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01 Juli 2020

Diemel: Von Usseln nach Marsberg

Der garantiert weltweit erste Blog zum Diemelradweg aus der Perspektive des Flusses

Dunkelheit. Erde und Schiefer. Ein verschwommenes Nichts.


Dann das Licht. Die Sonne brennt mir entgegen und lässt sofort einen Teil von mir verdunsten. Ich durchdringe die Körnchen, aus denen der Boden besteht, spüre kleine Wurzeln, die durstig einen Teil von mir aufsaugen, zu Grashalmen werden und sich der Sonne entgegenstrecken.


Ich krieche aus der Erde und spüre zuerst einen Ring, danach eine Reihe großer grauer Steine. Ich fließe. Das ist es, was ich bin. Ich ströme durch den Raum, unwiderruflich von einem Ort zum anderen, entferne mich immer mehr von der Wiese im Rothaargebirge, aus der ich geboren wurde. Bald begreife ich, dass die meisten Wesen anders sind als ich. Ich trage meine eigene Zeit in mir. Sie besteht aus Zentimetern, Metern und Kilometern, aus Biegungen und Stromschnellen. Ich erinnere mich an all die Meter hinter mir, in meiner Vergangenheit. Doch die Strecke vor mir? Ich habe keine Ahnung, wie viele Meter noch kommen mögen und was sie bereithalten.

Was ist mit all den Wesen, die so hektisch um mich herumhuschen, dass sie überall gleichzeitig zu existieren scheinen? Sie springen von einem Ort zum nächsten durch den Raum, vor und zurück, ohne jedes Hindernis. So etwas ist mir unmöglich. Doch dafür sind sie gefesselt an eine äußere Zeit, an die gegenwärtige Sekunde, der sie ebenso wenig entkommen können wie ich dem gegenwärtigen Zentimeter. Ihre Zeit lässt sie in einem verschlungenen Netz kreuz und quer umherrasen, dann sterben sie. Welch eine schreckliche Art der Existenz!

Für mich ist diese äußere Zeit kein Problem, ich kann sie durchwandern wie die nicht-fließenden Wesen den Raum, von einem Jahr zum nächsten ist es nur ein kleiner Schritt: Ich weiß, wie sich vor 240 Millionen Jahren das Rothaargebirge erhebt und zum ersten Mal mein Wasser aus dem Boden drückt, wie die nicht-fließenden Wesen einen Teil des Waldes zerstören und ihr Vieh auf die Wiese treiben, einen Weg anlegen, Schilder und Bänke aufstellen, mir Steine in die Quelle legten, und schließlich, wie meine Quelle für immer versiegt in der großen Trockenheit.

Um sich von ihrer frustrierenden, kurzweiligen Existenz abzulenken, schnallen sich manche nicht-fließenden Wesen Bretter auf die Füße, lassen sich von einem Seil den Berg hochziehen und rutschen auf kristallisiertem Wasser wieder herunter. Ich spüre, wie das kleine Vergnügen sie von der Kürze ihrer Existenz ablenkt, wenn sie den Rausch der Geschwindigkeit genießen. So ähnlich fühle ich mich, wenn ich einen kleinen Wasserfall hinuntertreibe. Wenn der Schnee schmilzt und zu mir läuft, schmecke ich das Wachs, mit dem sie ihre Bretter einreiben. Und hier und dort blitzt ein feuriger Punkt aus Schmerz auf, wenn jemand zu schnell war und von seinem Brett fiel.


Meine Schwestern Itter und Hoppecke erzählten mir später, wie sie Sorge und Panik in der Luft schmeckten in jenen Jahren, als der Schnee zunehmend weniger wurde. Wie jenes riesige Gebilde namens Schanze, auf dem sie auf ihren Brettern durch die Luft fliegen, trocken blieb. Und wie die Menschen stattdessen Türme und Brücken aus Stahl in der Heide errichten, um einen ähnlichen Rausch der Gefahr zu erleben, wenn der Wind die hängende Brücke heftig schwanken lässt. Wie sie von ihren seltsamen Bauten über die Berge hinwegschauen, um mit den Augen eine Weite zu suchen, die ihnen ihre kurze, kleine Existenz sonst nicht bieten kann.

Nun, ich nehme an, die nicht-fließenden sehen ihre Existenz als nicht so furchtbar an. Meine Art zu leben muss für sie unbegreiflich sein.

Naja, die meisten Nicht-Fließenden verstanden ja nicht einmal, dass ich ein lebendes Wesen war. Vor 3000 Jahren glaubten ein paar von ihnen, dass in jeder Quelle und jedem Gewässer ein Geist lebt, der es beschützt. Eine Nejade, so nannten sie mich. Aber ihr Wissen geriet bald in Vergessenheit.

Trotzdem hatten sie Recht. Mein Name ist Dimella.

So wurde ich vor Jahrhunderten genannt, weil mein Wasser so thimm, also dunkel, war. Mein Name ist verwandt mit dem Wort dimmen. Einige Jahrhunderte darauf lautet mein Name Diemel. (Obwohl manche nicht-fließende großen Wert auf feste Namen und Begriffe legen, ändern sie diese doch ständig.)


Dabei bin ich gar nicht immer dunkel. Manchmal kann ich auch sehr hell sein. Das kommt ganz auf die Sonne an. Wenn sie mich so zum Gleißen bringt, finde ich das besonders schön. Juche, ich fließe abwääärts...

...umpf. Was ist das denn jetzt? Jemand hält mich auf. Irgendwer hat mich in lauter komische Teiche gesperrt. Was wollen die da mit mir? Fische züchten oder was? Um weiterzukommen, muss ich mich erstmal durch einen seltsamen Steintrichter zwängen.

Dann muss ich auch noch Treppen steigen. Das schaffe ich selbst ohne Beine problemlos.

Eine besonders mächtige Art der Nicht-Fließenden, die Menschen genannt werden, bauen gerne Zeug aus Stein, am liebsten große Haufen aus steinernen Hütten. Nach dem letzten Teich bin ich unten im Tal angekommen und begegne dem ersten Hüttenhaufen. Er heißt Usseln.
Ich spüre die die Anstrengung der Menschen in Usseln über die Jahrhunderte hinweg. Erst hielten sie Tiere und ernteten Pflanzen, dann verarbeiteten sie Metall unter der Erde - und wofür das alles? Damit das nächste Feuer, die nächste Seuche oder Hungersnot ihnen alles wieder wegnahm. Die Usselner Menschen hatten wirklich kein Glück - bis irgendwann dieses Viadukt mit großen Bögen über mir gebaut wurde. Danke, sieht klasse aus! Darauf kriecht ein kurzer, dicker und roter Wurm aus Stahl, der Nicht-Fließende transportiert und sich Uplandbahn nennt. Als die Bahn, elektrische Energie, Wasserleitungen und schließlich sogar Skifahrer nach Usseln kamen, wurde es allmählich besser für die Menschen.

Wie geht es jetzt weiter? Hinter Usseln entdecke ich einen hübschen Einschnitt zwischen zwei Hügeln, der mir gefällt. Ich schlängle mich über die Wiese in das Tal hinein. Hier entdecke ich keine Menschen mehr. Sie haben nur meine komplette Wiese eingezäunt, darin leben nur insgesamt drei nicht-fließende Wesen, die sie Kühe nennen. Ich spüre ihre freundlichen, gelassenen Gemüter, die vollkommen zufrieden sind, wenn ich ihnen ihr Gras bewässere.
Auf dieser Wiese habe ich genug Platz, um schön hin und her zu schlängeln. Warum sollte ich mich stressen geradeaus durch mein Leben durchrauschen? In den Kurven drücke ich mein eigenes kleines Steilufer ins Gras. Mal sehen, wo die Reise hingeht.

Üärgh, ach nee, ein Geschenk geben mir die Menschen von Usseln noch mit - ihre Ausscheidungen. Sie sammeln diese in großen, kreisförmigen Steinbecken und gießen sie auf mich drauf. Äh, danke schön.
Mir wird kotzübel und ich trete lieber zwei Jahrhunderte vorwärts durch die äußere Zeit. Puh, durchatmen, nun wird das Wasser einigermaßen gereinigt.

Aber wartet mal, da sind noch so komische bunte Krümel drin! Könnt ihr die bitte auch noch rausmachen? Die jucken!

Die wenigen Menschen, die in meinem Tal leben, ernähren sich von der Milch, die sie von den drei Kühen erhalten. Auf die leeren Krüge schreiben sie ihre Namen. Weiter gehts, hui, ab durchs Tal...

...umpf. Was ist das denn schon wieder? Irgendwer hält mich auf. Egal wie viel Schwung ich nehme, ich komme nur noch langsam voran. Verdammt, was soll ich denn mit dem ganzen Wasser machen, wenn es da vorne so langsam weitergeht? Sorry, Bäume, dann müsst ihr jetzt leider baden gehen. Ich breite mich immer mehr aus und werde dicker...

...und dicker...

...und dicker...

...und dicker. Eigentlich hatte ich nicht vor, in diesem jungen Alter schon übergewichtig zu werden. Aber wie soll ich denn abnehmen, wenn immer neues Wasser nachkommt? In der Sommerhitze bekomme ich meistens noch eine halbwegs schlanke Sommerfigur, aber im Frühling - keine Chance.
Letztlich ist das aber nur eine Frage der Perspektive. Für einen Fluss bin ich dick - aber für einen See doch noch ziemlich schlank. Oder?

Äh, hallo, holt mal eure Boote da weg! Sonst muss ich die nämlich gleich mitnehmen... oh, zu spät.
Die Nicht-Fließenden leben hier in seltsamen weißen Hütten aus Stoff oder auf Rollen, zumindest im Sommer. Manchmal verlassen sie die Hütten für längere Zeit und merken nicht, wenn ihre Boote auf Tauchfahrt gehen.
Mitten auf dem See begegne ich meiner Schwester, der Itter, die ebenfalls mächtig zugenommen hat.

Ich sehe, wie einst in der Nähe einige seltsame Bäume wachsen. Die Menschen hatten ihre Samen aus einem fernen Kontinent namens Amerika mitgebracht. Sie hießen Douglasien. Hoch, hart, ein bisschen hochmütig und unverwüstlich waren sie, außer natürlich gegen die Sägen der Menschen, die sie extra zu diesem Zweck gepflanzt hatten.
Eine besonders hohe Douglasie brachten sie an mein Ufer. Die mächtigen Nicht-Fließenden hatten sie zurechtgesägt, um sich daraufzusetzen. Sie ist jetzt die längste Bank in diesem Land, das die Menschen Hessen nennen. 63 Menschen passen darauf.

Manchmal ziehen sich die mächtigen Nicht-Fließenden blaue Anzüge an und erkunden meine Privatsphäre. Möglicherweise suchen sie nach ihren verschwundenen Booten. Aber vermutlich sind sie einfach nur neugierig.

Hinter der Tauchbucht stoße ich endlich auf den Grund, warum ich nicht weiterkomme. Es ist eine graue Mauer. Die haben die Menschen eines Tages einfach mal da hingestellt. Na toll. Was soll das? Und wie komme ich da jetzt durch?

Ich glaube nicht, dass die Menschen wollen, dass ich gar nicht mehr weiterfließe. Sie wollen nur genau kontrollieren, wie viel von mir durchkommt. Das passt zu allem, was ich von ihnen gesehen habe, denn Menschen wollen alles kontrollieren.
Sie haben irgendwelche Röhren in die Mauer gebaut, die sich manchmal verschließen. Dahinter erwartet mich mein persönliches Labyrinth. Wo geht es jetzt weiter? Ah, da. Was ist das denn jetzt für ein komischer Propeller? Muss ich den jetzt drehen? Na guut... ah, da ist endlich der Ausgang.

Nur im Frühling schaffe ich es manchmal, über die Mauer drüberzufließen und dann... aaah! Hilfe, ist das tief! Vierzig Meter falle ich nach unten. Was für ein Schock, jeden Frühling aufs Neue. Aber immerhin nicht so kompliziert wie der Weg durch die Röhren.

Dahinter bilde ich gleich noch einen See...

...mit einer deutlich kleineren Mauer.

Darf ich jetzt vielleicht normal weiterfließen? Ja? Danke schön. Jetzt habe ich wieder meine Ruhe im Tal. Obwohl es schon irgendwie Spaß gemacht hat, von der hohen Mauer zu rauschen... ob ich das auch alleine kann? Hm, naja, mein eigener Wasserfall ist nicht ganz so hoch.

Auf den Bergen über mir spüre ich einige Nicht-Fließende, die in Harmonie zusammenleben, und das, obwohl sie bei unterschiedlichen Göttern Trost suchen und diesen Göttern ganz unterschiedliche Häuser nebeneinandergebaut haben. Aber offenbar sind solche Unterschiede für die Menschen kein Problem. Oder?

In meinem Tal leben nicht nur Kühe, sondern auch riesige Hasen und Fliegen. Ich höre ihr hektisches Summen und spüre ihre kleinen, einfachen Geister, die nicht weiter als bis zum nächsten Ding denken, auf das sie sich setzen können.

Durch ihre Facettenaugen sehe ich ungefähr so aus.

Bisher haben mich die Menschen ziemlich in Frieden gelassen, außer in Usseln und am Stausee. Obwohl, eine Zeitlang wollten sie auch an dieser Stelle noch etwas aus meinem Tal, nämlich die Steine unter der Erde. Sie gruben tiefe Löcher, um die Steine herauszuholen, die sie Erz nannten. Dann verlegten kleine Schienen, um sie an einen Ort, den sie Ruhrgebiet nannten, wegzufahren. Die Schienen sind inzwischen weg, aber der kleine Damm, auf dem sie lagen, blieb.
Jetzt habe ich hier meine Ruhe. Noch.

Aber nun ändert sich alles. Hier begegne ich meiner Schwester, der Hoppecke. Ihr Wasser ist nicht ganz so klar wie meines, und den die Ursache dafür hat sie gleich mitgebracht.

Ein Bahngleis, eine große Straße und deutlich mehr Menschen - die Hoppecke hatte keine so ungestörte Kindheit wie ich, und das reibt sie mir deutlich unter die Nase.
Ich sehe, wie an diesem Gleis in einer einsamen Hütte stets ein einsamer Mann saß, der nur die Aufgabe hatte, eine gestreifte Stange hoch- und runterzuziehen. Dadurch sollten die fahrenden Metallkästen der Menschen nicht zusammenstoßen. Dann war der Mann tot, seine Hütte verlassen, aber die Stange bewegt sich immer noch. Vielleicht bewegt sein Geist die Stange? Obwohl ich keinen Geist spüren kann. Merkwürdig.

Hier liegt ein großer Haufen an Menschenhütten. Er heißt Marsberg. Ich kann ihn nicht so gut erkennen, weil er sich oben auf einem Berg versteckt.

Das war sehr schlau von den Menschen. Im Laufe der Jahre haben manche versucht, die Stadt anzugreifen. Dazu mussten sie aber erst den hohen Berg besteigen. Am Ende habe ich nur selten Blut geschmeckt, das den Berg herunterlief - nur Schweiß, jede Menge Schweiß. Die meisten Angreifer haben sich wohl ergeben, um oben im Gegenzug ein kaltes Getränk zu erhalten.

Hier war nicht immer ein Berg - ganz im Gegenteil. Am äußersten Rand der äußeren Zeit kann ich gerade noch sehen, wie sich vor Jahrmillionen die letzten Reste eines Meeres zurückzogen. Das Meer hatte jede Menge von diesem komischen Felsen zurückgelassen, den die Menschen Zechstein nennten. Au! Der war so kantig und ganz schön unbequem zum Durchfließen. Aber ich habe die Strudel zusammengebissen und mich durchgekämpft.
Endlich hatte ich mir eine schöne Strecke zurechtgespült und ganz nebenbei rechts den Berg von Marsberg fabriziert. Ich drückte ihn noch ein bisschen zur Seite, und plötzlich, ups, waren da Spalten drin. Naja, nicht so schlimm, wird schon nicht einstürzen, dachte ich. Als die Menschen die Spalten entdeckten, waren sie ganz begeistert und holten ganz viel Zechstein raus, um daraus ihre Stadt zu bauen. Aber sie waren tatsächlich vernünftig genug, dicke Säulen stehen zu lassen, damit die Höhle stabil blieb.
Angeblich soll sich in der Drakenhöhle ein Schatz befinden. Das ist aber Quatsch - in Wahrheit gab es nur einen Metzger, der besonders leckere Wurst herstellte und sie da drin kühl lagerte. Ich weiß nicht, wie daraus die Legende mit dem Schatz geworden ist, und eigentlich ist es mir auch wurscht.

Nebenan lebt meine Tochter, die Drakenhöhlenquelle. Jahrhundertelang trug sie die Verantwortung, die Marsberger Menschen mit Wasser zu versorgen. Aufgrund dieser Bürde durfte sie nicht richtig fließen, sondern lebte in Röhren, Pumpen, Brunnen und Sammelbecken. Irgendwann fiel den Menschen aber auf, dass die Drakenhöhlenquelle in der Nähe eines Ortes geboren wurde, den sie Friedhof nannten und an dem sie ihre Toten in die Erde steckten. Plötzlich fanden sie ihr Wasser nicht mehr so lecker, und meine Tochter ging in Rente.

Ich sehe, wie viele mächtige Nicht-Fließende, die in einer sehr seltsamen Sprache redeten und Sachsen genannt wurden, zu einer Säule in Marsberg pilgerten, die einem Baumstamm ähnelte. Sie hegten und bewunderten das lange Ding, weil es angeblich das Weltall stützte. Ich weiß nicht genau, wie sie auf diese Idee kamen, doch konnte ich spüren, wie sie ihnen Trost und Hoffnung spendete. Sie nannten sie Irminsul.

Zugegeben, der Blick von da oben ist großartig. Da verstehe ich schon, warum von den Geistern der Menschen so viel Ehrfurcht, Demut und Hoffnung nach unten herabstrahlte. Die Sachsen fühlten sich ganz klein, aber zugleich als der Teil von etwas Großem und Besonderem, nämlich einem Menschenvolk, das in einem schönen Land lebt und großes Zeug aus Stein bauen kann. (Was natürlich Quatsch ist, alle Menschen können das und sind in der Hinsicht nicht sehr verschieden. Aber es hat sie halt getröstet, und sie hatten es weiß Gott schwer genug.)

Eines Tages aber stampfte eine große Armee aus dem Süden nach Marsberg. Ihr Anführer nannte sich Karl der Große. Er fand, die Sachsen sollten gefälligst nur noch bei seinem neuen Gott Trost und Hoffnung schöpfen, und zwar in Häusern wie diesem, die er Kirchen nannte (und die tatsächlich ein bisschen beeindruckender aussahen als die Irminsul). Um die Sachsen von den vielen Vorteilen des neuen Glaubens zu überzeugen, töteten seine Armee viele Sachsen. Man sollte meinen, das sei eine ganz schlechte Strategie, aber rückblickend betrachtet war sie insgesamt ja schon erfolgreich. Inzwischen stehen nun drei Kirchen in Marsberg.

Die Irminsul war dem Karl natürlich ein Dorn im Auge. Er stand an meinem Ufer und starrte finster hinauf auf die Burg, wo die Sachsen vom Buttenturm aus zurückstarrten. Dass da oben eine komische Säule und kein Kreuz aufragte, nahm er sehr persönlich. Karl wollte die Irminsul zerstören, aber die Eresburg in Marsberg lag so hoch oben und war so gut gemauert, dass seine Soldaten nicht rankamen.

Jedenfalls nicht, bis eine alte Frau ihnen einen Geheimgang zeigte. Kurz darauf war es aus und vorbei mit der heiligen Säule, die das Weltall trägt. Dass das Weltall nicht einstürzte, war für die Sachsen nur ein schwacher Trost. Ich spürte jede Menge Verzweiflung, gewürzt mit einer Prise Irritation darüber, dass das Weltall nicht eingestürzt war, und dem aufkeimenden Gedanken, dass dieses neue Christentum dann wohl tatsächlich Recht haben musste.

Ich kann noch sehen, wie Karl der Große triumphierend auf dem Hügel von Marsberg stand und die Trümmer der Irminsul musterte, während mein Wasser so rot vom Blut war, dass mir schlecht wurde. Ich habe viele Kriege erlebt, aber die Sachsenkriege gehörten zu den schlimmsten.
Endgültig zerstört hat die Burg erst viele hundert Jahre später die Armee eines Menschen namens Karl Gustav Wrangel aus einem Land namens Schweden. Auch in diesem Krieg ging es angeblich wieder darum, bei welchem Wesen die Menschen Trost suchen sollten.

In Marsberg habe ich also die Menschen so richtig kennengelernt, und diese erste Begegnung war nicht sehr erfreulich. Aber damit hier kein negativer Eindruck entsteht: Bestimmt folgen auf meiner zweiten Hälfte auch ein paar angenehmere Begegnungen. Denn ich bin noch längst nicht am Ende.

01 Juni 2020

Eder: Von Lützel nach Frankenberg

 Ereignisse einer Eder-Expedition

1. Tag: Die Ederquelle

Jedermann kennt die Weser. Auch, dass sie aus Werra und Fulda entsteht, dürfte noch vielen bekannt sein. Doch es heißt, der wahre, wasserreichste Ursprung der Weser sei ein anderer Fluss namens Eder. Ein seltsamer Strom, breiter als Fulda und Werra und voller uralter, geheimnisvoller Bauwerke von zum Teil wortwörtlich untergegangenen Kulturen.

Während meiner Fulda-Expedition entdeckte ich erste Hinweise, dass ein solcher Fluss existieren könnte. Sein genauer Verlauf blieb für mich jedoch terra incognita, denn die älteren Karten der Eder sind erschreckend ungenau.

Da ich eine neue Herausforderung suchte, bin ich nach monatelanger Planung aufgebrochen, um den Verlauf des Flusses vollständig zu kartographieren und das Land zu erforschen. Es ist eine Reise ins Unbekannte, die mehrere Tage meines Lebens in Anspruch nehmen wird. Wer weiß, ob ich lebend zurückkehren werde? (Ja, wird aber knapp.) Und werde ich hinterher noch derselbe sein? (Ja, eigentlich schon.)

Als ich aus der Bahn steige, stehe ich am einzigen Bahnsteig von Lützel. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Vor mir verschwindet die schmale Straße in den unbekannten Bergen. Nun bin ich ganz auf mich gestellt.

Gleich zu Beginn erwartet mich der körperlich anspruchsvollste Teil der Reise. Schon nach wenigen Metern geht es steil nach oben. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, könnte ich vom Weg abkommen und viele Zentimeter tief ins Gras fallen. Die Folgen (grüne Flecken auf der Hose) wären nicht auszudenken.
Doch nach nicht enden wollender Zeit (einer halben Stunde) habe ich es geschafft und das gefährliche Rothaargebirge bezwungen. Es handelt sich um eines jener germanischen Mittelgebirge, das bei schneller Durchfahrt leicht mit der sonstigen Hügellandschaft verwechselt werden kann - denn völlig flach ist es in Mitteldeutschland selten. Oben hingegen sah es schon mehr nach einem Gebirge aus. Dunkelgrüne, länglich Berge strecken sich in mein Blickfeld, weder so hoch noch so stark vom Borkenkäfer zerfressen wie der Harz. Eine erste Messung ergibt 70 Prozent Nadelwald.
In vielerlei Hinsicht erscheint mir dies als westdeutsches Spiegelbild des Thüringer Waldes. In einem Reiseführer heißt es: Aufgrund der Höhenlage sind die Niederschlagswerte relativ hoch und die Sommer angenehm erfrischend - ein armseliger Versuch einer Beschönigung, aber zugleich nur allzu wahr, wie ich bald feststellen werde.
Hier oben sind so manche Wanderer unterwegs, doch sie wagen sich nur wenige Meter vom sicheren Parkplatz fort. Bald habe ich sie abgehängt.

Die Wasserscheide zwischen Rhein und Weser verläuft hier oben, wenige Kilometer entfernt sollen sich die besser erforschten Quellen der Lahn und der Sieg befinden. Um die Ederquelle zu entdecken, bedarf es einer gründlichen Durchsuchung des Unterholzes. Unter dem Berg Ederkopf tritt sie reichlich unauffällig als Hangschuttquelle (alternative Bezeichnung: Schlammschuttquelle) aus und bildet eine Pfütze. Nach ungefähr einem Meter ist erstmals mit bloßem Auge eine ganz leichte Fließbewegung zu sehen. Ein Trittstein stellt die erste Möglichkeit dar, den Fluss zu überqueren.
Ich bin überrascht. Keine steinernen Mauern, kein Wasserhahn, kein Löwenkopf und kein Brunnen - diese Quelle scheint ganz in ihrem natürlichen Zustand belassen zu sein. Erst nach ausgiebiger Untersuchung des Bodens entdecke ich mikroskopisch kleine Überreste aus Mörtel und Steinen. Die Quelle muss einmal gefasst gewesen sein und wurde dann renaturiert. Eine sinnvolle Maßnahme, denn gerade die Abwesenheit jeder menschlichen Gestaltung (vom Trittstein mal abgesehen) macht sie einzigartig unter den Quellen der größeren Flüsse.
Ich entdecke auch keine weiteren Quellflüsse, sodass sich nicht die Frage stellt, welche nun die wahre Quelle ist. Dies ist die unkomplizierteste Quelle, die ich kenne.

In diesem seltsamen Wald zähle ich insgesamt 50 Moosarten und 80 Farnarten, und in nur einem Hektoliter Flusswasser finde ich die Keimzellen fast ebenso vieler Pflanzen. Die Eder hat gleich auf den ersten Metern die verantwortungsvolle Aufgabe, durch diesen Zelltransport die Pflanzen-Fortpflanzung sicherzustellen. Insekten oder Wind werden hier nicht gebraucht.
Dem Moos geht es hier hervorragend, den Bäumen hingegen nicht: Viele sind umgestürzt und nur wenige scheinen mit beiden Wurzeln fest in der Erde verankert zu sein. Was ist das für ein Wald, der seinen Bäumen das Leben so schwer macht? Es ist das sogenannte Ederbruch. Nach einer kurzen Grabung merke ich, wie weich und torfig der Boden ist. Solch ein Torfboden ist äußerst sauer, hinzu kommen die Torfmoose, die noch mehr Säure ausscheiden. Das erschwert den Bäumen die Nährstoffaufnahme, weshalb die Bäume ihrerseits echt sauer sind.

Als nächstes durchquert die Eder den Eicherwald, ein Tal aus bauschigen Büschelbäumen. Auch dies ist ein Bruchwald, genauer gesagt ein Birkenbruchwald.

Dabei bildet der kleine Bach erstaunlich hohe Steilufer. Bis zu zwanzig Zentimeter geht es steil bergab. Hier möchte ich lieber nicht hinunterstürzen (denn meine Schuhe könnten nass werden).

Nach einigen Kilometern folgt ein kleiner Felsabbruch. Die Form lässt zweifelsfrei darauf schließen, dass es sich um einen verlassenen Steinbruch handelt. Die offene Felswand besteht aus geschieferten Ton- und Schluffsteinen. Sie sind in einer Sattelstruktur angeordnet (also einer Falte, in der die Gesteinsschichten aufgewölbt sind). Eine derartige Schichtung lässt nur einen Schluss zu: Vor etwa 400 Millionen Jahren erstreckte sich hier das Delta eines Flusses, der den Ton und Schluff herbeischwemmte. Angesichts der vielen Gesteinsschichten muss der Fluss so breit gewesen sein wie der Mississippi.
Als dann das Rheinische Schiefergebirge entstand, faltete es die Schichten zusammen und schieferte sie, das heißt, es spaltete sie in dünne Platten. Diesen Schiefer werde ich heute öfter sehen - und das ist noch gewaltig untertrieben. Tatsächlich müsste man, um in dieser Region keinen Schiefer zu sehen, die Augen fest zusammenkneifen.
Im Steinbruch wurde der Schiefer also abgebaut - doch wozu? Ein kurzer Vergleich mit einer Bodenprobe des Forstwegs bestätigt meine Vermutung: Damit wurden Wege geschottert.

Bald darauf geschieht mit der Eder dasselbe, was auch allen anderen Flüssen nach weniger als zehn Kilometern widerfährt: Sie bekommt ein Tal, also ein richtiges, nicht nur eine Schneise im Wald. Eines Tages muss ich noch herausfinden, woher diese richtigen Täler kommen - der Fluss kann sie ja nicht geformt haben, wenn er vorher noch nicht da war. 

Der Weg wird freilich nicht gerade einfacher: Rutschiger Schlamm und rauschende Furten der Nebenbäche halten mich auf. Allerdings nur geringfügig. Ich bin selbst überrascht, dass ich kein einziges Mal auf dieser außerordentlich feuchten Strecke auch nur leicht ins Rutschen gerate.

Die erste größere Ansiedlung an der Eder nennt sich Erndtebrück und besteht, wie meine Messungen bestätigen, zu 100 Prozent aus Schiefer. Vom Bahnhof bis zur Kirche strahlen Steinplatten in frischem Steingrau von den Fassaden herab.

Gibt es hier überhaupt andere Farben? O ja, aber ausschließlich unter der Erde! Und was für welche. Es handelt sich um uralter Höhlenmalereien, die bemerkenswert gut erhalten sind und zweifelsfrei belegen, dass die Kombination von Rad und Bahn hier bereits auf eine jahrhundertealte Tradition zurückgeht. Wirklich, in diesem rückständigen Lande gibt es schon derart lange Eisenbahnen? Ich werde dieser Tradition näher auf den Grund gehen und den genauen Zeitraum bestimmen müssen.
Dass die Zeichnungen unterirdisch gelagert sind, lässt nur den Schluss zu, dass die extremen Wetterbedingungen an der Oberfläche jede Farbe allzu rasch verblassen lassen.

Hinter Erndtebrück folge ich also zunächst der Bahnlinie. Ich bin beeindruckt, dass diese dörfliche Gegend bereits über eine Eisenbahn verfügt. Noch beeindruckender wäre dies freilich, wenn sie schneller als in Schrittgeschwindigkeit fahren könnte.

Das Tal wird zunehmend enger und zwingt mich, in den Wald auszuweichen und dort auf und ab zu fahren. Gelegentlich erinnert es mich an das Diemeltal, doch ist es deutlich schwieriger zu passieren. So schlecht befahrbar, wie manche Aufzeichnungen behaupten, ist der Weg dann aber doch nicht.

In diesem Tal leben die Doppelstockhaufen-Waldameise und das gewöhnliche Hausrind, so viel sehe ich mit eigenen Augen. Zudem entdecke ich Kothaufen und Fußspuren wilder Wisente, welche in Europa sehr selten sind. Fortan achte ich besonders darauf, dass ich nicht versehentlich mit drei Meter großen Wisent-Bullen zusammenstoße.

Ich durchquere das Wittgensteiner Land, das durch die gleichnamige Adelsfamilie eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Sie regiert hier seit 750 Jahren. In einer Biegung des Tals passiere ich die Vororte von Bad Berleburg. Das da vorne scheint allerdings nicht ihr Residenzschloss zu sein.

Im Vorort Raumland besteht die gesamte Talseite aus Schieferplatten, zwischen denen ein paar Bäume wachsen. Das war den schieferhungrigen Bewohnern aber immer noch nicht genug, weshalb sie ein Schieferbergwerk errichteten. Inzwischen ist es geschlossen, offenbar ist ihnen klargeworden, dass nun wirklich mehr als genug Schiefer vorhanden ist.
Unterdessen hat die grünliche Eder eine stattliche Breite erreicht, die sie vorerst beibehalten wird.

Nun stoße ich auf ein eigenartiges geographisches Phänomen. Ein grüner Wulst erstreckt sich quer durch das Tal, eine Art Damm oder Deich, doch nur auf einer Seite des Flusses und weit vom Ufer entfernt. Anhand der Lage der Ortschaften kann ich ausschließen, dass er dem Hochwasserschutz diente.

Doch was dann? Ist es ein erhöhter Luxuswanderweg für die Herren von Sayn-Wittgenstein? Ein Rennweg für extraschnelle mittelalterliche Boten? Ein extralanges Hügelgrab einer versunkenen Zivilisation von Riesenschlangen? 

Ich bemerke kaum den beständigen, leichten Regen, so sehr fasziniert mich dieses Rätsel.
Auf dem Damm wächst eine beeindruckende Vielfalt an Pflanzen, unter denen insbesondere der gelbe Löwenzahn, seltsame weiße Blumen und die jungen, schlanken Bäume auffallen.


Ich folge dem Weg auf der Oberseite des Damms. Oft verläuft er als Hohlweg, manchmal aber auch mit Aussicht über das Edertal.

Dass ein Teil des geheimnisvollen Damms aus Schiefer besteht, sollte mich nicht weiter überraschen.
Moment mal. Wo ist eigentlich die Eisenbahn? Seit Bad Berleburg höre ich kein Tuten der Züge mehr. Sollte dies etwa die stillgelegte Fortsetzung der Bahntrasse sein? Ich bin skeptisch. Eine kurze Messung an einer tiefer liegenden Bodenprobe ergibt: Dann müsste die Trasse mehr als 100 Jahre alt sein.

Gab es damals hierzulande überhaupt schon Eisenbahnen? Und wie sind sie durch solch eine enge, kurvige Passage gekommen?

Der geheimnisvolle Damm durchquert mehrere Dörfer, von denen Hatzfeld das größte ist. Hier ragen die Kirche und die Überreste einer Burg über der Straße auf.

Bald darauf stoße ich auf zwei Brücken, welche den Eisenbahnbrücken des vergangenen Jahrhunderts nicht unähnlich sind. Ich kratze etwas Rost ab und untersuche ihn. Er stammt tatsächlich aus dem frühen 20. Jahrhundert, genauer kann ich es nicht bestimmen. Dies spricht trotz meiner anfänglichen Zweifel für die Eisenbahn-Hypothese. Einen noch besseren Beweis finde ich jedoch, als ich das Gegenteil einer Brücke entdecke.

Denn als nächstes verschwindet der Weg in einem Tunnel. Ich vermute, die Eisenbahnen sparten sich so eine enge Schleife des Edertals.

Als ich im gemauerten Torbogen verschwinde, ändert sich alles. Eine seltsame Dunkelheit und Stille umfängt mich. Nur mein Atem und das leise Surren meines Gefährts sind zu hören. Spärlich beleuchtet erstreckt sich der Tunnel in einer langgezogenen, endlosen Kurve vor mir. Bald kann ich weder vorn noch hinten Tageslicht wahrnehmen. Und es wird deutlich kühler, weshalb ich meiner Jacke sehr dankbar bin.
Das Mauerwerk ist von feinster Qualität und ausgesprochen sauber. Nur auf dem Boden sind vereinzelt winzige Kotreste zu finden. Ich kann sie der seltenen Mopsfledermaus zuordnen. Offenbar überwintert sie in diesem Tunnel. In dem Fall sollte der Tunnel in den Wintermonaten keinesfalls durchfahren werden.

Als ich wieder das Tageslicht erreiche, entdecke ich den endgültigen Beweis der Eisenbahn-Hypothese: Ein kurzes Stück Schiene. Immer längere Schienenstücke tauchen auf, sodass ich nicht mehr auf der alten Bahntrasse fahren kann. Ohne Zweifel war dies eine Eisenbahnstrecke. Wie ist es nur möglich, dass in diesen grauen Urzeiten schon so meisterhafte Tunnel gebaut wurden, deren Beleuchtung noch heute funktioniert?

Die nächste Stadt heißt Battenberg und hat sogar einen Bahnhof, auch wenn dieser nicht mehr genutzt wird. Der Kern der Stadt liegt auf einem Hügel direkt neben einem noch größeren Hügel. Auf dem kleineren Hügel steht die Neuburg, auf dem noch größeren Hügel steht die Ruine der Kellerburg. Sie zeigt ausschließlich Spuren von Wind und Wetter, weshalb ich vermute, dass sie keinem Krieg zum Opfer fiel, sondern freiwillig aufgegeben und durch später die Neuburg ersetzt wurde. Durchaus verständlich: Dadurch war der steile Weg nach oben nur noch halb so lang.

Die wenigen Reisenden, die bei diesem Wetter in die Stadt streben, machen einen weiten Umweg um den noch größeren Hügel.

Ich hingegen bin überzeugt, dass es auch zwischen den beiden Hügel eine geheime Abkürzung in die Stadt geben muss. Historische Karten, die ich vorher studiert habe, legen dies nahe. Und tatsächlich entdecke ich einen solchen Weg. Er ist nur derart steil, dass ich nicht sicher bin, ob ich wirklich Zeit eingespart habe. Unterwegs entdecke ich den alten Trinkwasserbrunnen der Stadt. Im Boden entdecke ich winzige Spuren von Gold und Silber - die Battenberger bezogen offensichtlich nicht nur Wasser aus diesem Berg.

Battenberg ragt still in die Regenwolken auf. Es ist kaum zu glauben, aber in der städtischen Chronik entdecke ich Hinweise, dass der Name dieses ausgestorbenen Städtchens ist in viele Winkel der Welt gereist ist. Prinz Ludwig von Battenberg exportierte den Namen, als er eine Enkelin der britischen Königin Victoria heiratete. Seinetwegen wird das britische Königshaus bis heute manchmal mit vollständigem Namen Mountbatten-Windsor genannt.
Aber nicht nur das: Anlässlich der Hochzeit wurde der Battenberg-Kuchen erfunden. Er wird von Briten immer noch gern gegessen und hat ein Schachbrettmuster. Nach diesem Kuchen wiederum wurde ein ähnliches Muster auf Polizei- und Rettungsfahrzeugen benannt. In Großbritannien und so mancher ehemaliger Kolonie seines Weltreichs kurven Rettungswagen mit der Battenberg-Markierung herum.

Ein Brunnen in Battenberg zeigt das Märchen von Hänsel und Gretel. Ob die Stadt irgendeinen Bezug zum Märchen hat, kann ich nicht herausfinden. Dass Hänsel und Gretel im Regen stehen, passt auf jeden Fall zum Wetter. Wobei es mittlerweile so stark regnet, dass eventuell vorhandene Brotkrumen als Wegmarkierung weggeschwemmt würden.

Einige Legenden besagen, dass sich in Battenberg ein Wilder Wassergarten von außergewöhnlicher Schönheit nach Art der englischen Gärten befinden soll. Als ich nach langer Suche seinen angeblichen Standort finde, stehe ich vor einer verschlossenen Pforte neben einer Tankstelle und empfange widersprüchliche Signale: Das Schild scheint Besucher zwar willkommen zu heißen, doch das Gartentor ist fest verschlossen. Einige Meter entfernt verbirgt sich ein weiterer Zugang in den Bäumen, ich bin aber nicht sicher, ob dieser noch zum Wassergarten gehört. Wasser ist vorhanden, wild ist jedoch allenfalls das Regenwasser.

Zwischen Battenberg und Frankenberg wird das Tal breit. Dies ist die Rennertehäuser Aue, in der ich mich beinahe wie im Flachland fühle.
Mittendrin steht eine eigentümliche Holzhütte. Sie scheint verlassen zu sein und ist nur über einen Pfad aus Holzwolle zu erreichen. Im Inneren entdecke ich alte Schrifttafeln. Ihre Aufschrift deutet darauf hin, dass hier einst Vogelkundler lebten. Ihre Aufzeichnungen sind alt und vergilbt, weshalb ich keinen Zweifel habe, dass diese Hütte unbewohnt ist.
Ach, schau einer an, da sind ja zwei Vögel auf einem Feld. Sie sind recht groß, haben auffällige orangefarbene, gegabelte Schwanzfedern, doch auch ein wenig Weiß ist darunter. Ob ich sie anhand der Tafeln identifizieren kann? Tatsächlich, das müssen Rotmilane sein. Sie stehen etwas verloren im Regen herum und können sich nicht aufraffen, weiterzufliegen. Das kann ich nur zu gut verstehen.

Denn es wird immer dunkler und der Regen lässt nicht nach. Ob ich in dieser Hütte übernachten soll? Immerhin steht sie auf Stelzen, sodass ich geschützt bin, falls der Regen das Land überschwemmen sollte. Doch steht das Häuschen allein auf weitem Feld - und besteht aus Holz. Was ist, wenn ein Blitz einschlägt? Nein, das lasse ich lieber. Es ist ja nicht mehr weit bis Frankenberg.

Durch ein System von Wehren, Schleusen und sehr breiten Gräben bewässert die Eder die Aue. Die Felder verraten, dass dies offenkundig der Landwirtschaft dient, doch die reiche Vogel- und Pflanzenwelt legt nahe, dass es sich um einen jener Fälle handelt, in denen auch die Natur von den menschlichen Eingriffen profitiert.
Wer den Weg der Holzwolle weiter beschreitet, stößt auf eine Reihe rechteckiger Trittsteine durch den Graben. Welche geheimnisvollen, spirituellen Wasserrituale dort praktiziert werden, kann ich nicht herausfinden, da hier bei diesem Sauwetter niemand irgendetwas praktiziert und der Regen alle Spuren fortgespült hat.

Als ich endlich in Frankenberg ankomme, entdecke ich ein großes graues Gebäude mit dicken weißen Schläuchen. Es ist verschlossen, schließlich ist heute ein Feiertag. Laut Aufschrift gehört es einem Meister Thonet. Als ich die Ausstellungsstücke vor dem Haus untersuche, bin ich überrascht: Sie sind geradezu federleicht! Ein Stuhl wiegt lediglich 2,5 Kilogramm.
Denn offenkundig sind dies keine auf gewöhnliche Weise geschreinerten Möbel. Einige scheinen aus Holz zu bestehen, dass Meister Thonet auf beliebige Weise gebogen hat. Neuere Exemplare bestehen aus Stahlrohr. Ich habe bereits von solchen neuartigen Möbeln gehört, doch wusste ich nicht, dass sie in Frankenberg herstellt werden.

Frankenberg liegt tatsächlich auf einem Berg und dürfte eine der größten Städte an der Eder sein. Am Fuße des Bergs stoße ich auf ein Kloster. Die Mönche verbringen ihre Zeit offenbar mit der Zucht von Zierblumen und der sorgfältigen Pflege einer Parkanlage.

Die Lage der Stadt widerspricht einigen historischen Karten, die ich in der Chronik von Battenberg gefunden habe. Eigentlich gehörte dieses Land den Mainzer Bischöfen und diese Stadt dürfte gar nicht existieren. Der Gründer, Konrad von Thüringen, muss sämtliche Karten ignoriert haben und kam damit durch. Vermutlich gefiel ihm die Stelle so gut, weil sich hier zwei Handelsstraßen kreuzten. Das war in Friedenszeiten hervorragend und in Kriegszeiten furchtbar, weil dann aus Handelsstraßen tödliche Heerstraßen wurden.
Frankenbergs Rathaus sieht etwas ungewöhnlich aus, es scheint einen übergroßen Helm aus Schiefer zu tragen. Die feingliedrige Ziegelstein-Ausmauerung der Gefache in unterschiedlichen Mustern weist auf niederdeutsche Einflüsse hin. Um alle zehn Türme zu sehen, muss ich einmal um das Haus herumgehen.