Ereignisse einer Eder-Expedition
1. Tag: Die Ederquelle
Jedermann kennt die Weser. Auch, dass sie aus Werra und Fulda entsteht, dürfte noch vielen bekannt sein. Doch es heißt, der wahre, wasserreichste Ursprung der Weser sei ein anderer Fluss namens Eder. Ein seltsamer Strom, breiter als Fulda und Werra und voller uralter, geheimnisvoller Bauwerke von zum Teil wortwörtlich untergegangenen Kulturen.
Während meiner Fulda-Expedition entdeckte ich erste Hinweise, dass ein solcher Fluss existieren könnte. Sein genauer Verlauf blieb für mich jedoch terra incognita, denn die älteren Karten der Eder sind erschreckend ungenau.
Da ich eine neue Herausforderung suchte, bin ich nach monatelanger Planung aufgebrochen, um den Verlauf des Flusses vollständig zu kartographieren und das Land zu erforschen. Es ist eine Reise ins Unbekannte, die mehrere Tage meines Lebens in Anspruch nehmen wird. Wer weiß, ob ich lebend zurückkehren werde? (Ja, wird aber knapp.) Und werde ich hinterher noch derselbe sein? (Ja, eigentlich schon.)
Als ich aus der Bahn steige, stehe ich am einzigen Bahnsteig von Lützel. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Vor mir verschwindet die schmale Straße in den unbekannten Bergen. Nun bin ich ganz auf mich gestellt.
Gleich zu Beginn erwartet mich der körperlich anspruchsvollste Teil der Reise. Schon nach wenigen Metern geht es steil nach oben. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, könnte ich vom Weg abkommen und viele Zentimeter tief ins Gras fallen. Die Folgen (grüne Flecken auf der Hose) wären nicht auszudenken.
Doch nach nicht enden wollender Zeit (einer halben Stunde) habe ich es geschafft und das gefährliche Rothaargebirge bezwungen. Es handelt sich um eines jener germanischen Mittelgebirge, das bei schneller Durchfahrt leicht mit der sonstigen Hügellandschaft verwechselt werden kann - denn völlig flach ist es in Mitteldeutschland selten. Oben hingegen sah es schon mehr nach einem Gebirge aus. Dunkelgrüne, länglich Berge strecken sich in mein Blickfeld, weder so hoch noch so stark vom Borkenkäfer zerfressen wie der Harz. Eine erste Messung ergibt 70 Prozent Nadelwald.
In vielerlei Hinsicht erscheint mir dies als westdeutsches Spiegelbild des Thüringer Waldes. In einem Reiseführer heißt es: Aufgrund der Höhenlage sind die Niederschlagswerte relativ hoch und die Sommer angenehm erfrischend - ein armseliger Versuch einer Beschönigung, aber zugleich nur allzu wahr, wie ich bald feststellen werde.
Hier oben sind so manche Wanderer unterwegs, doch sie wagen sich nur wenige Meter vom sicheren Parkplatz fort. Bald habe ich sie abgehängt.
Die Wasserscheide zwischen Rhein und Weser verläuft hier oben, wenige Kilometer entfernt sollen sich die besser erforschten Quellen der Lahn und der Sieg befinden. Um die Ederquelle zu entdecken, bedarf es einer gründlichen Durchsuchung des Unterholzes. Unter dem Berg Ederkopf tritt sie reichlich unauffällig als Hangschuttquelle (alternative Bezeichnung: Schlammschuttquelle) aus und bildet eine Pfütze. Nach ungefähr einem Meter ist erstmals mit bloßem Auge eine ganz leichte Fließbewegung zu sehen. Ein Trittstein stellt die erste Möglichkeit dar, den Fluss zu überqueren.
Ich bin überrascht. Keine steinernen Mauern, kein Wasserhahn, kein Löwenkopf und kein Brunnen - diese Quelle scheint ganz in ihrem natürlichen Zustand belassen zu sein. Erst nach ausgiebiger Untersuchung des Bodens entdecke ich mikroskopisch kleine Überreste aus Mörtel und Steinen. Die Quelle muss einmal gefasst gewesen sein und wurde dann renaturiert. Eine sinnvolle Maßnahme, denn gerade die Abwesenheit jeder menschlichen Gestaltung (vom Trittstein mal abgesehen) macht sie einzigartig unter den Quellen der größeren Flüsse.
Ich entdecke auch keine weiteren Quellflüsse, sodass sich nicht die Frage stellt, welche nun die wahre Quelle ist. Dies ist die unkomplizierteste Quelle, die ich kenne.
In diesem seltsamen Wald zähle ich insgesamt 50 Moosarten und 80 Farnarten, und in nur einem Hektoliter Flusswasser finde ich die Keimzellen fast ebenso vieler Pflanzen. Die Eder hat gleich auf den ersten Metern die verantwortungsvolle Aufgabe, durch diesen Zelltransport die Pflanzen-Fortpflanzung sicherzustellen. Insekten oder Wind werden hier nicht gebraucht.
Dem Moos geht es hier hervorragend, den Bäumen hingegen nicht: Viele sind umgestürzt und nur wenige scheinen mit beiden Wurzeln fest in der Erde verankert zu sein. Was ist das für ein Wald, der seinen Bäumen das Leben so schwer macht? Es ist das sogenannte Ederbruch. Nach einer kurzen Grabung merke ich, wie weich und torfig der Boden ist. Solch ein Torfboden ist äußerst sauer, hinzu kommen die Torfmoose, die noch mehr Säure ausscheiden. Das erschwert den Bäumen die Nährstoffaufnahme, weshalb die Bäume ihrerseits echt sauer sind.
Als dann das Rheinische Schiefergebirge entstand, faltete es die Schichten zusammen und schieferte sie, das heißt, es spaltete sie in dünne Platten. Diesen Schiefer werde ich heute öfter sehen - und das ist noch gewaltig untertrieben. Tatsächlich müsste man, um in dieser Region keinen Schiefer zu sehen, die Augen fest zusammenkneifen.
Im Steinbruch wurde der Schiefer also abgebaut - doch wozu? Ein kurzer Vergleich mit einer Bodenprobe des Forstwegs bestätigt meine Vermutung: Damit wurden Wege geschottert.
Bald darauf geschieht mit der Eder dasselbe, was auch allen anderen Flüssen nach weniger als zehn Kilometern widerfährt: Sie bekommt ein Tal, also ein richtiges, nicht nur eine Schneise im Wald. Eines Tages muss ich noch herausfinden, woher diese richtigen Täler kommen - der Fluss kann sie ja nicht geformt haben, wenn er vorher noch nicht da war.
Der Weg wird freilich nicht gerade einfacher: Rutschiger Schlamm und rauschende Furten der Nebenbäche halten mich auf. Allerdings nur geringfügig. Ich bin selbst überrascht, dass ich kein einziges Mal auf dieser außerordentlich feuchten Strecke auch nur leicht ins Rutschen gerate.
Die erste größere Ansiedlung an der Eder nennt sich Erndtebrück und besteht, wie meine Messungen bestätigen, zu 100 Prozent aus Schiefer. Vom Bahnhof bis zur Kirche strahlen Steinplatten in frischem Steingrau von den Fassaden herab.
Hinter Erndtebrück folge ich also zunächst der Bahnlinie. Ich bin beeindruckt, dass diese dörfliche Gegend bereits über eine Eisenbahn verfügt. Noch beeindruckender wäre dies freilich, wenn sie schneller als in Schrittgeschwindigkeit fahren könnte.
Das Tal wird zunehmend enger und zwingt mich, in den Wald auszuweichen und dort auf und ab zu fahren. Gelegentlich erinnert es mich an das Diemeltal, doch ist es deutlich schwieriger zu passieren. So schlecht befahrbar, wie manche Aufzeichnungen behaupten, ist der Weg dann aber doch nicht.
In diesem Tal leben die Doppelstockhaufen-Waldameise und das gewöhnliche Hausrind, so viel sehe ich mit eigenen Augen. Zudem entdecke ich Kothaufen und Fußspuren wilder Wisente, welche in Europa sehr selten sind. Fortan achte ich besonders darauf, dass ich nicht versehentlich mit drei Meter großen Wisent-Bullen zusammenstoße.
Ich durchquere das Wittgensteiner Land, das durch die gleichnamige Adelsfamilie eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Sie regiert hier seit 750 Jahren. In einer Biegung des Tals passiere ich die Vororte von Bad Berleburg. Das da vorne scheint allerdings nicht ihr Residenzschloss zu sein.
Im Vorort Raumland besteht die gesamte Talseite aus Schieferplatten, zwischen denen ein paar Bäume wachsen. Das war den schieferhungrigen Bewohnern aber immer noch nicht genug, weshalb sie ein Schieferbergwerk errichteten. Inzwischen ist es geschlossen, offenbar ist ihnen klargeworden, dass nun wirklich mehr als genug Schiefer vorhanden ist.
Gibt es hier überhaupt andere Farben? O ja, aber ausschließlich unter der Erde! Und was für welche. Es handelt sich um uralter Höhlenmalereien, die bemerkenswert gut erhalten sind und zweifelsfrei belegen, dass die Kombination von Rad und Bahn hier bereits auf eine jahrhundertealte Tradition zurückgeht. Wirklich, in diesem rückständigen Lande gibt es schon derart lange Eisenbahnen? Ich werde dieser Tradition näher auf den Grund gehen und den genauen Zeitraum bestimmen müssen.
Dass die Zeichnungen unterirdisch gelagert sind, lässt nur den Schluss zu, dass die extremen Wetterbedingungen an der Oberfläche jede Farbe allzu rasch verblassen lassen.
Unterdessen hat die grünliche Eder eine stattliche Breite erreicht, die sie vorerst beibehalten wird.
Dass ein Teil des geheimnisvollen Damms aus Schiefer besteht, sollte mich nicht weiter überraschen.
Nun stoße ich auf ein eigenartiges geographisches Phänomen. Ein grüner Wulst erstreckt sich quer durch das Tal, eine Art Damm oder Deich, doch nur auf einer Seite des Flusses und weit vom Ufer entfernt. Anhand der Lage der Ortschaften kann ich ausschließen, dass er dem Hochwasserschutz diente.
Doch was dann? Ist es ein erhöhter Luxuswanderweg für die Herren von Sayn-Wittgenstein? Ein Rennweg für extraschnelle mittelalterliche Boten? Ein extralanges Hügelgrab einer versunkenen Zivilisation von Riesenschlangen?
Ich bemerke kaum den beständigen, leichten Regen, so sehr fasziniert mich dieses Rätsel.
Auf dem Damm wächst eine beeindruckende Vielfalt an Pflanzen, unter denen insbesondere der gelbe Löwenzahn, seltsame weiße Blumen und die jungen, schlanken Bäume auffallen.
Ich folge dem Weg auf der Oberseite des Damms. Oft verläuft er als Hohlweg, manchmal aber auch mit Aussicht über das Edertal.
Moment mal. Wo ist eigentlich die Eisenbahn? Seit Bad Berleburg höre ich kein Tuten der Züge mehr. Sollte dies etwa die stillgelegte Fortsetzung der Bahntrasse sein? Ich bin skeptisch. Eine kurze Messung an einer tiefer liegenden Bodenprobe ergibt: Dann müsste die Trasse mehr als 100 Jahre alt sein.
Bald darauf stoße ich auf zwei Brücken, welche den Eisenbahnbrücken des vergangenen Jahrhunderts nicht unähnlich sind. Ich kratze etwas Rost ab und untersuche ihn. Er stammt tatsächlich aus dem frühen 20. Jahrhundert, genauer kann ich es nicht bestimmen. Dies spricht trotz meiner anfänglichen Zweifel für die Eisenbahn-Hypothese. Einen noch besseren Beweis finde ich jedoch, als ich das Gegenteil einer Brücke entdecke.
Als ich im gemauerten Torbogen verschwinde, ändert sich alles. Eine seltsame Dunkelheit und Stille umfängt mich. Nur mein Atem und das leise Surren meines Gefährts sind zu hören. Spärlich beleuchtet erstreckt sich der Tunnel in einer langgezogenen, endlosen Kurve vor mir. Bald kann ich weder vorn noch hinten Tageslicht wahrnehmen. Und es wird deutlich kühler, weshalb ich meiner Jacke sehr dankbar bin.
Gab es damals hierzulande überhaupt schon Eisenbahnen? Und wie sind sie durch solch eine enge, kurvige Passage gekommen?
Der geheimnisvolle Damm durchquert mehrere Dörfer, von denen Hatzfeld das größte ist. Hier ragen die Kirche und die Überreste einer Burg über der Straße auf.
Denn als nächstes verschwindet der Weg in einem Tunnel. Ich vermute, die Eisenbahnen sparten sich so eine enge Schleife des Edertals.
Das Mauerwerk ist von feinster Qualität und ausgesprochen sauber. Nur auf dem Boden sind vereinzelt winzige Kotreste zu finden. Ich kann sie der seltenen Mopsfledermaus zuordnen. Offenbar überwintert sie in diesem Tunnel. In dem Fall sollte der Tunnel in den Wintermonaten keinesfalls durchfahren werden.
Als ich wieder das Tageslicht erreiche, entdecke ich den endgültigen Beweis der Eisenbahn-Hypothese: Ein kurzes Stück Schiene. Immer längere Schienenstücke tauchen auf, sodass ich nicht mehr auf der alten Bahntrasse fahren kann. Ohne Zweifel war dies eine Eisenbahnstrecke. Wie ist es nur möglich, dass in diesen grauen Urzeiten schon so meisterhafte Tunnel gebaut wurden, deren Beleuchtung noch heute funktioniert?
Die nächste Stadt heißt Battenberg und hat sogar einen Bahnhof, auch wenn dieser nicht mehr genutzt wird. Der Kern der Stadt liegt auf einem Hügel direkt neben einem noch größeren Hügel. Auf dem kleineren Hügel steht die Neuburg, auf dem noch größeren Hügel steht die Ruine der Kellerburg. Sie zeigt ausschließlich Spuren von Wind und Wetter, weshalb ich vermute, dass sie keinem Krieg zum Opfer fiel, sondern freiwillig aufgegeben und durch später die Neuburg ersetzt wurde. Durchaus verständlich: Dadurch war der steile Weg nach oben nur noch halb so lang.
Die wenigen Reisenden, die bei diesem Wetter in die Stadt streben, machen einen weiten Umweg um den noch größeren Hügel.
Ich hingegen bin überzeugt, dass es auch zwischen den beiden Hügel eine geheime Abkürzung in die Stadt geben muss. Historische Karten, die ich vorher studiert habe, legen dies nahe. Und tatsächlich entdecke ich einen solchen Weg. Er ist nur derart steil, dass ich nicht sicher bin, ob ich wirklich Zeit eingespart habe. Unterwegs entdecke ich den alten Trinkwasserbrunnen der Stadt. Im Boden entdecke ich winzige Spuren von Gold und Silber - die Battenberger bezogen offensichtlich nicht nur Wasser aus diesem Berg.
Battenberg ragt still in die Regenwolken auf. Es ist kaum zu glauben, aber in der städtischen Chronik entdecke ich Hinweise, dass der Name dieses ausgestorbenen Städtchens ist in viele Winkel der Welt gereist ist. Prinz Ludwig von Battenberg exportierte den Namen, als er eine Enkelin der britischen Königin Victoria heiratete. Seinetwegen wird das britische Königshaus bis heute manchmal mit vollständigem Namen Mountbatten-Windsor genannt.
Aber nicht nur das: Anlässlich der Hochzeit wurde der Battenberg-Kuchen erfunden. Er wird von Briten immer noch gern gegessen und hat ein Schachbrettmuster. Nach diesem Kuchen wiederum wurde ein ähnliches Muster auf Polizei- und Rettungsfahrzeugen benannt. In Großbritannien und so mancher ehemaliger Kolonie seines Weltreichs kurven Rettungswagen mit der Battenberg-Markierung herum.
Einige Legenden besagen, dass sich in Battenberg ein Wilder Wassergarten von außergewöhnlicher Schönheit nach Art der englischen Gärten befinden soll. Als ich nach langer Suche seinen angeblichen Standort finde, stehe ich vor einer verschlossenen Pforte neben einer Tankstelle und empfange widersprüchliche Signale: Das Schild scheint Besucher zwar willkommen zu heißen, doch das Gartentor ist fest verschlossen. Einige Meter entfernt verbirgt sich ein weiterer Zugang in den Bäumen, ich bin aber nicht sicher, ob dieser noch zum Wassergarten gehört. Wasser ist vorhanden, wild ist jedoch allenfalls das Regenwasser.
Zwischen Battenberg und Frankenberg wird das Tal breit. Dies ist die Rennertehäuser Aue, in der ich mich beinahe wie im Flachland fühle.
Ein Brunnen in Battenberg zeigt das Märchen von Hänsel und Gretel. Ob die Stadt irgendeinen Bezug zum Märchen hat, kann ich nicht herausfinden. Dass Hänsel und Gretel im Regen stehen, passt auf jeden Fall zum Wetter. Wobei es mittlerweile so stark regnet, dass eventuell vorhandene Brotkrumen als Wegmarkierung weggeschwemmt würden.
Mittendrin steht eine eigentümliche Holzhütte. Sie scheint verlassen zu sein und ist nur über einen Pfad aus Holzwolle zu erreichen. Im Inneren entdecke ich alte Schrifttafeln. Ihre Aufschrift deutet darauf hin, dass hier einst Vogelkundler lebten. Ihre Aufzeichnungen sind alt und vergilbt, weshalb ich keinen Zweifel habe, dass diese Hütte unbewohnt ist.
Ach, schau einer an, da sind ja zwei Vögel auf einem Feld. Sie sind recht groß, haben auffällige orangefarbene, gegabelte Schwanzfedern, doch auch ein wenig Weiß ist darunter. Ob ich sie anhand der Tafeln identifizieren kann? Tatsächlich, das müssen Rotmilane sein. Sie stehen etwas verloren im Regen herum und können sich nicht aufraffen, weiterzufliegen. Das kann ich nur zu gut verstehen.
Denn es wird immer dunkler und der Regen lässt nicht nach. Ob ich in dieser Hütte übernachten soll? Immerhin steht sie auf Stelzen, sodass ich geschützt bin, falls der Regen das Land überschwemmen sollte. Doch steht das Häuschen allein auf weitem Feld - und besteht aus Holz. Was ist, wenn ein Blitz einschlägt? Nein, das lasse ich lieber. Es ist ja nicht mehr weit bis Frankenberg.
Durch ein System von Wehren, Schleusen und sehr breiten Gräben bewässert die Eder die Aue. Die Felder verraten, dass dies offenkundig der Landwirtschaft dient, doch die reiche Vogel- und Pflanzenwelt legt nahe, dass es sich um einen jener Fälle handelt, in denen auch die Natur von den menschlichen Eingriffen profitiert.
Wer den Weg der Holzwolle weiter beschreitet, stößt auf eine Reihe rechteckiger Trittsteine durch den Graben. Welche geheimnisvollen, spirituellen Wasserrituale dort praktiziert werden, kann ich nicht herausfinden, da hier bei diesem Sauwetter niemand irgendetwas praktiziert und der Regen alle Spuren fortgespült hat.
Als ich endlich in Frankenberg ankomme, entdecke ich ein großes graues Gebäude mit dicken weißen Schläuchen. Es ist verschlossen, schließlich ist heute ein Feiertag. Laut Aufschrift gehört es einem Meister Thonet. Als ich die Ausstellungsstücke vor dem Haus untersuche, bin ich überrascht: Sie sind geradezu federleicht! Ein Stuhl wiegt lediglich 2,5 Kilogramm.
Denn offenkundig sind dies keine auf gewöhnliche Weise geschreinerten Möbel. Einige scheinen aus Holz zu bestehen, dass Meister Thonet auf beliebige Weise gebogen hat. Neuere Exemplare bestehen aus Stahlrohr. Ich habe bereits von solchen neuartigen Möbeln gehört, doch wusste ich nicht, dass sie in Frankenberg herstellt werden.
Frankenberg liegt tatsächlich auf einem Berg und dürfte eine der größten Städte an der Eder sein. Am Fuße des Bergs stoße ich auf ein Kloster. Die Mönche verbringen ihre Zeit offenbar mit der Zucht von Zierblumen und der sorgfältigen Pflege einer Parkanlage.
Die Lage der Stadt widerspricht einigen historischen Karten, die ich in der Chronik von Battenberg gefunden habe. Eigentlich gehörte dieses Land den Mainzer Bischöfen und diese Stadt dürfte gar nicht existieren. Der Gründer, Konrad von Thüringen, muss sämtliche Karten ignoriert haben und kam damit durch. Vermutlich gefiel ihm die Stelle so gut, weil sich hier zwei Handelsstraßen kreuzten. Das war in Friedenszeiten hervorragend und in Kriegszeiten furchtbar, weil dann aus Handelsstraßen tödliche Heerstraßen wurden.
Frankenbergs Rathaus sieht etwas ungewöhnlich aus, es scheint einen übergroßen Helm aus Schiefer zu tragen. Die feingliedrige Ziegelstein-Ausmauerung der Gefache in unterschiedlichen Mustern weist auf niederdeutsche Einflüsse hin. Um alle zehn Türme zu sehen, muss ich einmal um das Haus herumgehen.
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