Die Bergbayerngrenze II
Länge: 96 km
Grenzquerungen: 6
Bundesländer: Bayern/Thüringen
Seite: etwa gleich
Erkenntnis: Das genaue Schneckentempo der DDR-Bürokratie entschied darüber, an welchen Orten heute Menschen leben und wo nicht.
Nach der Fränkischen Saale durchquert das Grüne Band die Haßberge. Der moosige Wald ist Heimat einiger seltener Tierarten. Weil ich über die Hügel zügig rüberkam, gelang es mir nicht, einen echten Hass auf die Haßberge zu entwickeln.
Im Jahre 1964 hatten die Gemeinderäte von Sternberg-Zimmerau nichts zu lachen. Die Grenze schreckte alle ab, nirgendwo wollte sich Industrie ansiedeln. Das einzige, was die Leute interessierte, war der Blick vom Büchelberg auf die tödlichen Grenzanlagen. Pragmatisch entschieden sie, dann halt mit diesen Schaulustigen Geld zu verdienen: Der Bayernturm sollte entstehen. (Eigentlich liegt das Dorf ja in Franken und nicht im "richtigen" Bayern, aber der Turm wurde extra so genannt, um zu feiern, dass Franken seit 150 Jahren zu Bayern gehört.) Man plante einen 56 Meter hohen Turm mit Restaurantterrasse, Aufzug und Hotel. Und was kam am Ende raus?
Nun ja, das hier. Ein Monstrum aus Wellblech von wahrhaft ehrfurchtgebietender Scheußlichkeit, welches das Land in der Form eines gigantischen Stehtischs überragt.
Hotel, Restaurant und Aufzug wurden gestrichen, die Höhe stark gekürzt, nur eine Aussichtsplattform blieb. Aber die wurde wurde zum echten Besuchermagneten - zumindest, bis die neue A7 der nahen Bundesstraße die Besucher wegnahm. Nach der Wende erlebte der Turm noch einen kurzen Aufschwung, und seitdem scheint er vor sich hin zu rosten.
Und dennoch kann man immer noch rein. Alles, was man benötigt, ist eine Ein-Euro-Münze und etwas Geduld. Meine erste Münze verschwand im Schacht, ohne dass sich das Drehkreuz bewegte. Ach ja, da standen ja Öffnungszeiten dran. Erst ab um acht? Dann mache ich jetzt eben eine ausgiebige Frühstückspause am Bayernturm.
Eigentlich finde ich die Drehkreuz-Lösung klasse und finde, das sollte bei viel mehr historischen Türmen, Burgen und Gebäuden gemacht werden, wenn man die schon aufwendig instand hält, aber kein Personal für die Kasse hat. Ist doch viel besser, als wenn man erst jemanden anrufen muss, um so ein Ding aufzuschließen - welcher Tourist macht sich schon die Mühe?
Als ich die letzte rostige Stufe verließ, fand ich mich auf einem ca. 200 Quadratmeter großen Bretterfeld wieder. Neugierig ging ich auf die Fenster zu, um mehr zu erkennen. Erst nach ein paar Schritten wurde mir klar, dass alles, was mich jetzt noch von einem 38 Meter tiefen Sturz bewahrte, diese abgenutzten Bretter waren.
Punkt acht ging der Strom an, und das Drehkreuz reagierte auf meine zweite Münze. Ich marschierte polternd ein rostiges Treppenhaus hinauf. Sonnenlicht fiel durch (mehr oder weniger) transparente Wellblechstücke und beleuchtete meinen Weg. Adolf Hitler war hier März 1939, behauptet eine Kritzelei. Das ist historisch zwar ausgeschlossen, aber angesichts des abgenutzten Zustands trotzdem irgendwie glaubhaft. Immerhin wirkte die Konstruktion stabil.
Noch.
Bretter, zwischen denen Lücken klafften, durch die ich besagte 38 Meter Tiefe gut erkennen konnte.
Bretter, von denen manche deutlich wackelten.
Und da war mir doch etwas komisch im Magen. Der Turm ist auf seine Art ein beeindruckendes Gebäude, aber etwas Mut braucht es schon.
Die Informationstafel über die Dorfgeschichte reicht von den Bauernkriegen bis zur Coronapandemie. Das eigensinnige evangelische Dorf litt schon während der Reformation darunter, dass es direkt an katholisches Gebiet grenzte. In der DDR entging es haarscharf der Schleifung.
Aber vergessen Sie all das, das echte Highlight von Poppenhausen ist etwas, das ich bislang schmerzlich vermisst habe: Ein Mülleimer! Die Bergbayerngrenze ist voller Rastplätze, aber ein Müllbehälter wurde bisher jedes Mal vergessen. Endlich kann ich den Haufen Abfall loswerden, den ich seit gestern quer durch Deutschland transportiere. Ob der Poppenhauser Papierkorb überhaupt genug Platz dafür hat?
Dieses Kreuz erinnert daran, wie die traditionelle Männerwallfahrt 1990 zum ersten Mal wieder ins Ostgebiet stattfinden konnte. Man ließ die Männer über die Grenze nach Thüringen wallfahren, doch als die männlichen Wallfahrer nach Bayern zurückwollten, war das Tor auf einmal wieder geschlossen. Sie bekamen es aber irgendwie auf, denn: "Christus hat noch viel größere Schranken überwunden."
In den Nachbardörfern lief die Wende weniger fromm ab: In Rieth und Albingshausen gab es anscheinend eine absolut legendäre Wiedervereinigungsparty, über welche die Infotafel aber keine Details verrät. Möglicherweise, weil der Verfasser immer noch Erinnerungslücken hat.
Das erste Dorf im Zipfel hieß Erlenbach. Die Betonung liegt auf hieß. Wie zu erwarten, ist von diesem geschleiften Dorf absolut nichts übrig. Die Aussiedelung der Bewohner erfolgte wie in den meisten Dörfern Stück für Stück, erst 1986 mussten die letzten raus und alles wurde plattgemacht. Das macht es irgendwie noch tragischer. Es hätte nur noch drei zusätzliche Jahre bürokratische Verzögerungen gebraucht, und Erlenbach würde noch existieren.
Gibt es überhaupt Orte im Rodachtal, von denen noch etwas übrig ist? Ja, da kommt einer. Ummerstadt hatte nach dem Krieg etwa 1000 Einwohner, und zwar weil so viele auswanderten, manche freiwillig, andere unfreiwillig, manche vor, manche nach der Wende. So wurde Ummerstadt in den 80ern zur kleinsten Stadt der DDR. Heute sind die Hügel von Ummerstadt ein Fluggebiet für Gleitschirmflieger.
Hier war eine Kompanie Grenzsoldaten stationiert. Zu ihren Aufgaben gehörte auch, in Umfragen herauszufinden, wie zufrieden die Bürger mit der Grenzsituation sind, um dann exakt gar nicht darauf zu reagieren. Wenn ein Soldat aus dem Urlaub zurückkehrte, durfte er erstmal sechs Stunden nicht in den Dienst. Bei einem persönlichen Gespräch musste zuerst geprüft werden, ob er zu Hause persönliche Krisen hatte und deshalb fliehen könnte.
Etwas unerwartet: Mitten im Nirgendwo des Rodachtals versteckt sich die gewaltige gläserne Terassentherme. In der Kurstadt Bad Colberg hat das gesunde Baden nämlich eine lange Tradition.
Vor dem Kurpark und dem historischen Kurhaus steht ein gekühlter Automat mit regionalen Spezialitäten. Wenn ich schon nicht essen gehe, dann probiere ich wenigstens auf diesem Wege etwas Bayrisches wie zum Beispiel... mal sehen... Curry-Maultauschen ("Die Maultaschen-Innovation") und Ofen-Leberkäse. Ob man das auf dem Campingkocher zubereiten kann?
Ja, kann man, zumindest die Maultaschen.
Heute entdeckte ich deutlich mehr Radwege, und der im Rodachtal ist einer der schönsten. Und dann, kurz vor dem Wald, erwartet mich eine Überraschung. Wieder einmal wurde ein Dorf geschleift. Aber diesmal, halten Sie sich fest, ist etwas davon zu sehen!
Billmuthausen war ziemlich groß, es hatte immerhin einen Kindergarten, eine Mühle und ein Schullandheim, an dem die berühmten Geschwister Scholl unterrichtet wurden.
Zuerst floh ein Großteil der Einwohner, sodass die DDR acht Vertriebenenfamilien ansiedelte. Aber sogar von denen hauten sieben hab - nicht mal Flüchtlinge wollten hier bleiben. Wer den weiten Weg aus Ostpreußen hinter sich hat, für den sind die paar Kilometer nach Bayern ja auch nur noch ein (potentiell tödlicher) Katzensprung.
Vom geschleiften Dorf Billmuthhausen ist folgendes übrig:
- Der Ludloff-Brunnen: Eine steinerne Viehtränke mit Gießkannen
- Die Mauern eines Grünfuttersilos, das später als Trinkwasserspeicher diente
- Ein Mühlstein, aber der ist bloß eine Leihgabe des Museums in Veßra an der Werra
- Ein Trafoturm (hinten links)
- Eine Gedächtniskapelle auf dem Friedhof, die allerdings erst nachträglich zur Erinnerung gebaut wurde
- Der Friedhof, auf dem früher die Kirche stand. Auf dem kleinen Gelände entdeckte ich fast sofort das Familiengrab der Ludloffs, denen das Rittergut Billmuthausen früher gehörte. Der größte Grabstein erinnert an das Dorf selbst. Das dazugehörige Kreuz wurde mit einem makabren Kreis aus Streckmetall dekoriert.
Fast alles davon sieht neu aus, lediglich das Silo und Teile des Friedhofs sind vermutlich original erhalten. Ach ja, und in der Wand der Gedächtniskapelle steckt der einzige erhaltene Stein der alten Kirche.
Engagierte Bürger haben diese Gedenkstätte aufgebaut. Wenn ich bedenke, wie von den anderen geschleiften Dörfern einfach null zu sehen war, dann muss es ein enormer Kraftakt gewesen sein, so viel wiederherzustellen. Keimzelle der Gedenkstätte war die Gedenkplatte auf dem Friedhof - die kurz nach ihrer Aufstellung erstmal geklaut wurde.
Ich hatte zwar gerade keinen passenden Stab zur Hand, aber zum Glück hingen Stab und Stein an einer passende Station zum Ausprobieren.
Nächste Station ist Streufdorf. Hier geschah etwas Ungewöhnliches: Die Bewohner wehrten sich mit Gewalt gegen die Zwangsaussiedelung, verprügelten Polizisten mit ihren eigenen Knüppeln und holten ihre aufgeladenen Möbel wieder von den LKWs runter. 500 Polizisten, Wasserwerfer und Pferde waren nötig, um dieses Dorf unter Kontrolle zu bringen, sogar die Sowjetarmee drohte einzugreifen.
Der recht eigene Umgang der Bewohner mit der Grenze zeigt sich auch darin, dass sie aus dem alten Streckmetallzaun nicht bloß (wie so oft) irgendwelche Kompostzäune gebastelt haben, sondern richtige repräsentative Eingangstore.
Es ist ja schön, dass diese Thüringer Dörfer auf den sonst obligatorischen Ernst-Thälmann-Weg verzichten - aber ihre Alternativen sind auch nicht gerade klangvoll.
Und jetzt etwas, das ich eher mit norddeutschen Radwegen assoziiere: Ich fahre durch ein Gatter und quer über den Acker. In der Viehsperre wächst eine Hecke.
Der Bauer hat sogar eine olle Hütte mit Aussichtsplattform auf sein Feld stellen lassen, in der man etwas über seine Tierhaltung in der Hutelandschaft nachlesen kann. Hier werden Wildpferde und Heckrinder gehalten. Heckrinder sind eine Rückzüchtung, bei der 15 Rinderrassen solange gut durchgemixt wurden, bis das Ergebnis (zumindest optisch) aussah wie der ausgestorbene Auerochse.
Danach verläuft der Radweg auf einem Mühlenwanderweg. Aber auf den Infotafeln über die abgerissenen Mühlen stand einfach so überhaupt nichts Interessantes. Sie wurden halt von A zu B zu C verkauft und verpachtet... joa, okay, weiter.
Moment mal, diesen Doppelgipfel da hinten kenne ich doch. Waren diese Berge nicht gestern schon den ganzen Tag zu sehen? Ich habe das Gefühl, im Kreis zu fahren. Nicht ganz zu Unrecht: Das grüne Band umkreist im großen Abstand den Thüringer Wald.
Auf einem kurzen Stück durch den Westen kam ich an ungefähr 326 Baumstammstapeln vorbei. Dies ist offensichtlich das natürliche Habitat einer großen Population von Holzfällern. Manche legen ihr Holz zwischendurch quer über einem Graben ab. Sehr zum Verdruss der Bauern: An den Eigentümer des Holzes!, schrieb ein verärgerter Farmer auf ein Schild. Machen Sie hinterher gefälligst ihre Rindenreste weg und hinterlassen Sie den Platz sauber, damit der Graben im Sommer gemäht werden kann!
Ist ja auch egal, der Froschgrundsee kann von vielen anderen Stellen ebenso gut bewundert werden.
Bis in die Stadt Coburg fuhr ich aber nicht rein. An diesem lila Kreisverkehr wuchtete ich mein Rad über den Hügel hinüber ins Rödental.
Dort befindet sich der Vorort namens, ähm, Rödental. Er sieht eher weiß und unscheinbar aus, also beschränkte ich meine Sightseeingtour auf den lokalen Edeka.
Für das Abendessen ist gesorgt, jetzt brauche ich nur noch einen Schlafplatz. Dieser sollte im Idealfall viel, viel besser sein als der letzte Nacht.
Wahnsinn, wie vielseitig die Bergbayerngrenze ist! Jetzt schlägt die Grenze eine neue Seite auf und bringt mich ins Coburger Zickzacktal (so nenne ich das jetzt einfach mal).
Also dann, Endspurt! Im Itztal sauste ich bequem am Wasser den Coburger Vororten entgegen.