Ereignisse einer Eder-Expedition
2. Tag: Das Edertal
Am Bahnhof Frankenberg stoße ich auf ein einsames Eisenbahngleis, auf welchem gelegentlich sogar ein Zug fährt. Ich folge ihm über eine schmale Brücke...
...und einen mittelgut gesicherten Bahnübergang. Eine Messung an einem vorbeifahrenden Zug ergibt, dass keine Unfallgefahr besteht, da die Geschwindigkeit der Bahnen kaum die einer Hainschnirkelschnecke übertrifft.
Auf einmal sacke ich zwei Zentimeter nach unten. Der Reifen meines Fahrzeugs ist geplatzt. Auf einer Wiese in Sichtweite der Stadt richte ich meine provisorische Werkstatt ein. Zwar habe ich inzwischen einige Erfahrung in der Reparatur, dennoch wird diese zur besonderen Herausforderung: Auf einmal läuft ein braunes Ungeheuer schnüffelnd auf mich zu, in seinen gierigen Augen glüht der Hunger. Und es ist offensichtlich, wen es als Mahlzeit ausersehen hat: Mein belegtes Brötchen. Verzweifelt verteidige ich alles, was ich an Nahrung bei mir führe. Endlich gelingt es dem Herrn des Monsterhundes, ihn unter Kontrolle zu bringen. Er weist mir den Weg zu einer nahen kostenlosen Reparaturstation mit Werkzeug.
Als nächstes folge ich der Straße vorbei an einer Maschinerie, in der die Abwässer Frankenbergs gereinigt werden. Das funktioniert so gut, dass nicht etwa Gestank, sondern ein Geruch von frischem Seewasser mit einer Prise Pflanzen in meine Nase steigt. Irgendetwas scheinen die Frankenberger bei der Reinigung richtig zu machen.
Nun passiert die Eder ein 20 Kilometer langes Tal mit der einen oder anderen Steigung.
Die Eingeborenen von Viermünden haben das Wasser der Eder durch einen Kanal abgeleitet und mit Netzen Abschnitte abgetrennt. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt auf diese Weise mit der Fischzucht.
Der größte Teil des Edertals ist jedoch unbesiedelt. Wälder erstrecken sich an beiden Ufern, doch auf der rechten Seite erscheinen sie noch dunkler und dichter. Dieser Schein trügt nicht: Dort beginnt der Kellerwald, ein Gebirge, welches deutlich mehr Wald als Keller enthält.
Durch das Frühlingswasser ist die Eder angeschwollen, schätzungsweise mindestens auf das Doppelte ihrer durchschnittlichen Breite. Dadurch verwandelt sie einige Baumgruppen in Inseln.
In diesem Tal scheint alles, die Wege, die Gleise und der Fluss, einem fernen Ziel entgegenzustreben. Braune Wegweiser weisen darauf hin, auch wenn es noch ein gutes Stück bis zum berühmtesten Bauwerk an der Eder ist: einer Mauer.
Auf der Durchreise eilen viele in Richtung des sagenhaften Bauwerks, ohne die Schönheit des Tals um sie herum wahrzunehmen. Zwei Tierarten entdecke ich entlang des Weges: Drei Sumpfkühe drängen sich im schlammigen Schatten eines Baums und trinken von der Eder. Und dort, über den Wiesen schweben die drei Rotmilane von gestern. Heute scheint die Sonne, sie fühlen sich in der Luft offensichtlich wohler und so kann ich sie auch im Flug beobachten. Das wunderschöne Muster ihrer Flügel leuchtet in der Sonne. Sie kreisen in ziellosen Runden über die Weiden und halten Ausschau nach kleinen Nagetieren oder Aas. Das ist beruhigend: Sollte ich während meiner Expedition umkommen, ist für meine Bestattung bereits gesorgt.
Auch entdecke ich faszinierende Bauwerke aus grauem Naturstein. Die vielen Brückenbögen schienen mir fast zu pompös für solch kleine Dörfer, hier herrschte offenbar zum Zeitpunkt der Erbauung kein Geldmangel. Das kleine Türmchen am Flussufer gibt mir Rätsel auf. Es scheint noch benutzt zu werden, doch zu welchem Zweck? Ein wenig ähnelt es der Wohnstatt eines unbedeutenden Hexenmeisters. Daher wage ich es nicht, anzuklopfen.
Ich suche mir einen Weg durch den hellen Wald am linken Ufer, um mehr von der Landschaft zu sehen. Dazu muss ich durch einige Furten furten. Trotz der angeschwollenen Bäche im Frühling ist die Strömung recht harmlos.
Als ich die Fließgeschwindigkeit der Eder messe, stelle ich fest, dass sie seit Frankenberg rapide abgenommen hat. Merkwürdig. Natürlich nimmt die Fließgeschwindigkeit von Flüssen stromabwärts immer ab, aber nicht derart schnell und so hoch oben in den Bergen. Hinzu kommt, dass die Eder immer breiter wird, als würde sie irgendetwas aufhalten. Ein Erdrutsch möglicherweise, der das Tal blockiert.
Doch des Rätsels Lösung muss warten, denn zunächst wartet ein anderes Rätsel auf mich.
An einem See entdecke ich einen verlassenen Eisenbahnwagen. Offenbar fuhren hier einstmals deutlich längere Züge als heute, und diese sahen ganz anders aus.
Schon gestern habe ich mich gefragt: Wie kann es sein, dass es hier einst so viel mehr Züge gab?
Um diesem Zeitalter der Züge näher auf den Grund zu gehen, verlasse ich die Eder und fahre mit der Eisenbahn in die Stadt Korbach, wo ich mir weitere Hinweise erhoffe. Dort folge ich dem Bahngleis aus der Stadt heraus und entdecke einen zugewachsenen Bahndamm, auf dem offensichtlich ein abzweigendes Gleis verlief. Nach kurzer Strecke auf dem alten Damm stelle ich fest: Mein Instinkt lag goldrichtig!
Ich stoße auf eine vergessene, vollständig erhaltene Bahnstrecke von Korbach nach Affoldern an der Eder: Die Ederseebahn. Die Höhenunterschiede werden mit prächtigen Bauwerken überbrückt. Brücken, Viadukte, Unterführungen und zwei kurze Tunnel, allesamt so massiv und doch seltsam filigran. Dies müssen Zeugnisse einer uralten Hochkultur sein, in der die Eisenbahn einen ganz anderen Stellenwert hatte. Eine Sensation! Es liegen fast nur winzige Dörfer an der Strecke, doch jedes hatte einen großen Bahnhof mit Rundbögen im klassizistischen Stil.
Vor lauter Begeisterung vergesse ich meine Eder-Expedition und verbringe einige Wochen damit, diese Bauwerke zu untersuchen. Irgendwann will ich zur Eder zurückkehren, doch wann immer ich mich zum Bahnhof begebe, fallen die Eisenbahnen aus. Dies zeigt den Stellenwert, den Eisenbahnen heute in diesen Landen haben. Erst nach Monaten gelingt es mir, zur Eder zurückzukehren.
Dort herrscht inzwischen eine andere Jahreszeit.
Aber das passt mir sehr gut.
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