegnet. Der ist auch was Besonderes. Am Ortseingang von Hövelhof liegt nämlich die Krollbachbifurkation. Der Krollbach teilt sich in zwei Bäche. Einer landet über die Lippe im Rhein (links), der andere folgt der Straße durch kleine Betontunnel nach Hövelhof und landet schließlich in der Ems (Mitte).
Nach der Hase ist schon die zweite Bifurkation, die ich gesehen habe. Diese hier sieht natürlicher aus, weil an der eigentlichen Teilung keine Betonwand aufragt, stattdessen ist es überall grün. Nur ein kleiner Steinsteg ist vorhanden. Dafür ist die Krollbachbifurkation nicht so gut ausgeschildert.
Nebenan erstreckt sich ein Hochwasserrückhaltebecken. Wenn das Hochwasser die Wiesen flutet, ist die Bifurkation vermutlich nicht so gut zu erkennen.

Die Stadt Hövelhof wurde nach einem Bauernhof benannt, der aber vor über 100 Jahren abgebrannt ist. Zu Essen gibt es dort trotzdem genug: Als ich ein paar Lebensmittel kaufen wollte, verlief ich mich in einem übergroßen Edeka. Außerdem bestaunte ich eine weiße Kirche mit Glasdach. Von der einen Seite (am Turm) sieht sie aus wie eine historische Österreicher Dorfkirche, von der anderen Seite wie ein komisches Kongresszentrum.

Irgendwo hinter Hövelhof stieß ich wieder auf die Ems, die sich vom Bach zum kleinen Fluss entwickelt hat. Wahnsinn, wie schnell die wächst! Hahnenfuß treibt darin, also diese Pflanze, die ständig in der Strömung herumschwimmt und die Wasseroberfläche wie eine Wiese aussehen lässt. Das Wasser ist so grün und voller Pflanzen, dass es nur schwer vom grünen Ufer zu unterscheiden ist. Eine Weile verläuft der Radweg direkt neben dieser grünen Linie, aber nicht die ganze Zeit.

Auf diesem Hof wurde einfach mal ein Gedenkkreuz für alle aufgestellt, die... nein, nicht für Kriegsopfer, sondern einfach für alle, die auf dem Bauernhof gestorben sind. War die Feldarbeit damals so tödlich?
Vielleicht bezieht sich das Kreuz aber auch auf die Schlacht vom Haselkamp, von der eine Infotafel berichtet. Der Haselkamp war eine regional wichtige Handelsroute, die hier die Ems überquerte. Manchmal schauten dort Teile der spanischen und niederländischen Armee vorbei. Eigentlich sollten die drüben in den Niederlanden gegeneinander kämpfen, aber ab und zu terrorisierten beide zur Abwechslung auch die westfälischen Bauern. In einem Winter töteten Leute aus Detmold zwei spanische Offiziere, daraufhin rasteten die Spanier völlig aus. Ausgerechnet jetzt war der Boden gefroren, sodass der Sumpf den Einwohnern keinerlei Schutz bot.
Als der Graf von Rietberg hörte, wie die spanischen Söldner sein Volk abgeschlachtet hatten, tat er das einzig logische und bot einigen aufgrund ihrer überzeugenden Leistungen selbst einen Job an.

Was ist denn hier passiert? fragt das Schild am Maisfeld. Gute Frage. Hier haben die Landwirte auf alle Pflanzenschutzmittel verzichtet, um mal zu zeigen, warum die Chemie ihrer Meinung nach so wichtig und unverzichtbar ist. Das Pflanzenwachstum wird um durchschnittlich 50 Prozent reduziert. Stimmt, die Maispflanzen waren halb so groß und von einem dichten Netz aus Schlingpflanzen umrankt. Die Maiskolben sahen interessanterweise genauso groß und dick aus.

Die Ems bildet einen kleinen See, der insbesondere Anglern gefällt, und dann einen kleinen Wasserfall, der insbesondere mir gefällt.

Hinter der nächsten Kurve wird es noch schöner. Ein Altarm der Ems umschließt viele kleine Seen, auf denen sich Vögel niedergelassen haben. Dieses Naturschutzgebiet nennt sich Steinhorster Becken und wurde künstlich angelegt, damit sich die Tierarten irgendwo vor all der intensiven Landwirtschaft  verstecken können.
Inzwischen habe ich rund um Niedersachsen viele solcher Vogelseenlandschaften kennengelernt. Sie sind sich recht ähnlich und ich fahre da immer wieder gern durch, auch wenn sie nicht den entrückten Zauber der Emsquelle haben. Dafür ist dieses Naturschutzgebiet auch zu beliebt, Spaziergänger, E-Biker und Hundebesitzer hatten sich bereits alle Bänke geschnappt.
Zuerst konnte ich es von einem Aussichtsturm beobachten...

...und kurz darauf bin ich lange auf einem Kiesweg nebenhergefahren. Mann, das ist ja echt groß! Ach, da hinten steht wieder irgendwelche Industrie, die Normalität kehrt zurück.

Die Affägermühle scheint mir nicht für Anfänger unter den Müllern geeignet zu sein, dazu ist sie viel zu abgewrackt.
Einige Staustufen, die nicht mehr gebraucht werden, wurden inzwischen entfernt, da in der EU möglichst natürliche Gewässer erwartet werden.

Das blaue Schild Geteilter Fuß- und Radweg kenne ich seit dem Kindergarten. Das blaue Schild Geteilter Reit-, Fuß- und Radweg kenne ich erst seit diesem Tag.
Dieser gedrittelte Weg folgt wieder einmal dem grünen Wasserband bis nach Herzlake. Weil alle Altarme abgeschnitten wurden, fließt die Ems "über" der Landschaft, also höher als der Rest.

So gelangte ich nach Rietberg. Das ist ein süßes Städtchen aus weißen Fachwerkhäusern und grünen Bäumen. In dieser Gegend von NRW müssen Fachwerkhäuser zwingend weiß sein, das ist einfach so. Den ganzen Tag habe ich diese weißen Häuschen gesehen, aber nirgendwo so viele wie in Rietberg. Experten nennen sie Fachwerk-Ackerbürgerhäuser und schaffen damit ein weiteres Wort, das Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, das Fürchten lehrt.
In der Altstadt können zwar überall Autos fahren, aber es sind so wenige und so langsame, dass die kleinen Straßen trotzdem sehr angenehm sind. Kein Wunder, dass die Radfahrer alle gern draußen vor den Restaurants saßen.

Ein metallener Roboter-Pegasus bewacht das Haus eines Skulpturenbauers.

Am Ortsausgang von Herzlake befindet sich ein Bibeldorf, das offenbar aus einem großen göttlichen Parkplatz und einem gelben Gebäude besteht - unter einem Dorf habe ich mir etwas mehr vorgestellt. Einem Schild entnahm ich, dass die lokale evangelische Kirchgemeinde das Ding betreibt. Da norddeutsche Protestanten so ungefähr die harmloseste Religion der Welt sind, gehe ich mal davon aus, dass da keine allzu radikal-christlichen Inhalte vermittelt werden.

Kurz darauf konnte ich in einem extrem abgeranzten Aussichtsturm einen extrem eingeschränkten Blick auf den Emssee werfen. Der wurde nicht von Gott geschaffen, sondern von Menschen, die Sand für den Bau von Umgehungsstraßen entnommen haben. Bei Hochwasser ist er mit der Ems verbunden. Dadurch können einerseits Fische reinschwimmen und in Ruhe laichen, andererseits kommt auch jede Menge schädlicher Schlamm rein. Die Ems ist hier nämlich schon ziemlich stark verschmutzt.

Aus einem Gehege starrten mich ein paar Wildtiere hypnotisiert an. Andere rupften weiterhin ganz entspannt Gras. Erst als ich an ihnen vorbeifuhr, flohen sie. Allerdings nicht vor mir, sondern vor einigen Kindern, die auf sie zurannten. Offenbar sind sie Teil eines Erlebnisbauernhofs, ob sie nun wollen oder nicht.

Herzlake war nur der Anfang, jetzt folgt die Doppelstadt Rheda-Wiedenbrück.
In Wiedenbrück habe ich eine Kirche mit angedocktem Stadttor entdeckt, selbstverständlich in Weiß. Darin lebten früher Franziskanermönche. 

Hier drehen sich gleich drei alte Mühlräder nebeneinander. Da die dazugehörige Mühle nicht zu sehen ist, tun sie das vermutlich nur zu dekorativen Zwecken. Vor der Mühle war 1853 ein Staubecken, das zum ersten Freibad der Stadt wurde. Inzwischen liegt das Freibad woanders und hat ein Hallenbad zur Gesellschaft bekommen. Ich überlegte, dorthin zu gehen, da kam mir auf einmal die Feuerwehr entgegen. Als ich das Schwimmbad erreichte und die Feuerwehr direkt davor parkte, überlegte ich es mir anders. Irgendwas muss da passiert sein. Vor dem Eingang sprach ein Feuerwehrmann relativ entspannt mit den Leuten, also hoffentlich nichts Schlimmes.

Wiedenbrück hat richtig viele Brücken, auf denen ich immer wieder das Ufer wechseln sollte. Die meisten waren grau und unauffällig. Die einzige coole Brücke durfte ich nicht benutzen, die war nur für Fußgänger. Diese moderne rot-blaue Konstruktion windet sich über der Ems hin und her, verzweigt sich dann und endet per Wendeltreppe an zwei verschiedenen Orten am anderen Ufer. Vermutlich nicht gerade der effizienteste Weg, um den Fluss zu überqueren, aber der schönste.

Ich vermute, diese Brücke ist ein Überbleibsel der Bundesgartenschau. Denn hier sollte nun der Flora-Westfalica-Park liegen, wo die BUGA stattgefunden hat. Ich sah bloß ein paar Wiesen mit Skaterampen, Wohngebiete und wunderbar wilde Wucherwände zu beiden Seiten des Radwegs. Herrlich! Aber ein Park oder Garten in dem Sinne ist das jetzt nicht.
Auf jeden Fall war ich so begeistert von all dem Grün und dem traumhaften Radweg, dass ich einfach geradeaus weitergefahren bin. Erst nach mehreren Kilometern fiel mir auf, dass gar nicht der Emsradweg ist, sondern ein paralleler Bahnradweg.

Also bin ich ein Stück umgekehrt, um auch noch etwas von Rheda zu sehen. Da steht ein Wasserschloss an der Ems. Der größte Teil ist privat, von einem kleinen Kutschen- und Spielzeugmuseum mal abgesehen.

Zur Anlage gehört eine weitere Wassermühle. Die Ems hat wirklich viele von den Dingern.

Dann habe ich Rheda durch diesen hässlichen Tunnel verlassen.

Zum Schluss habe ich einen Abstecher nach Gütersloh gemacht, diese Stadt liegt nicht direkt an der Ems. Dazu bin ich lange den Schienen und einer Straße mit roten Pflasterradwegen gefolgt.
Inzwischen bin ich gar nicht mehr so weit entfernt von den großen Industrie-Ballungsgebieten. Gütersloh ist so etwas wie die Schnittstelle zwischen den beiden Seiten Nordrhein-Westfalens: Einerseits sitzen hier bedeutende Unternehmen wie Miele (die mit den Kaffeemaschinen), andererseits ist die Stadt nicht längst nicht so hässlich, wie man es bei dem Namen Gütersloh erwarten würde, und es haben sich sogar ein paar der idyllischen weißen Fachwerkhäuser vom Lande hierher verirrt. Das liegt daran, dass Gütersloh lange Zeit nur ein Dorf war  und dann plötzlich (150 Jahre sind historisch gesehen ja quasi plötzlich) ein ganz wichtiger Industriestandort wurde.
Die Apostelkirche war fast 250 Jahre lang eine sogenannte Simultankirche, das heißt, Protestanten und Katholiken haben sie zusammen benutzt. Ich hätte gar nicht gedacht, dass es solche Friedenskirchen gab - oder das mir Güterloh so gut gefällt.

Zum Schluss ein kleines Rätsel: Was ist das?
a) ein Atombunker, der sich im Dritten Weltkrieg als untauglich erwiesen hat
b) der Hauptbahnhof von Gütersloh

01 Juli 2021

Hase: Von Melle nach Lage

Hase-Tag I

Tod der Teutoburger Fliege - Quelle mit Slogan - Grasgrüne Geländergitter - Wie eine Else starb und eine andere Else geboren wurde - Teilung ohne Wiedervereinigung - Die Stadt des Friedens - Stollen vs. Spaßbad - Kurze Kanalleesation des Hase-Radwegs - Die Stadt der Lavendeltücher - Ein außerirdischer See - Sünden am Kloster

Von allen Nebenflüssen der Weser ist die Hase vermutlich der eigenartigste. Nur durch Zufall habe ich entdeckt, dass es diesen Fluss überhaupt gibt und das man ihn als Nebenfluss der Weser sehen könnte, zumindest teilweise. Die Hase ist nämlich bi: Sie fühlt sich sowohl zur Weser als auch zur Ems hingezogen.















Der Teutoburger Wald im Juli ist heiß, grüngelb und für Radler und Römer potentiell gefährlich. Ein Waldrücken zieht sich wie eine Linie über den Horizont und bildet die Barriere zwischen Norddeutschland und Mitteldeutschland. Wald und Feld sind sauber voneinander getrennt. Irgendwie ist der Teutoburger Wald unauffälliger und ordentlicher als all die anderen deutschen Mittelgebirge, die sich südlich dieser Waldlinie auftürmen.
Die Sonne brennt, das Getreide reift und kleine suizidale Fliegen kollidieren bei Höchstgeschwindigkeit mit meinem Auge. Aaargh!
Manchmal regnet es hier aber auch. Dann sickert das Wasser in die Erde, bis es auf  Ton trifft. Der ist wasserdicht.

Also rutscht das Wasser über die Tonschicht, bis der Berg zu Ende ist und es an der Seite raussprudelt. 

Einige Minuten nach dem Insekten-Crash erblickte mein zusammengekniffenes Auge einen schmalen Waldstreifen und tröpfelte einige Tränen in eine Moosmatschpfütze. Das ist die Quelle der Hase. Von hier aus braucht das Wasser sechs Tag bis nach Meppen, mir dagegen waren zwei Tage genug, obwohl meine Route sogar 33 Kilometer länger war als der Fluss (wenn ich mal ein bisschen angeben darf).
Die Quelle ist an sich nicht sehr spannend, dafür aber mit Bänken, Fahrradständer, übersichtlichen Infotafeln und einer großen Holztafel ausgestattet. Darauf prangt der beste Slogan, den ich je im Zusammenhang mit einem Fluss gelesen habe: Wir wissen, wie die Hase läuft.

(Übrigens habe ich wirklich mehrmals Hasen an der Hase hoppeln sehen, so viele wie auf keiner anderen Tour. Für ein Foto waren die zu schnell.)


Die Hasequelle hat sogar ihre eigene Bushaltestelle, obwohl da niemand wohnt.



Als erstes passiert die Hase ein paar Bauernhöfe.


Dann durchquert sie einen dunklen Wald, wo sie unter einem grünen Brückengeländer durchfließt. Unter grünen Geländern durchfließen ist die zweitliebste Beschäftigung der Hase.


Die schmalen Pfade im Unterholz führen zu privaten Waldhäusern. Hier soll sich irgendwo der Hasesee alias Kronensee liegen, den ich aber nicht gefunden habe. Seit der See 2003 umfangreich umgebaut und etwas verkleinert wurde, fließt die Hase da sowieso nicht mehr durch.


Also habe ich den See rechts liegengelassen und bin aus den Bergen rausgefahren, um auf irgendwelchen Feldstraßen im Zickzack hin und her zu irren.
An der größeren Landstraße gibts auch keinen Radweg, es fehlen 3,5 Kilometer zum nächsten Ort. Deshalb hat das Dorf Himmern eine Aktion gestartet: Jeder kann sich seinen eigenen Meter Radweg finanzieren, auf Wusch auch mit Namensplakette. Schilder, Flyer und rot angemalte Räder (eine nette farbliche Abwechslung in der grünen Landschaft) werben dafür. 


Nur einmal ganz kurz bietet die Gegend ein richtig schönes Stück Flussradweg direkt am Ufer, und zwar an der interessantesten Stelle der Hase, der Bifurkation. Das ist quasi das Gegenteil einer Mündung: Ein Fluss teilt sich in zwei Teile, die in verschiedenen Flusssystemen landen (sonst wäre es nur ein Delta). Bifurkationen sind selten, denn dafür muss ein Fluss ganz dicht an einer Wasserscheide langfließen und es muss so flach sein, dass er die Wasserscheide einfach mal gepflegt ignorieren kann.


Weil Bifurkationen so selten sind, wird diese hier von einem Bifurkations-Erlebnispark umgeben. Der Begriff erscheint vielleicht ein bisschen hochgegriffen. Der Park besteht aus vielen Texttafeln, einem Wasserspielplatz mit Pumpe, bei dem sich die Wasserrinnen teilen, und ganz, ganz viel grünem Geländer. Genau an der Stelle, wo sich der Fluss teilt, befindet sich gar keine Erde mehr, sondern eine Betonplattform mit grünem Geländer. Um dorthin zu kommen, muss man aber zunächst zwei Flüsse auf Brücken mit grünem Geländer überqueren und kann unterwegs noch einen kleinen Aussichtsturm mit grünem Geländer besteigen.


Wie die Bifurkation der Hase entstand, ist immer noch umstritten. Dazu existieren folgende Theorien:

a) Es ist eine natürliche Bifurkation: Die Hase hatte einfach Bock, sich zu teilen.

b) Es ist eine künstliche Bifurkation: Die Bauern einen Graben gebuddelt, um zusätzliches Wasser von der Hase in die Uhle zu leiten und damit ihre Wassermühlen anzutreiben. Zugegeben, mit dem ganzen Beton sieht die Teilung schon recht künstlich aus.

c) Beides ist richtig: Zuerst war es eine periodische natürliche Bifurkation, das heißt, nur bei Hochwasser ist ein bisschen was in die Weser rübergelaufen. Die Bauern haben daraus eine dauerhafte gemacht. Der neue Abfluss hieß zuerst Twelbeke und wurde später Else genannt, weil ein Kartograph den mit einem anderen Bach verwechselt hat.

d) Ein Ritter verlobt sich mit einer einfachen Müllerstochter namens Else. Sein Vater findet das so schlimm, dass er seine Schwiegertochter in spe am Ufer der Hase ersticht. Vor lauter Zorn sprudelt die Hase um ihre Leiche herum und teilt sich.
Da stellt sich natürlich die Frage, ob das als natürliche oder künstliche Bifurkation einzustufen ist. Einerseits hat sich die Hase freiwillig aus Wut geteilt, andererseits hat ein Mensch die Wut verursacht.
Für diese sagenhafte Theorie spricht jedenfalls, dass der Flussarm namens Else (rechts) etwas schneller und spritziger unterwegs ist.


Die Else bekommt etwa ein Drittel des Wassers. Sie fließt nach kurzer Zeit mit der Uhle zusammen, die schon zum Flusssystem der Weser gehört.

 

Dann wird sie viel breiter und durchquert die Stadt Melle, vorbei an vier weißen Fachwerkhäusern des Gröngaumuseums. An ihrem Ufer erstreckt sich eine Hochzeitsallee. Das bedeutet, jedes Brautpaar pflanzt einen Baum und ein dazugehöriges Schild mit Namen, Datum und Baumart. Der Baum wächst dann, das Schild in der Regel nicht. Viele, viele metallene grüne Brückenbögen überspannen die Else. Später mündet die Else in die Werre, und die landet bei Bad Oeynhausen in der Weser.
Melle ist außerdem die dichteste Stadt mit dem einem Bahnhof, weshalb ich dort morgens an der Else mit dieser Tour begonnen habe.

Außerdem liegt Bünde an der Else. Wenn Ihnen der Name nichts sagt, macht das nichts. Wirklich gar nichts. Diese Stadt lieg nahe der nichtexistierenden Stadt Bielefeld, was abfärbt: Bünde existiert zwar, aber das merkt man kaum. Der offizielle Stadt-Untertitel lautet "Die Zigarrenstadt", was vermutlich nur für Nikotinabhängige einladend klingt. Bünde an einem Dienstagabend bietet folgende Freizeitaktivitäten:

  • am Bahnhof aussteigen
  • sich ärgern, weil gleich mehrere Züge ausfällen und man hier über eine Stunde verbringen darf
  • den Baustellenbahnhof umrunden
  • beim Bäcker etwas Essbares abstauben, kurz bevor er schließt
  • den "We are open"-Schildern offensichtlich geschlossener Geschäfte misstrauen
  • nach so etwas wie einem historischen Stadtzentrum suchen
  • feststellen, dass dieses lediglich aus einer weißen Kirche und genau einem Fachwerkhaus besteht
  • endlich geöffnete Restaurants entdecken, aber zugleich feststellen, dass die Zeit nicht mehr für einen Besuch reicht
  • den Rest der Zeit damit verbringen, auf einem dieser Kugellabyrinthe die Kugel in die Mitte zu manövrieren (Es ist deutlich schwergängiger und damit herausfordernder als die Exemplare im Rostocker Zoo.)

Diese Tour folgt aber dem anderen Arm des Flusses. Die restlichen zwei Drittel des Wassers behalten den Namen Hase und fließen nach Westen.


Diese Radroute heißt Hase-Ems-Tour und ist einer dieser Radwege, bei dem ich nicht weiß, warum der immer so unnötige Schlenker durch Dörfer macht, in denen es nichts gibt. An der Landstraße ist doch die ganze Zeit so ein gerader Radweg! Ab und zu liegen Gutshäuser oder Schlösser in der Nähe, die sind aber meistens geschlossener Privatbesitz.


Dann nähert sich die Hase auch schon ihrer größten Stadt. Den unnötigen Umweg durch das Ostviertel habe ich mir abgekürzt, um die Strecke an der Hase umso mehr genießen zu können. So ist das bei kleinen Flüssen: Schöne Uferwege gibts meistens nur in der Nähe der Städte, weil es sich nur dort lohnt, welche zu bauen. Ein Kiesweg folgt dem Gürtel aus wilden grünen Ufer-Wucher-Pflanzen, darüber spannt sich eine Betonbrücke nach der anderen.


Der Uferweg hat eine Ampel, die bei Hochwasser rot leuchtet, dann darf man nicht weiter. (Daneben ist ist übrigens ein typisches Fahrradschild aus dem Osnabrücker Land mit dem Logo der Hase-Ems-Tour zu sehen.)


Osnabrück ist die schönste der vier großen niedersächsischen Städte. (Das spricht zwar durchaus für Osnabrück, vor allem aber gegen Hannover, Braunschweig und Wolfsburg.)
Deswegen wollen viele Autofahrer nach Osnabrück. Als ich sah, wie sie in einer langen Schlange bei der Affenhitze auf einen Platz im Parkhaus warteten, wusste ich mal wieder, dass ich das richtige Verkehrsmittel gewählt hatte.

Osnabrück wurde zur Stadt, als Karl der Große hier aus strategischen Gründen einen Bischof hinsetzte. (Der Karl scheint generell für die meisten Städte an der Hase verantwortlich zu sein.)
Die Spezialität der Stadt sind hohe Kirchen und sprudelnde Brunnen in hellem Graubraun. Auf dem Platz des Westfälischen Friedens verkündet die Figur auf dem Brunnen das mit Abstand wichtigste, das in Osnabrück je passiert ist: Hier endete ein Krieg, der 30 Jahre lang Europa verwüstet hatte. Da es noch keine Zoom-Konferenzen gab und sich die Katholiken und Protestanten nicht persönlich in die Augen sehen wollten oder die Stadt zu klein für alle war oder was weiß ich, liefen die Verhandlungen maximal kompliziert ab: Die schwedische Königin Christina und die protestantischen Städte Deutschlands saßen im Rathaus Osnabrück und schickten Boten zu den Katholiken in Münster. Die Boten ritten vier Jahre lang hin und her, bis eine Einigung da war.
Anders als Münster hatte Osnabrück auch selbst beim Krieg einiges abbekommen, weshalb es den Bewohnern superschlecht ging und selbst die Gesandten des Friedens in einfachen Hütten wohnten.


An der Altstadt endet der Uferweg, kurz darauf geht es aber mit einer noch schöneren Allee weiter.


Hier rauscht die Hase durch ein richtig großes Wehr.


Dann hat Osnabrück auch noch das beste Erlebnisbad in Niedersachsen. Es sieht zwar einfach nur weiß aus, bietet aber so abgefahrene Sachen wie eine Stehrutsche, Ninja-Parcours im Schwimmerbecken oder Schnorcheln im Weltall mit VR-Brille. Dieses Schwimmbad wurde nach einem Nebenfluss der Hase benannt: Nettebad.


Ein anderer interessanter Ort ist das Museum der Industriekultur - sofern man es denn findet. Das ist nicht ganz so einfach, denn das Museum besteht aus vielen klassizistischen bahnhofsähnlichen Hallen. Die meisten davon werden nur für irgendwelche Sonderveranstaltungen geöffnet.


Ich bin in eine komplett menschenleere Sonderausstellung über Wasser gestolpert. Eine historische, 11,3 Meter lange Karte der Hase im Fürstbistum Osnabrück bedeckte den Boden. Die hat ein Richter angefertigt. Statt selbst zu recherchieren hat er sich auf Sekundärquellen verlassen, weshalb die Karte nicht ganz exakt ist.
Die Ausstellung bestand aus drei Räumen und befasst sich mit den üblichen allgemeinen Wasserthemen Wasserknappheit, Wassersparen, virtuelles Wasser usw. Erst als ich an der Kasse fragte, wo denn der Rest sei, wurde mir klar, dass ich gerade nur für diese drei Räume bezahlt hatte. Das eigentliche Museum war noch zehn Minuten Fußmarsch entfernt.


Das Gebäude mit der Dauerausstellung erhebt sich auf dem steilen Piesberg. Der gehört zum Wiehengebirge (noch so eine gerade Waldlinie) und ist der letzte Berg auf dieser Tour, denn danach bleibt es flach.
Schon immer wurde hier ein bisschen an den Bodenschätzen gekratzt. Dann begann an diesem Berg die Industrialisierung Osnabrücks, und auf einmal knabberte die ganze Stadt am Piesberg: In den Steinbrüchen wurden von oben Steine abgehauen, die Kohle wurde ab 1869 viel schneller durch senkrechte Schächte abgebaut, und rundherum produzierte man unter anderem Maschinen, Spaten und die originalen Leinenmäntel, die später alle Schauspieler in amerikanischen Westernfilmen trugen. Letzte wurden von Straftätern im Gefängnis hergestellt. Dann kam auch noch die Eisenbahn dazu, und schon lief die Industrialisierung in Osnabrück rund, mit all ihren guten und schlimmen Folgen. Die Osnabrücker waren schon immer handelstüchtig, deshalb hat sich die Stadt schnell an die neue Zeit angepasst.
Die Ausstellung zeigt dazu einigerseits ein paar anschauliche Gegenstände und Modelle, andererseits aber jede Menge Texte, die sich eher dröge lesen.


Das Museum hat auch einen Aufzug. Wer darin (versehentlich oder absichtlich) die Taste -4 drückt, der wird sich zunächst wundern, wie tief der Fahrstuhl fährt - um dann plötzlich durch die Tür in eine andere Welt zu treten. (Ich war überrascht, dass ich die Taste ganz alleine drücken durfte. Normalerweise haben Fahrstühle zu solch ungewöhnlichen Orten einen unnötigen Angestellten, der den Knopf drücken muss.) Der Aufzug fährt den Haseschacht runter, der sogar noch viel tiefer als 4 Etagen unter die Erde reicht.
Die minus-vierte Etage besteht nicht aus warmen, trocken Museumsräumen, sondern aus dem dunklen, kalten Hasestollen, in dem es von der Decke tropft. Und das ist noch untertrieben - nicht einmal eine Tropfsteinhöhle tropft dermaßen viel. Korrekter wäre: Es regnet von der Decke. Das ist auch der Grund, warum die Stollen 1898 geschlossen wurden: Die Bergleute gingen immer wieder unfreiwillig baden und bekamen das einbrechende Wasser einfach nicht in den Griff. Einen der Versuche, es in den Griff zu kriegen, konnte ich persönlich durchschreiten: Neben dem Hasestollen verläuft ein Extrastollen mit einer überraschend leeren Rinne, durch die das ganze Tropfwasser ablaufen soll.
Im Haseschacht (also das senkrechte Loch, wo der Aufzug drin ist) wurde Osnabrücker Anthrazit abgebaut. Das ist Steinkohle, die für ihre Top-Qualität bekannt war. Durch den Hasesstollen (also das waagerechte Loch, wo ich durchgehen konnte) wurde die dann abtransportiert. Den Hasestollen gab es aber schon vor dem Haseschacht, denn auch andere Schächte benutzten den Stollen als Ausgang.
Der lange, gerade und, falls ich es noch nicht erwähnt habe, nasse Gang führt vom Aufzug bis zu einer Stahltür, wo ich ebenerdig wieder bei der Wasserausstellung direkt neben meinem Fahrrad herausgekommen bin. Vorher habe ich mir aber gaaanz viel Zeit gelassen und bin langsam durch den Gang gewandert. Denn in Anbetracht der Sommerhitze da draußen wollte ich den Stollen lieber ausgiebig auskosten, er war sogar kühler als das Nettebad.


Sowohl für das Nettebad als auch für das Museum musste ich mich ganz schön weit von der Radroute entfernen. Deshalb war ich selber überrascht, dass ich das zeitlich so gut hinbekommen habe.
Auch wenn Osnabrück früh an die Bahn angeschlossen wurde, braucht so eine große Industriestadt am besten auch eine gute Anbindung an den Schiffsverkehr. Dafür ist die Hase aber ein bisschen zu klein. Deshalb ragt der Verbindungskanal Osnabrück seit 1916 in die Industrieviertel der Stadt hinein. Inmitten von hässlichen Kränen und Hallen sprudeln die kleinen Brunnen des Geschäfts Gartenideen und scheitern komplett daran, jede Art von Gartenidylle zu erzeugen.


Wenige Kilometer später bin ich wieder auf den Kanal gestoßen, und da sah der ganz anders aus. Links und rechts erstreckt sich ein Kiesweg mit fröhlichen Spaziergängern, und auf dem Wasser betrieben viele das moderne Stand-Up-Paddling oder das klassische Sit-Down-Paddling. Nur Frachtschiffe konnte ich nicht entdecken, vielleicht wegen der späten Uhrzeit.
Einen Kilometer weiter links verläuft die Hase, doch auch das ist eine Grundregel bei kleinen Flüssen: Wenn ein deutlich größerer Kanal parallel verläuft, dann folgt der Flussradweg lieber dem Kanal.


Wenn das ein Verbindungskanal ist, womit verbindet der Osnabrück eigentlich? Nach einigen Kilometern folgt die Antwort: Ich treffe auf den Mittellandkanal, und es entsteht eine Art Kanaldreieck, das so groß ist wie ein mittelgroßer See. Die Osnabrücker Schiffe können nun links zum Ruhrgebiet und zur Ems oder rechts zur Weser abbiegen.

Auf dem Mittellandkanal lagen all die Lastschiffe, die ich dem Verbindungskanal nicht entdeckt hatte. Sie fuhren aber nicht, sondern lagen am Ufer, wo sie schlafend vor sich hin rosteten. So sieht also eine Raststätte für Lastschiffe aus - alles, was man benötigt, ist eine extrem lange Betonwand mit Pollern mit Festbinden.


Eine Infotafel stellte mir plötzlich folgende Frage: Sicherlich ist Ihnen im Zusammenhang mit Straßen- und Flurbezeichnungen schon einmal der Name Esch begegnet? Nö, eigentlich nicht. Und auch das Wort "Plackerei als Ausdruck einer mühsamen Schufterei ist Ihnen geläufig? Ja, das schon.
Vor 5000 Jahren kamen die ersten Menschen ins Hasedelta. Es war aber dermaßen sumpfig, dass sie bloß auf ein paar Sandkegeln leben konnten, denn Landwirtschaft ging fast gar nicht. Im Mittelalter erfand dann jemand die Plaggenwirtschaft: Man schneide ein paar Plaggen, also Bodenstücke, aus dem Moor, lege die im Viehstall auf den Boden und benutze sie dann zusammen mit der Tierkacke als Dünger. Ergebnis: Einerseits Esch, also superfruchtbarer Boden, und andererseits abgeplackter Boden, auf dem der Wind Sand herumwehte, bis er sich in Heide verwandelte.
In dieser Landschaft bildet die Hase nun ein unübersichtliches Binnendelta: Sie teilt sich in verschiedene Flussarme, die sich durch das Land schlängeln und dabei möglichst jeder einheitlichen Benennung ausweichen.

1. Die Hasesee-Hase (so nenne ich die)

Dieser nicht näher benannte Altarm fließt durch einen idyllischen kleinen Badesee. Auch hier sind Stand-Up- und Sit-Down-Paddler unterwegs.


Der Hasesee gehört zum kleinen Städtchen Bramsche, das intensiv nach Lavendel duftet. Ich bin da nur abends durchgesaust, aber das Durchsausen hat definitiv einen positiven Eindruck von Bramsche hinterlassen. Im Mittelalter lebten hier viele Tuchmacher, von deren Arbeit ein Tuchmachermuseum übriggeblieben ist.


2. Der Zuleiter von der Hase (laut Wikipedia)/Die Hase (laut Karte)/Die Alfsee-Hase (so nenne ich die)

Im Westen strömt der dickste Flussarm zügig durch Deiche und Betontunnel. Der wurde komplett künstlich angelegt.


Ich habe diesen Kanal Alfsee-Hase genannt, weil er durch den Alfsee fließt und überhaupt nur für diesen See gegraben wurde. Der Alfsee nennt sich offiziell Hochwasserrückhaltebecken Alfhausen-Rieste. Das mag vielleicht ein guter Name für ein künstliches Becken sein, das Hochwasser verhindern soll. Wer da aber campen, Tretboote oder Wasserski anbieten will, der braucht einen handlicheren Namen (der am besten nach haarigen Außerirdischen klingt). Der See wurde 1970 gebaut, weil die Hase so viele Überschwemmungen verursacht hat.
Trotz der vielen Regentage in den letzten Wochen stand das Wasser im Alfsee ziemlich niedrig. In der Abenddämmerung bot sich mir der Blick auf ein großes graublaues Dreieck, aus dem ab und zu mystischer Matsch herausguckt.


Im Norden begrenzen wunderschöne gelbgrüne Deiche das Wasser, damit der See, der verhindern soll, dass der Fluss überläuft, nicht selber überläuft. Dahinter liegt das Reservebecken, in den notfalls auch noch Wasser laufen kann. Weil das nicht so oft passiert, beinhaltet dieser See weniger Wasser und mehr Matsch und Pflanzen. Damit sieht er deutlich schöner aus, eine Radtour auf dem Deich am Reservebecken ist ein tolles Erlebnis. 94 Vogelarten bevölkern den Himmel. Manche leben hier im Sommer, manche im Winter und manche benutzen den See beim Zugfliegen als Raststätte.


3. Die Tiefe Hase (laut Schild)/Hase (laut Karte)

Ob der mittlere Arm der Hase tatsächlich tiefer als die anderen ist, lässt sich im Flachland nicht so leicht sagen. Für mich sah der nicht anders aus als die anderen Flussarme: Ein dunkelgrünes Bad schlängelt sich durchs Land, umgeben von Hecken und selbstverständlich grünem Geländer.


4. Die Hohe Hase (bei dem Namen sind sich alle einig)

Der östlichste Flussarm sieht auf diesem Bild nicht sehr hoch aus, dafür dreht er ein süßes kleines Mühlrad.


Die Hohe Hase teilt sich noch einmal in zwei Teile und bildet eine Flussinsel, die noch vor Kurzem von Nonnen bewohnt wurde (deshalb fließt in der Nähe auch der sogenannte Nonnenbach in die Hase).
Auf der Insel steht das Kloster Zum gekreuzigten Erlöser alias die Kommende Lage. (Eine Kommende ist die Übertragung von Kirchenvermögen auf eine andere Person und damit wohl irgendwie so was ähnliches wie ein Kloster).
Angeblich hatten zwei Mönche hier eine Vision, wie ein Kreuz in der Luft schwebte und eine Stimme sagte, sie sollten gefälligst so ein Kreuz herstellen. Das haben sie überraschenderweise hingekriegt, obwohl sie keine Ahnung von Bildhauerei hatten - ein Wunder! Deshalb pilgerten seit 1313 Leute zu diesem Wunderkreuz, bis mehrere Kriege dem Kloster übel mitspielten. Damals betrieben die Johanniter und Malteser den Laden. Irgendwann wurde es aufgelöst, aber 1999 kaufte der Bischof von Osnabrück es zurück und richtete ein Kloster für Dominikanerinnen ein, weil er dachte, Klöster seien irgendwie immer noch ein zeitgemäßes Ding. Eine Zeit lang waren die Nonnen sogar erfolgreich, boten Kloster auf Zeit für gestresste Leute an und und ein paar junge Frauen traten sogar dauerhaft ein. Und dann wieder aus. Im März 2020 verließen die letzten vier Nonnen die Insel. Als nächstes wollen die Franziskaner ihr Glück in diesem vom Pech verfolgten Kloster versuchen.
Auf der Insel haben sie ein imposantes Eingangstor, ein gut erhaltenes rosa Wohngebäude, viel Grün und eine hohe Kirche - die schöne Lage in Lage war vermutlich nicht der Grund, warum die jungen Frauen gegangen sind.


Da mir eine Übernachtung im Kloster schon aus Geschlechtsgründen nicht möglich war, habe ich hinter Lage mein Lager aufgeschlagen. Hier fließen die Hohe und Tiefe Hase wieder zu einem breiten Fluss zusammen und rauschen eine große Stromschnelle runter. Ein perfekter Ort, um mich nach dem heißen Tag abzukühlen!
Ich habe die Stelle gegen 21 Uhr erreicht. Während der nächsten zwei Stunden kam niemand vorbei. Als ich mich also um 23 Uhr auf meine Isomatte bettete, ging ich also davon aus, eine ruhige Nacht vor mir zu haben.
Kurz darauf fuhren zwei Autos vor. Leise und geheimnistuerisch tuschelnd stiegen Leute aus. Wollten die hier nachts eine Leiche vergraben? Massiv beunruhigt kauerte ich mich ins Gras.
Eine halbe Stunde später erklang ein gedämpftes Wummern aus dem Wald. Die nächtlichen Besucher wollten nur eine illegale Coronaparty feiern. Hurra.