Posts mit dem Label Kalibergbau werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Kalibergbau werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

04 April 2020

Werra: Vom Hexentanzplatz zum Monte Kali

Werra-Tag 2b: Verzückt und versalzen


gefahren im: Oktober 2021
Start & Ziel: Bahnhof Wildeck-Hönebach/Hexentanzplatz, Heringen
Länge: 3,5 km (+Anfahrt vom Bahnhof 6,5 Kilometer)
Werraquerungen: 0
Ufer: links
Bundesländer: Hessen, Thüringen nur bei der Anreise
Landschaft: weißgrauer Salzberg in strahlendem Herbstwald
Wegbeschaffenheit: steinhartes oder pulveriges Salz
Steigungen: am Anfang so richtig
Wetter: goldene Herbstsonne
Wind: kaum
Highlight: Blick nach Osten
Größte Hürde: steiler Abstieg auf rutschigem Salzsand
Zitat des Tages: "Glückauf und ich hoffe, Sie denken daran: Wir machen hier Sachen, die sind nicht so gut, aber wir machen auch Sachen, die sind gut."
- unser Haldenführer und Bergmann im Ruhestand -

1 Woche zuvor Ich buche uns telefonisch im Bergbaumuseum Heringen eine Salzführung.

12:40, Bahnhof Wildeck-Hönebach Wir steigen aus der Bahn und radeln die steile Landstraße hoch.

14:02 Wir biegen auf einen Waldweg ab. Dort steht ein bemerkenswert hässlicher Aussichtsturm in Form einer eigenartigen Betonskluptur mit Wendeltreppe. An diesem Sonntagvormittag besteigen ihn so einige Spaziergänger - kaum zu glauben, dass er früher noch viel beliebter gewesen sein soll. Andererseits herrscht auch besonders traumhaftes Aussichtswetter. Wir können weit über das Werratal und den Rhäden blicken. Stahlzacken weisen auf diverse Dörfer und die Wartburg hin, die nur 20 Kilometer entfernt zu erkennen ist. Unser Ziel ist deutlich näher, verbirgt sich jedoch größtenteils hinter Bäumen.

1965 Der westdeutsche Bundesgrenzschutz baut den Aussichtsturm Bodesruh. Er dient dem Tourismus, genau wie der Turm bei Duderstadt, obwohl er komplett anders aussieht. Anders als die DDR mit ihren einförmigen Beobachtungstürmen förderte der BGS eine gewisse architektonische Vielfalt. Das war wohl die Freiheit des Westens. Naja, das und die Tatsache, dass DDR-Bürger von ihren Türmen erschossen wurden, während die BRD-Bürger von ihren Türmen beobachten konnten, wie Leute erschossen wurden.


14:30 Wir kommen vorbei an mehreren Holzhütten, die laut Schild eine Steigleitung enthalten. Nur die letzte Steigleitung ist nackt.

14:34, Hexentanzplatz Vier Waldwege kreuzen sich am letzten öffentlich zugänglichen Platz. Er ist mit Bänken und Infotafeln ausgestattet, damit die Leute möglichst hier bleiben und sich nicht allein weiter vorwagen. Viele Besucher in gelben Westen haben bereits ihr Auto abgestellt und laufen herum.


1521 Martin Luther läuft auf seiner Flucht zur Wartburg hier vorbei. Er konnte sich vermutlich nicht mal ansatzweise vorstellen, was für ein Berg hier eines Tages entstehen würde. Was er wohl davon gehalten hätte?

14:42 Ein älterer Herr in roter Weste geht herum und hakt unsere Namen auf einer Liste ab. Es handelt sich um einen Bergmann im Ruhestand, der Haldenführungen durchführt. Er kassiert fünf Euro, die dem Bergbaumuseum Heringen zugutekommen.
An diesem herrlichen Tag haben sich so viele Neugierige angemeldet, dass wir coronabedingt in drei Gruppen aufgeteilt werden.


14:50 Es geht los! Durch das Tor schlüpfen wir auf das Gelände der K+S GmbH.


14:52 Ich muss meinen Fahrradhelm gegen einen weißen Bergmannshelm tauschen. Kurz hinter dem Tor erwartet uns der Aufstieg.

1976 Die K+S GmbH erfindet das Elektrostatische Trennverfahren. Mithilfe von Strom können ganz schnell die Kali- und Magnesiumsalze aussortiert werden. Die werden für Dünger, Medikamente oder die chemische Industrie gebraucht. Wenig später wird der größte Salzberg Deutschlands genehmigt und fängt rasend schnell zu wachsen an.
Zwei Drittel vom Salz fallen beim Sortieren durch und werden als nutzlos eingestuft, quasi Müll. Was macht man damit?
Das kommt drauf an, ob das Salz in Wasser aufgelöst oder fest ist. Durch das Elektrostatische Trennverfahren fällt zum Glück deutlich weniger flüssige Salzlauge an als früher, aber immer noch etwas. Die landet erst einmal in großen Sammelbecken (hinten im Bild). Von da aus bieten sich folgende Optionen:
  1. Per Pipeline ins Meer. Ist teuer und aufwändig, weshalb die Pläne für eine Pipeline von hier zur Nordsee inzwischen aufgegeben wurden.
  2. In den Untergrund verpressen. Versalzt die Werra indirekt ein bisschen.
  3. Direkt ab in die Werra damit! Durch Möglichkeit drei wurde die Werra zu einem der am stärksten belasteten Gewässer Europas.

1950-1989 BRD und DDR haben jeweils zwei Kalibergwerke an der Werra. In der DDR gibt es keine Grenzwerte, wie viel man in einen Fluss kippen darf. Also wird so viel wie möglich reingehauen. Vorher lebten 60 bis 100 Tierarten in der Werra, jetzt nur noch drei, darunter die Groppen. Die wohnen normalerweise im Pazifik.

2012 Der Grenzwert von 2500 Milligramm pro Liter, der in der BRD seit 1942 als kriegsbedingte Ausnahme gilt, läuft aus. (Bei Niedrigwasser wird er ohnehin schon nicht eingehalten.) Mittlerweile ist die Aktiengesellschaft K+S für alle Kalibergwerke zuständig, und wie man sich denken kann, wird die auch nicht von allein zum Umweltschützer, wenn man ihr nicht auf die Finger schaut. K+S möchte das Zeug gern für weitere 700 bis 1000 Jahre so reinkippen und hat auch noch eine Pipeline zur Werra gebaut, durch die Salzwasser von einem anderen Bergwerk kommt. Der Kompromiss ist ein Vier-Stufen-Plan, laut dem die Abwässer langsam reduziert werden und das Abfallsalz doch noch irgendwie verwertet und verkauft wird.

2075 Ich bin längst Rentner und die Werra hat Süßwasserqualität - sofern man dem Vier-Stufen-Plan glaubt. Oder aber die K+S sagt: "Ach ja, der Plan, den haben wir in den letzten 60 Jahren ganz vergessen! Jetzt schaffen wir das leider nicht mehr." Wählen Sie selbst, welche Zukunft Ihnen wahrscheinlicher erscheint.

15:04 Okay, für Salzlauge sehen alle Optionen nicht so toll aus. Und wie sieht es mit den Möglichkeiten für das feste Salz aus? Ein bisschen besser. Das Zeug könnte man:

  1. Wieder runter ins Bergwerk bringen. Das wäre doppelt so teuer, weshalb das Salz der K+S auf dem Weltmarkt nicht mit den Russen und Kanadiern mithalten könnte, erklärt uns der Führer. Bei anderen Bergwerken wird das gemacht, weil die Schwerkraft das Salz automatisch runterrieseln lässt. Aber hier sind die unterirdischen Gänge waagerecht, da rieselt es nicht von alleine.
  2. Zu Bergen aufschütten. Diese Möglichkeit Nummer 2 ist es, die wir uns heute ganz genau ansehen. Sie hat den Nachteil, dass die Berge das Grundwasser ein bisschen belasten, viel Ackerland blockieren und laut manchen Leuten nicht schön aussehen. Ein Vorteil ist, dass die Berge laut anderen Leuten sehr beeindruckend und auf ihre Weise wunderschön sind. Wir tendieren zur zweiten Ansicht.
  3. Verkaufen. Ein Mitglied unserer Gruppe fragt, wieso das nicht einfach in den Supermarkt als Kochsalz geliefert wird. Im Prinzip ist das ja dasselbe Zeug, Natriumchlorid halt.
    "Naja, Sie bezahlen im Supermarkt 60 Cent für Ihr Salz. Wenn wir das hier reinigen und abfüllen würden, müssten Sie 1,40 Euro bezahlen." Anders als bei einem Steinsalzbergwerk ist das Zeug aus dem Kalibergwerk nicht von Natur aus so rein, dass es die gesetzlichen Vorgaben erfüllt.
    Dennoch, soo abwegig erscheint mir diese Lösung nun auch wieder nicht. Immerhin bezahlen die Leute auch mehr für Produkte aus recyceltem Mikroplastik, das aus dem Meer gefischt wurde. Wobei Hiermit retten Sie den Ozean natürlich etwas überzeugender ist als Hiermit machen Sie den komischen Salzberg in ihrer Gegend etwas kleiner und geben ein paar Hektar für irgendeinen Bauern frei. Da wäre es vermutlich leichter, die Salzlauge zu vermarkten, die in die Werra gekippt wird: Hiermit retten Sie die Werra. Aber was könnte man mit der Plörre machen?
1990 Nach der Wende entsteht ein neues Bergwerk in Heringen. Es wird mit anderen Bergwerken verbunden, aber nur durch ein kleines Loch für ein Förderband, damit die Gefahr von Wassereinbrüchen nicht steigt.
Das Bergwerk hat zwei Schächte. Der, wo die Bergleute runterfahren, liegt ein Stück entfernt im Wald. In dem weißen Gebäude, das wir direkt vor uns sehen, kommt Zeug aus der Tiefe hoch, das nicht unter der Erde sein soll, nämlich giftige Gase - und Salz. Das Salz landet auf einem Förderband. (Das Gas nicht. Das wäre auch schwierig.) Pro Stunde fahren 1000 Tonnen Salz vorbei.

1998 Erst acht Jahre nach der Gründung wird den vielen neugierigen Besuchern gestattet, ihren Fuß auf diesen außergewöhnlichen Ort zu setzen.


15:06 Wir steigen einen Zufahrtsweg rauf. Er ist steil. So richtig steil. Neben uns rattert das 1,3 Kilometer lange Förderband lautstark vor sich hin.
Unser Führer hingegen könnte gerne etwas lauter sein. Es ist im Grunde nicht möglich, ihn zu verstehen und gleichzeitig den Corona-Mindestabstand einzuhalten.
Der Berg wird Kalimandscharo oder Monte Kali genannt - anfangs scherzhaft, aber inzwischen ist das mehr oder weniger der offizielle Name. Nur wer seine Mitmenschen langweilen will, spricht von einer Abraumhalde.


15:16 Wir erreichen das Ende des Aufstiegs, so langsam wird der Boden unter unsern Füßen wieder waagerecht. Die Aussicht ist grandios. Wir können bis zur Wasserkuppe gucken. Deshalb bekommen wir zwischendurch noch erklärt, welche Gebirge es hier so gibt und welche Wanderwege darin empfehlenswert sind. Muss ja nicht immer alles mit Bergbau zu tun haben.
Aus der Nähe sieht der Berg längst nicht so strahlend weiß aus, sondern stellenweise ganz schön grau. Ein bisschen wie Schneematsch am Rande einer Hauptverkehrsstraße.


15:17 Wir haben Anweisung erhalten, keine Mitarbeiter des Bergwerks zu fotografieren. Die sind wegen der umweltschädlichen Auswirkungen ihres Berufs so unbeliebt, dass sie öffentliche Anfeindungen fürchten. Es ist extrem einfach, sich an diese Regel zu halten. Nur ein einziges Mal fährt einer im Auto vorbei. Alles andere läuft automatisch.
Die Umweltprobleme seines ehemaligen Arbeitgebers verschweigt uns der Bergmann nicht, sondern er geht ausführlich und möglichst neutral darauf ein. Das überrascht mich.

15:18 Das Förderband beginnt sich aufzuspalten. Ein Teil des Salzes sackt durch eine Art Trichter abwärts. Das Salz ist bereits angefeuchtet, damit der Berg auch schön zusammenklebt und fest wird. Sonst würde der ja niemals Wind und Wetter standhalten. Damit wäre eine weitere Frage beantwortet, die ich mir gestellt habe, seit ich zum ersten Mal solche Berge aus der Ferne gesehen habe.
Dieses Anfeuchten hat aber auch einen Nachteil: Würde die Anlage stillstehen, wäre nach nur 20 Minuten alles katastrophal verkrustet und verstopft.


15:20 Nun treten wir ein in eine Art Mondlandschaft, die mich entfernt an ein Skigebiet erinnert, mit Fließbändern anstelle von Liften. Auf dem Boden liegt zum Teil ziemlich viel loser Salzsand, der sich beim Durchlaufen nach einer Mischung aus Strandsand und Kunstschnee anfühlt.
Das Plateau ist dermaßen riesig, dass wir zunächst überhaupt kein Ende sehen. Das weitverzweigte Förderband bringt das Salz überallhin, ab und zu wird es aber trotzdem mit dem Bagger verteilt. Eine Art Tunnel führt unter dem zentralen Band hindurch. Er bietet sowohl für Bagger als auch für Besuchergruppen genug Platz.
Vermutlich könnte man hier stundenlang herumlaufen, doch die Führung soll ja nur 1,5 Stunden dauern. Unser Führer bringt uns an zwei besondere Aussichtspunkte an zwei gegenüberliegenden Seiten des Bergs.


15:28 Wir begutachten die waldreiche Aussicht nach Westen, wo die Grenze zur DDR verlief. (Ja, von hier aus gesehen war die DDR im Westen. Die verrückte Werra-Grenze halt.) Unser Führer empfiehlt uns diese Stelle, um ein Foto zu machen, was wir auch sofort alle tun. Die Flanken des Monte Kali formen einen ausgesprochen fotogenen, dreieckigen Einschnitt, dem meine Kamera nicht völlig gerecht wird.
Das Salz bildet eine Art Geländer. Es lassen sich zwar problemlos ein paar Salzbröckchen abbrechen, doch insgesamt macht es einen stabilen Eindruck.


15:34 Anschließend laufen wir durch eine Art kurzen Tunnel unterm Förderband durch zur anderen Seite.

15:39 Hier hat der Salzberg besonders eigenartige Formen angenommen. Das sieht ja aus wie ein Thron aus Salz! Und wieso ist das da hinten so schwarz, ist das normale Erde? Ich vergesse, danach zu fragen.
Im Osten sind deutlich mehr Häuser über die Landschaft verteilt. Hier erstrecken sich die Stadtteile von Heringen, außerdem sehen wir weitere Industrieanlagen des Kalibergbaus und die Sammelbecken für die Salzlauge.


15:44 Zuletzt bekommen wir gezeigt, wo die nächste Erweiterung des Monte Kali hinsoll. Es ist dem Salzberg verboten, höher als 520 Meter über den Meeresspiegel zu wachsen, denn das ist die übliche Höhe der Mittelgebirge ringsherum. Und die hat er mit 515 Metern fast erreicht. (Davon sind 240 Meter Salz.) Ab und zu schrumpft der Berg ein bisschen, weil das Salz zusammengedrückt wird. Dann kann wieder was obendrauf gekippt werden. Aber das reicht nicht, um all den neuen Salzmüll loszuwerden.
Daher wächst der Berg vor allem in die Breite und schluckt immer mehr Felder. Schon jetzt wird das nächste Gebiet mit Ton zugeklebt, damit da in Zukunft Salz drauf kann und es nicht so stark in den Boden sickert.


16:10 Jetzt müssen wir das steile Stück wieder zurück nach unten. Aus irgendeinem Grund nehmen wir dafür nicht die feste Straße vom Hinweg, sondern einen anderen Weg, der ein paar Meter entfernt parallel nach unten führt. Im Grunde ist das nur die Spur eines Fahrzeugs mit sehr dicken Reifen. Die haben im Salzsand tiefe Abdrücke hinterlassen. Von denen ist nach unserem Durchmarsch kaum noch etwas zu erkennen: Unter unseren Füßen rutscht das Zeug weg und zieht uns abwärts. Huaa... So legen wir 180 Meter Höhenunterschied auf nur 1,4 Kilometern zurück.

16:29 Als wir nach diesem abenteuerlichen Abstieg unten ankommen, sind wir doch ganz froh.

17:12, Bahnhof Wildeck-Hönebach Da sich das gastronomische Angebot in Hönebach auf einen Outdoor-Grillstand bei eisiger Kälte beschränkt, fahren wir zwei Stationen weiter nach Obersuhl, um zu essen und zugleich die Zeit herumzukriegen, bis endlich ein Zug in die Gegenrichtung kommt.

03 April 2020

Werra: Von Merkers zur Salzkristallgrotte

Werra-Tag 2a: Ganz unten angekommen


gefahren im: November 2021
Start: Merkers, Erlebnisbergwerk, Besucherzentrum
Ziel: Merkers, Erlebnisbergwerk, Besucherzentrum
Länge: 20 km
Werraquerungen: 0 (glaube ich)
Ufer: links unter der Erde
Bundesländer: Thüringen, ganz kurz unterirdisch Hessen
Landschaft: verschiedenfarbig dunkle, gestreift-gekratzte Salzwände
Wegbeschaffenheit: holpriger Kratzphalt und loses Salz
Steigungen: Boah, aber hallo, vor allem zur Kristallgrotte!!!
Wetter: 18-28 Grad (je nach Tiefe), trockene Salzluft, kein Regen
Wind: nur der Luftzug aus den Lüftungsröhren
Highlight: Salzkristallgrotte
Größte Hürde: Aufstieg von der Kristallgrotte
Zitat des Tages: "Und was man bergab fährt, das fährt man auch wieder...?" - "Taxi!"
-unser Guide vs. ein Witzbold in der Gruppe-

September 2019, Stadtbibliothek Ich durchstöbere einen älteren Radführer von der Werra und lese darin, dass man dort in einem Bergwerk radeln kann. Sofort bin ich fasziniert. Ohne dieses Buch hätte ich die Tour wohl nie gemacht - als ich mir eine neue Auflage des Radführers kaufe, ist die unterirdische Radtour nicht erwähnt, und auf der Website des Bergwerks ist sie total versteckt.
Da ich ungefähr weiß, was ich suche, finde ich im Internet die Touren. Sie sind ausgebucht. Ich lasse mich auf eine inoffizielle Warteliste setzen.

März 2020 Was mir nichts nützt, denn niemand sagt ab.

Dezember 2020 Es ist mir gelungen, eine Tour zu buchen, doch sie wird während des Shutdowns abgesagt.

14.11.2021 Endlich!
Nach zwei Jahren kann die Tour unter 3G-Bedingungen stattfinden.

8:40, Bad Salzungen, Bahnhof Wir steigen aus der Bahn in einen schönen Novembertag. Die Wolken lösen sich zunehmend auf und zeigen etwas Blau. Nicht, dass wir auf dieser Radtour viel davon mitbekommen werden.
Wir haben eine Stunde und 20 Minuten, um auf dem Werratalradweg nach Merkers zu radeln. Das ist genug Zeit, aber es sollte nichts schiefgehen. Zum Beispiel sollte, um nur mal so irgendein völlig aus der Luft gegriffenes Beispiel zu nennen, der Feldweg am Krayenberg nicht wegen Windwurf (der nicht zu sehen war) gesperrt sein. Sonst müssten wir die entsprechende Absperrung leider ignorieren.

9:48, Erlebnisbergwerk Merkers, Schacht III Wir biegen in die Zufahrtstraße (die heißt wirklich so) ab und erreichen das Erlebnisbergwerk. Als erstes folgen wir einem aufgestellten Schild um die Ecke, wo wir unsere Räder in einer großen Garage oder so was in der Art abstellen sollen. Die werden schon mal zum Startpunkt gebracht. Und zwar mit diesem großen Dingsbums, das da oben aus dem Gebäude rausguckt. Das ist 74 Meter hoch. Unsere Räder fahren allerdings nicht 74 Meter hoch, ganz im Gegenteil.


9:57, Erlebnisbergwerk Merkers, Besucherzentrum Unterdessen füllen schreiben wir im Besucherzentrum unsere Kontaktdaten auf, die wir sowieso schon per Mail geschickt haben, zeigen den 3G-Nachweis und bestätigen brav, dass unsere Fahrradlichter funktionieren und dass wir eine Stirnlampe dabeihaben. Was sogar stimmt.

10:00 Während der Einweisung stellen sich unsere Guides und die Leiterin der Marketingabteilung vor.

10:19
Schacht III
244 m ü. NN
0 m Teufe Wir steigen Treppen hinauf, bis wir schließlich ein Garagentor durchqueren. Auf einmal sind wir nicht mehr in einem edlen, weißen Gebäude, das an ein Hotel erinnert. Das hier sieht schon mehr nach Bergwerk aus.
Ein eigenartiges Konstrukt aus rot und grün lackiertem Stahl erhebt sich. Es besteht aus Treppen, drei Etagen und einem Wirrwarr an Gittern und Stahlstreben. Wir werden der mittleren Etage zugeteilt und stehen dort verwirrt herum. Sind wir wieder unter diesem 74 Meter hohen Turm, aber ein paar Etagen höher als da, wo unsere Räder eingestiegen sind? Fährt dieses Ding jetzt etwa runter? Wo hält man sich denn da fest?


10:21 Einer der Guides schafft etwas Klarheit, indem er ein Gitter aufschließt und uns in eine dunkle Kabine lässt. Er ruft "Seilfahrt!" (das müssen die irgendwie immer vorher rufen) und schaltet ein kleines Licht an, das die Dunkelheit besonders hervorhebt.
Wir sollen unseren Mundschutz überall tragen, wo der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Das trifft auf diesen Käfig definitiv zu.
Der Guide verspricht uns eine Geschwindigkeit von 8 Metern pro Sekunde. Ich werde nervös.

10:22 Der Aufzug Die Seilfahrt setzt sich in Bewegung. Zum Glück nicht mit 8 Metern pro Sekunde. Es geht schön langsam los. Ansonsten wäre das Ding eine Freizeitparkattraktion. Und zwar keine sehr vertrauenswürdige.
Als wir die volle Geschwindigkeit erreichen, können wir sie nicht sehen, sondern nur spüren. Die Fliesen und Stahlstreben hinter dem Gitter sind längst einem vorbeifließenden Dunkelgrau gewichen.

(Einige Bilder wie dieses hier habe ich am Computer aufgehellt, damit Sie auch sehen können, was da ist. Andere, bei denen eh nicht viel zu retten war, habe ich so gelassen, damit Sie auch sehen können, wie verdammt dunkel es da unten ist.)

10:23
Schacht III
-262 m ü. NN
506 m Tiefe Teufe (für Nicht-Bergleute: 506 m unter der Erde)
Kilometer 0 
90 Sekunden später betreten wir neugierig ein identisches mittleres Stockwerk und steigen eine identische Treppe abwärts. Schon dieser Vorraum ist sehr beeindruckend. Gleichmäßig graue, dünne Streifen gestalten das Gestein. Das ist schon mal schöner als alle oberirdischen Felsen an der Werra.
Unsere Räder stehen bereit. Ich entdecke mein Rad in der Masse.


10:28 Wir schieben an einigen LKWs vorbei. Mit denen werden bei den normalen Bergwerksführungen die Besucher rumgefahren. Auch uns wird eines dieser Autos folgen, worüber wir ganz froh sind. Erstens dürfen wir da unser Gepäck auf den gepolsterten Bänken ablegen, zweitens können sich dort im Notfall erschöpfte Radler mit ihrem Fahrrad hinsetzen, und drittens sitzt da im äußersten Notfall auch noch ein Ersthelfer drin.
Auch Kleidung können wir hier ablegen. Das wird eifrig gemacht, denn hier unten ist es viel wärmer. Trotzdem wird mir empfohlen, vorerst noch nicht im T-Shirt zu fahren, das wäre zu frisch.


10:36 Wir werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Gruppe 1 bricht sofort auf. Uns wird noch ein bisschen die Route erklärt, vor allem durch welche Gesteinsschichten wir radeln. Uff, ganz schön viele. Die Seilfahrt hat uns wirklich nur so ganz, ganz ungefähr auf die richtige Höhe gebracht. Den Rest müssen wir aus eigener Kraft überwinden.
Das Erlebnisbergwerk bietet zwei Arten von Radtouren. Die 15 Kilometer langen Mountainbike-Touren gehen nur zur Salzkristallgrotte und zurück. Wir haben eine sogenannte Event-Mountainbike-Tour gebucht. Die ist 20 Kilometer lang und beinhaltet fast alle Stationen der normalen Führung.

10:37 Ein Telefon klingelt. Unser Guide hört es erst, nachdem ihn ein brüllender LKW-Fahrer darauf aufmerksam gemacht hat.
Gruppe 1 ist am Apparat. Sie bitten darum, ein bestimmtes Tor zu öffnen, damit sie endlich loskönnen.

 

10:45 Wenig später erreichen wir selbst das fragliche Garagentor, das inzwischen weit offen steht. Nun endet der zivilisierte Vorraum mit seinen parkenden LKWs, Pflastersteinen, Neonröhren und ordentlich gestreiften Felswänden.

10:48 Rot-weiße Flatterbänder, wie man sie von Baustellen kennt, hängen von der Decke und glänzen im Licht meiner Stirnlampe. Sie markieren Löcher in  der Decke. Die wurden da reingebohrt, um zu prüfen, ob sich darin Salz absetzt.
Auf dem ersten Abschnitt sind die Gänge breit, die Wände eintönig grau und der Boden schwarz asphaltiert. Asphalt, das ist doch super, denke ich. Doch bald ahne ich, dass diesem Asphalt irgendetwas Entsetzliches widerfahren sein muss. Gott allein weiß, was für seltsame Bergbau-Fahrzeuge ihm diese langen, tiefen Kratzer zugefügt haben. Wir werden kräftig durchgeschüttelt.

(aufgehellt)

10:51 Die Beschilderung ist (anders als der Weg) besser als bei vielen oberirdischen Radrouten. An jeder Kurve reflektiert ein Schild mit einem Pfeil unsere Lichter, gelegentlich mit der Aufschrift Radfahrer. Hinzu kommen ein paar unauffällige Schilder an der Wand, die auf besondere Orte im Bergwerk hinweisen. Und manchmal stehen sogar weiße Bergleute herum und weisen den Weg. Mit diesem ganzen Aufwand begründet die Chefin der Marketingabteilung, warum diese Tour so verflucht viel kostet.
Die meisten Abzweigungen sind sowieso abgesperrt und sehen dermaßen alt und unbenutzt aus, dass ich nicht in Betracht gezogen hätte, da abzubiegen. Aber sicher ist sicher: Immerhin gibt es in diesem Irrgarten über 4600 Kilometer zum Radeln. Die schaffen wir heute nicht alle.


10:54 Wir durchqueren nun die obere Schicht aus Kalisalzen. Das ist das Zeug, hinter dem die Bergleute hauptsächlich her waren. Davon gibt es nur zwei dünne Schichten, der Rest ist uninteressantes Steinsalz.
Wir sind in Gruppe 2. Das bedeutet, dass wir zuerst das machen, was bei den meisten Führungen eigentlich am Schluss kommt. Auch gut. Und das bedeutet, wir fahren erst einmal wieder bergauf.

10:55 Und dann ein bisschen bergab.

10:56 Und wieder bergauf.

10:57 Nochmal kurz bergab.

10:58 Aber vor allem bergauf.

1965 Die typischen Bergwerksloren gehen in den Ruhestand und stehen seitdem in Ruhe auf dem Abstellgleis. Es erfolgt eine Verkehrswende zum Förderband.


10:59 Bald wird unsere Gruppe von unserer komplett unterschiedlichen Fitness weit auseinandergezogen. Wir finden unsere ungefähre Position - ziemlich weit hinten, aber noch nicht ganz hinten, wo eine letzte Gruppe direkt vor dem LKW radelt. Dementsprechend sehen wir den LKW meistens nicht, hören aber oft, wie er langsam hinter uns herbrummt, während wir die Hügel hochhecheln.

11:00 Ich dachte, wir würden hier durch mehr oder weniger leere und gleichförmige Gänge radeln. Welch ein Irrtum! Altes Mauerwerk, Gleise und Loren, zugeschüttete Gänge, Dixiklos, irgendwelche Infotafeln mit Grafiken an der Decke, die ich im Vorbeifahren nicht erfassen kann, und immer wieder geisterhafte Bergleute in weißer Kleidung säumen einen Weg, der sich unaufhörlich auf und ab und hin und her und hoch und runter windet. Das Prinzip Geradeaus ist diesem Gang zwar durchaus vertraut, stellt aber aus seiner Sicht etwas dar, das nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Welch eine Geisterbahn!

11:01
Großbunker/Konzertsaal
-210 m ü. NN
497 m Teufe
Kilometer 2 Hinter einer Biegung wird unser Gang größer. Viel größer. Deshalb heißt er jetzt Großbunker. Hier steht der größte Schaufelradbagger der Welt. Er wurde hier unten aus Einzelteilen zusammengesetzt.


1960 Im Großbunker werden Kalisalze gebunkert. Sie rieseln durch Löcher aus der Decke. Weil der Bergbau immer effektiver wird, kommt zu viel von dem Zeug zusammen, um alles sofort nach oben zu transportieren. Darum wird der 250 Meter langer Lagerraum benötigt.

11:10 Der Großbunker ist eine beliebte Halle für Konzerte und Tagungen. Die Zuhörer beziehungsweise Mitarbeiter können hier nämlich nicht weg, und mangels Handyempfang werden sie auch nicht abgelenkt. Außerdem ist die Akustik so gut wie in einer gotischen Kirche.
Um das zu beweisen, wird extra für uns ein bisschen Nebel versprüht, das Licht aus- und die Musik angeknipst. Dann legen die Laser los. Und in der Dunkelheit erscheint eine unglaubliche Lasershow. Haargenau im Takt der Musik tauchen bunte Muster und Formen auf, drehen sich und verschwinden im nächsten Moment wieder. Am schönsten finde ich die riesigen Tunnel aus Nebel. Eine Lasershow scheint den gesamten Raum in etwas komplett anders zu verwandeln und im nächsten Moment wieder in etwas anderes.
(Ich mache davon aber kein Foto, weil das Kameralinsen zerstören kann.)


11:11 Die Chefin der Marketingabteilung hat einen Fotographen engagiert, um neue Werbefotos zu schießen. Wer nicht drauf will, soll an die Seite gehen. Wir werden zwar nicht für unsere Tätigkeit als Models bezahlt, aber immerhin sollen wir die Bilder auch zugesendet bekommen.
Nachtrag 2023 Oder auch nicht, wir warten immer noch.

11:19 Wir radeln an der Bühne vorbei. Dahinter befindet sich ein Hochseilgarten namens DownUnder. Es ist der weltweit einzige Kletterwald, in dem man garantiert sein Geld zurückbekommt, falls es regnet. Leider kann man ihn erst ab acht Personen buchen.
Nachtrag 2022 Zudem hat er Corona anscheinend nicht überlebt, denn seine Website ist weg und seine Elemente werden auf Ebay verschachert.
Unter den Kletterelementen stehen Strandkörbe. Warum?

240 000 000 v. Chr. Die europäische Erdplatte dümpelt irgendwo am Äquator rum. In Merkers befindet sich ein flaches Zechsteinmeer. Es trocknet langsam aus, ab und zu fließt neues Wasser vom benachbarten Ozean nach. So wird die Salzschicht immer dicker.


11:20 Wir radeln noch weiter bergauf zur zweiten Station.

11:27 Was ist das? Glitzernde Salzblitze zucken über die Decke und weisen uns den Weg. Wie hat die Natur bloß solche Formen zustande gebracht?
Antwort: Gar nicht. Das sind die Kratzspuren eines seltsamen Bergbaufahrzeugs mit einem langen Arm, das entfernt an eine Giraffe erinnert. Nach jeder Sprengung entfernt es Salzreste, die von der Decke baumeln.


4.4.1945 Im Bergwerk befindet sich eine Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald. Französische Kriegsgefangene schrauben unter der Erde Granaten zusammen. Einigen gelingt es zu entkommen. Sie laufen den amerikanischen Truppen geradewegs in die Arme und berichten US-General Patten von geheimen Transporten aus Berlin ins Bergwerk.

8.4.1945 Ganz ohne Gewalt nehmen die Amerikaner Merkers ein. General Patton geht der Sache sofort auf den Grund. Im Bergwerk versperrt ihm ein dickes Tor den Zugang zu einem Raum. Er lässt die Mauer an der Seite sprengen, weil er hinter der Tür eine Sprengfalle vermutet.


8.4.1945 Was er dahinter entdeckt, ist eine echte Sensation: Mehrere Milliarden Mark in Gestalt von Scheinen, Münzen, Goldbarren und (hier wird es grässlich) Goldzähnen aus Konzentrationslagern. Insgesamt ist das die Hälfte aller Reichtümer der deutschen Banken. Auch die wichtigsten Kunstwerke aus Berlin lagern hier, etwa die Statue der Nofretete. Die sollten hier unten unbehelligt von Feinden, Bomben und Feuchtigkeit im Geheimen verborgen bleiben. Wie so viele Pläne der Nazis geht auch dieser sensationell schief.
So landet das Bergwerk Merkers in den amerikanischen Schlagzeilen. Auch der berühmte General Eisenhower fährt in die Grube, um sich die Sache anzusehen. Er lässt die Schätze nach Frankfurt transportieren, bevor sie den Sowjets in die Hände fallen, die bald darauf Thüringen übernehmen. Obwohl der Transport schwer bewacht wird, gehen unterwegs zwei LKWs verloren. Wohin, weiß bis heute niemand.

 

11:42
Goldraum, unter dem Parkplatz des Erlebnisberwgerks
-180 m ü. NN
432 m Teufe
Kilometer 3,5 Wir wandern durch den nachgestellten Goldraum. Ein paar Goldbarren, Kisten und Säcke stehen herum. Die meisten sind vermutlich leer. Eigentlich lagen hier noch viel mehr Säcke, aber irgendwo müssen die Besucher ja auch durchgehen.


12:10 Endlich geht es bergab. Naja, meistens. Der Gang wird immer schmaler. Rotes Grafitti an der Wand verkündet folgende Warnung: 7 Kurven! Es gelingt mir, unfallfrei durch die sieben engen Kurven zu kurven und sogar mitzuzählen, ob es wirklich sieben sind. (Sind es.)
Waren wir hier nicht schonmal? Aber durch den Großbunker sind wir nicht noch einmal geradelt, also müssen wir zwischendurch auf einer anderen Strecke gewesen sein. Meine Orientierung ist endgültig dahin.

(aufgehellt)

12:13 Hinter den 7 Kurven bei den 7 Zwergen kommt uns Gruppe 1 entgegen. Der Gang ist wieder breit genug, um ihr problemlos auszuweichen. Zudem wurden wir vorgewarnt, dass sie bald kommen müssten.

12:15 Das Salz ist rot, weil darin Rost Eisenoxid eingeschlossen ist. Mittendrin sind gelbe Flecken, da steckt Schwefel drin.


12:17 Wir durchqueren die zweite Kalisalz-Schicht und landen in der untersten Schicht aus Steinsalz.
Unser Guide warnt uns: Auf dem nächsten Kilometer sei das Salz frisch gefräst worden, deshalb liegt es lose auf dem Weg. Uns beide als einzige Radler mit normalen Rädern statt Mountainbikes spricht er noch einmal extra an, wir sollen uns überlegen, ob wir die Strecke nicht mit dem LKW überspringen wollen.

12:18 Ich überlege. Nö, will ich nicht.

12:19 Finsternis umfängt mich. Das Licht der Stirnlampe verliert sich im Nichts, und meine Fahrradbeleuchtung ist sogar noch wirkungsloser. Das einzige, was wirklich auf mein Licht zu reagieren scheint, ist das weiße Puder auf dem Boden. Es ist nicht so viel schwieriger zu befahren als ein normaler Kiesweg. Nur einmal gerate ich ganz kurz ins Rutschen.
Was meinen Adrenalinpegel viel mehr in die Höhe treibt, ist die Tatsache, wie steil ich abwärts in die Dunkelheit rase. Wäre hier plötzlich ein senkrechter Abgrund mitten im Weg, weiß ich nicht, ob ich ihn rechtzeitig sehen würde. Bei all den Sicherungsmaßnahmen erscheint mir das jedoch eher unwahrscheinlich.


12:22 Ein seltsames, irgendwie maschinelles Dröhnen ertönt von der Decke. Ich dachte, hier wird kein Salz mehr gefördert?

12:23 Es handelt sich nur um dicke Röhren, die Luft ausstoßen. Kühl ist sie leider nicht.


12:24 Wir sind am Höhepunkt und zugleich am Tiefpunkt der Reise angekommen. In der Kristallbar erhält jeder ein Freigetränk. Begierig leeren wir den kühlen Inhalt der Flaschen und warten, bis alle angekommen sind. Weitere Werbefotos werden geschossen. Vor der Bar stehen Bänke. Allzu lange dürfen wir jedoch nicht pausieren, schließlich haben wir einen Zeitplan. Jetzt weiß ich wieder, warum ich geführte Radtouren möglichst meide.

(aufgehellt)

20 000 000 v. Chr. Während Deutschlands Vulkane aus- und Lava erbrechen, passiert in der Erde allerhand Chemie. Dadurch entschließt sich das Salz spontan, eine Würfelform anzunehmen. Es entstehen zwei Arten von Salzkristallen: Die einen sind klein und klar, die anderen groß und schmutzig. Wobei groß in dem Zusammenhang bedeutet: bis zu einem Meter lang. (Wobei „bis zu“ in dem Zusammenhang bedeutet: Der eine Kristall da drüben ist halt einen Meter hoch, die anderen kleiner.)
Warum zwei so komplett verschiedene Arten von Salzkristallen entstanden sind, ist den Wissenschaftlern immer noch nicht ganz klar, aber wahrscheinlich ist das mit den Vulkanen zweimal passiert und beim zweiten Mal war irgendwas anders.

1980 Die Salzkristalle überdauern Jahrtausende und scherten sich keinen Deut darum, dass direkt über ihnen die weltweite Grenze zwischen Kapitalismus und Kommunismus verläuft. Bis auf einmal eine Wand explodiert und Bergleute zufällig dieses salzige Wunder entdecken (und vielleicht auch daran lecken). Zum Glück hat der Sprengstoff die Grotte nur an der Seite erwischt. Wäre er mittendrin hochgegangen, dann wäre nichts mehr zu retten gewesen.
Seitdem verliert sich der Blick vieler Besucher zwischen all den glasklaren Kanten.


12:33
Kristallgrotte (zwischen Vacha und Philippstal)
-503 m ü. NN
840 m Teufe
Kilometer 12,5 Gemeinsam durchschreiten wir den Vorhang in die geheimnisvolle Salzkristallgrotte. Hier heiraten gelegentlich Menschen. Das klingt zwar romantisch, allerdings ist in dem engen Raum nur Platz für die allerengsten Angehörigen. Für alle anderen gibts eine Videoübertragung nach draußen.

12:35 Das Licht geht aus. Und wieder an. Mystische Musik erklingt und Scheinwerfer lassen die glitzernden Wände in allen möglichen Farben aufleuchten, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Unser Herzschlag beruhigt sich wieder, der Schweiß trocknet, wir alle kommen ein bisschen runter. Ist das schön hier!


12:50 Doch nun müssen wir das ganze verfluchte Stück wieder nach oben. "Einmal alle Akkus einsammeln!", ruft ein Witzbold. Alle, die kein E-Bike fahren, lachen.

12:58 Es ist heiß. Trockene, fast 30 Grad heiße Luft taucht blitzschnell in meine Lungen ein und wird gleich wieder rausgepustet. Oder rausgehustet, denn inzwischen spüre auch ich den leichten Hustenreiz durch das ganze Salz, der uns am Anfang versprochen wurde.
Der Weg wird steiler. Ich schalte noch einen Gang runter. Warum geht es jetzt noch schwerer? Ich schalte noch weiter runter und komme nun kaum noch voran. Der Grund dafür ist, dass mein überhitztes Gehirn vergessen hat, wie meine Gangschaltung funktioniert. Ich habe hochgeschaltet. Was ist das für ein Auto da vorn? (Es sind nur die Rücklichter zweier Fahrräder, die zufällig im selben Abstand fahren wie die Scheinwerfer eines Kleinwagens.) Warum habe ich während der Pause meine Wasserflasche auf dem LKW vergessen?
Ich übersehe einen dicken Salzbrocken und holpere darüber. Langsam überlege ich ernsthaft, auf den (inzwischen gut gefüllten) LKW umzusteigen.
Die Rücklichter meiner Vordermänner verschwimmen hinter einer Kurve. Die Dunkelheit hüllt mich ein und lässt mich nie wieder gehen. Meine Lungen brennen. Jeder Atemzug schmerzt. Die Realität verschwimmt. Ich bin allein, für immer verschluckt, verschlungen und verloren im Bauch der Erde.
Aber ansonsten gehts mir gut.

13:12 Als das Schlimmste geschafft ist, folgen wir einem mehr oder weniger geraden Gang zur letzten Station. Das Tempo, das der Guide vorgegeben hat, war für uns beide jedenfalls zu straff.
Unsere Tour richtet sich sowohl an normale Freizeitradler als auch an durchtrainierte Radsportler, steht auf der Website des Bergwerks. Das stimmt... so halb. Ich als absolut nicht durchtrainierter Freizeitradler ohne Mountainbike, ohne Elektro, ohne gar nix habe die Strecke geschafft, aber das hat mich an meine Grenzen gebracht. Ist ja auch mal interessant zu wissen, wo meine Grenzen so sind. Wer hätte gedacht, dass die so tief unter der Erde verbuddelt wurden?

13:21
Sprengsimulation
-385 m ü. NN
685 m Teufe
Kilometer 14,5 Zum Schluss erfahren wir, was die Bergleute hier unten denn nun eigentlich gemacht haben. Unser Guide erklärt uns zu einem Video die einzelnen Arbeitsschritte.

13:37 Dann fährt die Leinwand nach oben und offenbart eine Sackgasse, in der eine Sprengsimulation stattfinden soll. Sie besteht aus Nebel, Lautsprechern und weißen LEDs, die anzeigen, in welcher Reihenfolge die Sprengladungen hochgehen.
Ich finds super, dass hier alles so aufwändig inszeniert ist. Bei dem Preis erscheint mir das nur fair. Wobei mich die Sprengsimulation nach der Lasershow und der Kristallgrotten-Show nicht so richtig umgehauen hat. Ein Erlebnis, das mit jeder Hollywood-Produktion mithalten kann - da hat die Website definitiv übertrieben.
Vor der Absperrung ragt ganz dramatisch einer dieser T-förmigen Hebel auf, mit denen in Filmen immer gesprengt wird. Wer seinen Kindergeburtstag hier unten feiert, darf dieses Ding höchstpersönlich runterdrücken und dadurch "sprengen". Was eigentlich totaler Quatsch ist. Die Bergleute haben damals alle Gänge geräumt und per Knopfdruck von der Oberfläche aus gesprengt. Dass dieses Verfahren für einen Kindergeburtstag nicht aufregend genug ist, ließen sie leider völlig unberücksichtigt.


1960 Diese Gänge wurden mit Ammoniumnitrat (demselben Zeug, das halb Beirut in die Luft gejagt hat) in den Berg gesprengt. Ein dicker Radlader, der 11 Tonnen auf einmal mitnehmen konnte, hat das Salz aufs Förderband gekippt. Anschließend wurden zig verschiedene Arten von Löchern in die Wände gebohrt, die alle verschiedene Funktionen hatten und schon die nächste Sprengung vorbereiten sollten. So lässt sich das Video im Großen und Ganzen zusammenfassen.

1993 Der Bergbau in Merkers wird eingestellt. Weil das Bergwerk aber mit anderen Kalibergwerken verbunden ist, arbeiten hier trotzdem noch richtige Bergleute. Sie haben die Aufgabe, alles sicher und instand zu halten.


14:11
Schacht III
-262 m ü. NN
506 m Teufe
Kilometer 20 Geschafft! Erschöpft lassen wir unsere Räder stehen und fahren zurück an die Oberfläche.

14:22
Besucherzentrum
244 m ü. NN
0 m Teufe Während unsere Räder an die Oberfläche gebracht werden, löst das Erlebnisbergwerk sein letztes Versprechen ein - auch eine Mahlzeit soll bei der Tour inkludiert sein. Normalerweise wird die vor Ort zusammen mit den Guides verspeist, aber aktuell dürfen sie uns das Frühstück nur in einem Beutel mitgeben. Als wir trotzdem uns hinsetzen und vor Ort essen (mit 1,5 m Abstand), hindert uns niemand daran. In meinem Magen scheint sich ein schwarzes Loch zu befinden und draußen ist es so was von bitterkalt, also was bleibt mir anderes übrig?
Das sogenannte Bergmanns-/Fitness-Frühstück findet gegen 15 Uhr statt. (Ich hätte gedacht, dass Bergmänner früher aufstehen.) Ich erkenne die Fitness- und Bergmanns-Anteile, nur den Schrägstrich kann ich beim besten Willen nicht herausschmecken. Es umfasst:
  • 1 Apfel
  • 1 lange, dünne, pikant gewürzte Salami (lecker)
  • 1 komplettes Brot (äh, okay)
  • 1 Glas Bergmannsfrühstück (Das ist so etwas wie Würzfleisch, also quasi Katzenfutter für Menschen, schmeckt aber besser, als es aussieht.)
  • 1 Cornyriegel
  • 1 Fruchtriegel
  • 1 Trinkpäckchen
Diese Mahlzeit hatten wir uns anders vorgestellt. Statt eines ganzen Brots hätte ich ja lieber einen zweiten Aufstrich reingetan.


16:10, Bad Salzungen Uns bleibt noch eine Stunde, bis der Zug kommt. Dann müssen wir die wohl leider im Eiscafe verbringen. Schlimm, schlimm.

17:12, Bad Salzungen, Bahnhof Kaum zu glauben: Der Aufzug zu Gleis 2 ist schlimmer als der ins Bergwerk. Mittendrin rummst er und bleibt ruckartig stehen. Er bewegt sich erst weiter, nachdem ich ihn per Knopfdruck daran erinnere. Daraufhin fährt er wieder, aber nur etwa 10 Zentimeter weit. Das wiederholt sich viermal. Gerade so erreichen wir die Bahn.