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26 Juli 2025

Lahn: Von Gießen nach Runkel

Manchmal ist es gar nicht so verkehrt, wenn man nicht allein Fahrradfahren kann. Einmal ganz davon abgesehen, dass die notwendige mentale Leistung sich in Grenzen hält, wenn man hinten einfach nur stumpf in die Pedale tritt, kann nämlich der Pilot auch noch hervorragend andere Tätigkeiten wie das Beschaffen des Reiseproviants, der Getränke oder sogar des Tandems übernehmen. Und, naja, weil ich am Vorabend noch auf einem Geburtstag in Gießen war und sowieso bei solchen Touren nicht unbedingt mit Weitblick oder Erfahrung glänze, war es am Morgen unserer Tour von Gießen nach Limburg fast schon ein Segen, dass mein Pilot schon des Öfteren seinen Hintern auf einen Fahrradsattel gepresst hatte – nur eben bisher noch nie auf ein Tandem.

Damit bin dann wohl ich gemeint. Aber wer hat dann die letzten Sätze geschrieben? Das war ein nicht minder mitteilsamer Mitreisender, den ich während dieser Tour im Rücken hatte. Was liegt also näher, als dazu auch gemeinsam einen Tandem-Blogpost zu verfassen?
Ich hatte mich schon lange gefragt, wie es sich wohl auf einem dieser mysteriösen Doppelfahrräder fährt. Es ist nicht leicht, überhaupt an eins ranzukommen. Die meisten Fahrradverleihe haben keins, und manche Privatpersonen vermieten ihre Tandems zwar online, antworten dann aber nicht auf Anfragen. Doch in einem Wohnblock in den Außenbezirken Gießens überließ mir ein freundlicher Typ tatsächlich sein Doppelrad unkompliziert und günstig (dem Internetauftritt zufolge gehören zu seiner Zielgruppe Hochzeitspaare, Dates und Freunde, aber bis dato anscheinend noch keine Sehbehinderten).
Beim Abholen stellte ich zunächst überrascht fest: Man kann das Ding auch problemlos allein fahren.
Und kurz darauf: Man kann das Ding nicht ganz so problemlos zu zweit fahren.

Genau dieser Umstand sollte sich dann auch gleich bemerkbar machen, als wir schließlich vom Frühstück gut gestärkt – und in meinem Falle völlig übermüdet – unsere Tour begannen. Erste Aufgabe: Fahrradweg finden, auf Spur kommen und uns eingrooven. Vor allem Letzteres war bisher mit meinen zahlreichen Piloten immer erst einmal das Hauptproblem – auch wenn einige sich da geschickter anstellen als andere. Das Seltsamste an so einem Tandem scheint die doppelte Gangschaltung zu sein, denn die bekommt wirklich keiner so recht hin. Auch mein Pilot hatte so seine Schwierigkeiten damit, vor allem, weil er sich gleichzeitig auch noch an all seine anderen Aufgaben gewöhnen musste.
So hielten wir gleich mehrfach an – manchmal auch bloß wegen roter Ampeln, bis wir schließlich an der Lahn und dem entsprechenden Radweg waren. Die zwei oder drei missglückten Wendemanöver und seine anfänglichen Schwierigkeiten, den tatsächlichen Radweg zu finden, wollen wir an dieser Stelle einfach mal verschweigen.

Als ich an jenem Morgen aufgestanden war, hatte ich nicht damit gerechnet, eine neue Sprache zu lernen.
Anders als bei  Konstruktionen wie Bierbikes und Fahrradrikschas sind beide Pedale und Ketten direkt verbunden, sodass man immer im selben Rhythmus treten muss. Hält der eine an und tritt der andere munter weiter, dann knallt das Pedal gern mal gegen das Schienenbein - blaue Flecken treten auf jeden Fall häufiger auf als bei normalen Rädern. Tandemfahrer verständigen sich deshalb mit eigenen Codes. Zumindest hatte mein Mitfahrer das vor Jahren auf dem Elberadweg so gemacht. Zum Beispiel:
Links/rechts hoch=Das linke/rechte Pedal soll beim Losfahren nach oben zeigen.
Drei, zwei, eins, los!=Auf Los treten wir dieses obere Pedal gleichzeitig runter.
Gehen lassen=Nicht mehr treten, Pilot bremst ggf.
Gib mal Turbo!=möglichst schnell treten, um rechtzeitig Schwung für Hügel zu gewinnen
Klingt auf dem Papier alles sehr einleuchtend, doch es während der Fahrt zu lernen, korrekt und rechtzeitig einzusetzen und sich gleichzeitig auf einer bislang unbekannten Strecke zu orientieren und dabei im Idealfall auch noch die Straßenverkehrsordnung zu beachten, das hat mich durchaus geistig beansprucht.
Der Tandem-Mietmarkt-Situation entsprechend sind solche Gefährte doch ein eher ungewöhnlicher Anblick auf deutschen Radwegen. Mehr als einmal rief ein Kind fasziniert "Ein Tandem!", während die Erwachsenen dasselbe durch nonverbales Anstarren ausdrückten. Unsere Fahrweise mag dazu beigetragen haben.

Tatsächlich gibt es über den ersten Abschnitt bis Wetzlar nicht sonderlich viel zu berichten: Man fährt an einem hier noch sehr beliebigen Fluss entlang, muss immer mal wieder gucken, wo es weitergeht, steht hier und da an einer roten Ampel und, naja, fährt stumpf geradeaus.

"Und wo ist jetzt der Fluss?", fragte mein Hintermann mehr als einmal. Antwort: Zwei Meter neben dir. Aber dichte Hecken schirmten die Lahn oftmals ab. Als Sichtschutz zur Verrichtung der Notdurft waren sie trotzdem ungeeignet.
Die Ampeln und Orientierungsschwierigkeiten rührten übrigens daher, dass ich anfangs eine kürzere Variante neben der Autobahn wählte. Weil die Wegweiser dort etwas lückenhafter waren und das Lahndem keinen Karten- oder Handyhalter hatte, verzichtete ich danach auf weitere Abkürzungen.

Und obwohl das jetzt nicht so positiv klingt, war das im Grunde genau das, was wir zum Beginn unserer Reise brauchten, denn so konnten wir die verschiedenen Gänge testen und unser Fahrverhalten aufeinander anpassen. Der aufmerksame Leser mag sich an dieser Stelle fragen, von welchem Fahrverhalten ich spreche. Was kann der Trottel hinten auf dem Tandem anderes machen als stumpf in die Pedale zu treten? Naja, nichts eigentlich. Und zugleich eine ganze Menge. Es bringt nämlich überhaupt nichts, wenn der hinten Vollgas gibt, während der vorne andauernd bremst. Generell ist ein gleichmäßiges, aufeinander abgestimmtes Tempo beider Fahrer sinnvoll, wenn man das länger als zwanzig Minuten durchhalten will. Ein gutes Duo ist deshalb in ständigem Austausch, sodass der hinten weiß, wann der vorne nichts tut, und umgekehrt. Zusätzlich wird jeder, der auch nur einen Funken Sports- oder Abenteuergeist im Blut hat, meinen Drang verstehen können, die verdammte Kiste auch mal im High Speed zu erleben. Aber findet einmal eine Strecke, die lange genug geradeaus und bergab geht, um wirklich Tempo aufzubauen. Und dann bringt den Piloten noch dazu, euch das früh genug mitzuteilen und sich nicht weiter einzuscheißen. Der gute Mann ist nämlich Langstreckenfahrer – ein Umstand, der ihm später noch sehr zu Gute kommen sollte, uns aber zu Beginn ein paar km/h Geschwindigkeit kostete.

Wir sind eindeutig ganz unterschiedliche Körpertypen, oder was auch immer der Fachausdruck dafür ist. Er äußerte Dinge wie "Ich merk gerade, wie bei mir das Aerobe nicht mehr funktioniert, aber das Anaerobe auch nicht mehr so richtig." (Oder war es umgekehrt?) Ich muss mich bei solchen Worten erstmal an den Sportunterricht zurückerinnern, was das überhaupt bedeutet. Für mich sind 10 bis 15 km/h vollkommen ausreichend, das höchste der Gefühle ein Durchschnitt von etwa 18. Für meinen Hintermann war das "Kaffeefahrt", 20 km/h sollten es schon sein, am besten 25. Dafür kann ich den ganzen Tag von 6 bis 22 Uhr fahren. Er dagegen muss die Tagesetappe dann auch wirklich in wenigen Stunden bei Tempo 25 durchziehen, ehe er zusammenklappt.  Die Unterschiede der Menschen sind immer wieder ein Quell der Faszination. Aber selten unüberwindlich.
Es ist ja nicht so, dass ich an sich etwas gegen 25 km/h gehabt hätte! Aber das Fahrgefühl war noch ungewohnt, und ich hatte stärker als bei einem normalen Rad das Gefühl, in der Kurve zu kippen. Das brachte mich instinktiv dazu, stärker zu bremsen, als es notwendig war. Sorry...


Wetzlar ist ein kleineres Marburg, in dem wir ein paar historische Gassen rauf und runter mussten. In zwei der Fachwerkhäuschen lebten Karl Wilhelm Jerusalem und Charlotte Kestner. Falls Sie jetzt denken "Hö, wer zur Hölle soll das sein?" - ich versichere Ihnen, Sie haben mehr über die beiden gelesen, als Ihnen lieb ist. Ihr Deutschlehrer hat Sie dazu gezwungen. Charlotte (auf die Goethe stand) war das Vorbild für die weibliche Hauptfigur in "Die Leiden des jungen Werther", und der Selbstmord von Goethes Kumpel Karl Jerusalem (der auf eine andere verheiratete Frau stand) war das Vorbild für für Werthers Suizid.

Goethe fand solche Dramen viel interessanter als das dröge Drama am Reichskammergericht, wo er eigentlich ein Praktikum machen sollte. Sein Motto war: Playboy statt Plädoyer. Es wurde gerade um Reformen des Gerichts gerungen, und Goethe war vom Egoismus der beteiligten Rechthaber abgestoßen. Aber immerhin hatte er vor dem Praktikum ausgiebig zur Geschichte des Gerichts recherchiert und war dabei auf den Raubritter Götz von Berlichingen gestoßen. So brachte ihn das Gericht auf die Idee zu dem Theaterstück, das sein Durchbruch werden sollte.
Auch ich wollte im Reichskammergerichtsmuseum zur Geschichte des Gerichts recherchieren. Aber nicht heute, sondern an einem anderen Tag - 300 Jahre Rechtsgeschichte begeistern nicht unbedingt jeden, auch nicht den Herrn auf dem Sattel hinter mir, der auf seine 25 km/h kommen wollte. (Sollten Sie, lieber Leser, das ähnlich sehen und mit 25 km/min lesen wollen, überspringen Sie lieber die folgenden Absätze.)

Im Mittelalter war der Kaiser höchster Richter, aber der konnte sich schlecht durchsetzen, wenn die Armeen der Fürsten mal wieder (damals sogar legal) in Fehden übereinander herfielen. Deswegen gründete der Reichtstag in Worms 1495 ein Gericht, das die Fehden friedlich beenden sollte. Also rein theoretisch. Ein bisschen wie heute der Internationale Gerichtshof in Den Haag. So entstand das höchste Zivilgericht des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.
Reformer wie der Mainzer Bischof Berthold (hinten im Bild) wollten ein noch viel unabhängigeres Gericht, aber Kaiser Maximilian war da eher skeptisch, weil es ja er war, von dem das Gericht unabhängig sein sollte.
Auch normale Menschen in normalen Zivilprozessen konnten Berufung beim Reichskammergericht einlegen. Also außer, ihre regionalen Adligen verboten das.

Im Gerichtssaal wurden Anträge gestellt, aber keine Zeugen befragt oder verhandelt, wie man das heute kennt. Der Prozess und die Beweise waren rein schriftlich: Was nicht in den Akten ist, existiert nicht! Um diese Akten dann auch mit irgendwas zu füllen, schickte das Gericht Ermittler los.
Klar, im Vergleich zu einem einzigen Richterkönig ist praktisch alles ein Fortschritt. Dennoch hatte das Reichskammergericht viele Probleme: Es gab immer zu wenige Richter, weil die Fürsten ihre Steuern nicht bezahlten. Man musste einen Kompromiss finden, wie viele Richter aus welchen Teilen des Reiches kommen sollten. Und wie viele adlig und wie viele bürgerlich sein sollten - schließlich mussten sie über beide Klassen urteilen. Und dann kam auch noch die Reformation, plötzlich waren ein paar Richter bekennende Protestanten, ein absolutes No-Go, also zumindest laut den Katholiken.
Dieses Bild zeigt übrigens auch schon den anschaulichsten Teil des Museums. Ansonsten besteht es zu großen Teilen aus Gemälden, Büchern und Scherben. Aber gut, dafür kommt man auch gegen Spende rein.

Noch ein Problem: Wohin mit dem Gericht? Frankfurt wollte es gleich wieder loswerden, in Speyer wurde es im Krieg zerstört. Nur das bettelarme Wetzlar war mehr als willig, das Gericht aufzunehmen, schließlich brachte das Arbeitsplätze, zum Beispiel für Perückenmacher. Wetzlar räumte eine Kammer im alten Rathaus frei, und das Gericht zog innerhalb der Stadt noch mehrmals um (unter anderem ins Haus auf dem Foto). Ein eigenes Gerichtsgebäude wurde geplant, aber nie gebaut.
Die Richter waren nicht ganz so willig, in so eine armselige Stadt zu ziehen, und erklärten sich erstmal nur vorübergehend einverstanden. Aber nach ein paar Generationen hatten sie die Stadt mit ihren Luxusimmobilien zugepflastert und sich doch ganz gut eingelebt. 

Manche Richter hatten gleich drei Häuser. Hmm, wie sie die bloß von ihrem Lohn bezahlen konnten? Ein Richter namens Franz von Papius trieb es zu weit und fällte in einem Fall nach nur einer Woche ein offensichtlich parteiisches Urteil. Von den Bestechungsgeldern baute er sich unter anderem den Palais Papius (rechts im Bild neben dem Museum). Das war dann doch zu dreist, er und sein Kollege wurden wegen Bestechlichkeit verurteilt, und das Gericht ein bisschen reformiert.
Als Napoleon das Heilige Römische Reich auflöste, verlor Wetzlar das Gericht und fiel zurück in Armut. Aber zumindest das Stadtbild profitiert bis heute davon.

Über den zweiten Abschnitt zwischen Wetzlar und Weilburg habe ich hingegen eine Menge zu berichten – nur leider nichts Gutes. Es handelt sich dort nämlich um eine wesentlich schlechter erschlossene, ziemlich hügelige Strecke, bei der einige Anhöhen noch dazu direkt hinter irgendwelchen Kurven beginnen. Mit dem Tandem ist es aber fast schon unerlässlich, vor einer Anhöhe ein bisschen Schwung zu holen und in den richtigen Gang zu wechseln, denn am Hang könnt ihr das knicken! Die Gangschaltung schmiert nämlich gern mal ab, wenn man sie umschaltet, während man mit aller Kraft tritt. Und außerdem scheint so ein Tandem deutlich schlechtere Eigenschaften zwecks Schwerkraft und Bodenhaftung zu haben als ein gewöhnliches Fahrrad. Eigentlich würde man erwarten, dass eins plus eins bei ebenfalls addiertem Gewicht ziemlich genauso leicht den Berg hochkommen, wie zwei einzelne Leute auf jeweils einem Fahrrad. Doch die Realität lehrte uns da andere Dinge – und auch aus meinen vorherigen Erfahrungen kenne ich das so. Am Berg bleibt das Tandem zurück, während es auf gerader oder gar abschüssiger Strecke fast jedem anderen Rad davonfährt.

Unser Tempo rutschte runter auf 5 km/h, zu langsam, da waren wir uns einig. Unten rauschte die Autobahn durch das steile Tal. Darüber lugten zaghaft ferne Felsen aus dem Wald.
Auf einer Dorfstraße trafen wir auf eine Sperrung, und in der Nähe von Dinskirchen regnete es auch noch.
"Jetzt lass mal Dinskirchen im Dorf!", rief mein Hintermann. "Es tröpfelt!"

Nun gut, für uns bedeutete das jedenfalls viel schwitzen, keuchen und – vor allem in meinem Falle – fluchen. Glücklicherweise lohnt sich dieser Aufwand aber, denn man wird durch Weilburg selbst und den Streckenabschnitt dahinter dafür mehr als entschädigt. Ich kenne Weilburg noch von einem Schulausflug mit meinem damaligen Kanu-Kajak-Kurs. Man nennt sie auch die Stadt der Brücken und als solche ist sie wunderschön.

Majestätisch ragt das weiße Schloss in der engen Flussschleife auf. Auch Weilburg ist sehr dreidimensional, aber der obere Teil ist ziemlich klein und läuft praktisch nur auf den einen Marktplatz hinterm Schloss zu.
Als ich während einer anderen Tour 
den Schlosspark von Weilburg betreten und den Talblick genießen wollte, sprach mich ein zehnjähriger Junge wichtigtuerisch an: "Tut mir leid, wir schließen jetzt." Ich gehorchte dem furchteinflößenden Parkwächter. Eine Straße weiter kam ein weiterer Junge in Kampfsportkleidung vorbeigeeilt. Das ist dann wohl die Eingreiftruppe, falls die Gäste den Park nicht schnell genug verlassen.


Bei meinem Mitreisenden ging spontan die Lebensplanung durch und er überlegte, sich hier im Alter von 40 niederzulassen. Natürlich gebe es da immer noch die Frage, wie die Leute ticken - Hessen seien oft zu spießig. "Aber wo es schön ist, ziehen die Leute meistens auch freiwillig hin, das ist immer ein gutes Zeichen."

Wir mussten die Stadt der Brücken im Zickzack über die eine oder andere der besagten Brücken umrunden. Für Schiffe stellt diese Flussschleife eine noch größere Herausforderung dar als eine Schuhschleife für Kindergartenkinder. Glaube ich zumindest. Denn zum Abtransport vom Lahn-Dill-Erz wurde eine außergewöhnliche Abkürzung in den Fels gebohrt: Ein Teil der Lahn zweigt als hohler Kanal ab und verschwindet für 195 Meter in einem ummauerten, schwarzen Löchlein. Das ist Deutschlands einziger Schiffstunnel. Ein heutiges Lastschiff passt da sicherlich nicht mehr durch. Ob nun stattdessen mutige Kanufahrer hindurchpaddeln?

Die Lahn schlängelt sich dort mit einigen Wehren und kleineren Wasserfällen durch eine weite Schlucht, um die herum die Berge noch um einiges höher sind als auf der Strecke zuvor – nur mussten wir uns diese Berge jetzt nicht mehr heraufquälen. Und auch hinter der Stadt wird es nicht weniger schön. Der Fahrradweg ist dort quasi direkt an der Lahn, bloß einige Meter weiter oben. So hat man die bewachsenen Felsen links, die Lahn rechts und vor sich hervorragenden Fahrradweg mit nur wenig Steigung.

Wie still es auf einmal war! Die Straßen waren weg, selbst die Gleise verzogen sich irgendwann in einen Tunnel. Diese grüne Schlucht und ihr schmaler Radweg gehörte uns allein. Mit Proteinriegeln in den Schenkeln und Müsliriegeln im Blut kamen wir endlich auf unsere wohlverdienten 25 km/h.

Unsere schlechte Laune vom zweiten Abschnitt war daher rasch wie verflogen, weshalb wir den Schwung erst einmal nutzten, und unsere eigentlich längst überfällige lange Rast um ein paar Kilometer nach hinten verschoben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur ein einziges Mal länger gestoppt als man für ein paar Schlucke Wasser und mein Gejammer über meinen wunden Hintern braucht, und da waren wir mit unserem Proviant noch sparsam umgegangen. Entsprechend ausgehungert waren wir, als wir schließlich mitten in der Pampa hinter Weilburg an einer maroden Parkbank direkt am Wasser hielten und uns mit Protein- und Müsliriegeln vollstopften. Zu diesem Zeitpunkt sandte mein Körper mir bereits deutliche Signale, die mich daran erinnerten, dass meine letzte Fahrradtour knapp zwei Jahre zurücklag. Doch trotz dieser körperlichen Beschwerden war es eine fabelhafte Rast bei nahezu perfektem Wetter direkt am Fluss und ohne auch nur eine einzige andere Menschenseele.

Wir nutzten die Rast neben einem aktiven Carb-Loading vor allem für eine kurze Netzrecherche. Dies war unseren Time Constraints geschuldet, denn mit Rückfahrt nach Gießen, Abgabe des Tandems und schlussendlicher Rückfahrt nach Kassel standen uns gut und gerne drei bis vier Stunden Zugfahrt bevor, die wir bei Zeiten würden antreten müssen, wenn wir nicht erst um Mitternacht Zuhause sein wollten - da ich am nächsten Tag arbeiten musste, wirklich keine Option. Gleichzeitig ist die Zuganbindung zwischen Wetzlar und Limburg wirklich eine Vollkatastrophe. Im Prinzip das klassische Problem: Der schnellere Zug fährt zu früh, der langsamere gerade so wenig später, dass man sich auch für ihn beeilen muss, und der wiederum nächste ist der schnellere zwei Stunden später – zu spät ganz ohne Frage.

Eine Vollkatastrophe? Sag mir, dass du noch nie Kurhessenbahn gefahren bist, ohne zu sagen, dass du noch nie Kurhessenbahn gefahren bist.

Lange Rede kurzer Sinn, wir fassten den kleinen Ort Runkel ins Auge und weiter ging es. Für mich war dieser letzte Abschnitt unserer Reise eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Einerseits war die Landschaft weiterhin der Hammer und das Fahren machte wirklich Spaß. Andererseits spürte ich inzwischen deutlich, dass mein Hintern den Radsport wirklich so gar nicht mehr genießen konnte, und meine Beine begannen auch mit lautstarkem Gejammer. Immer wieder deuteten sich Krämpfe an. Von einem tatsächlichen Krampf blieb ich allerdings verschont, weil ich inzwischen doch genügend Erfahrung habe, um meinem Piloten meine benötigten Pausezeiten anzusagen. Das funktioniert folgendermaßen: Wann immer ich nicht mehr kann, nehmen wir die nächstmögliche noch so kleine abschüssige Stelle und hören mit dem Treten auf. Dabei ist am besten das angeschlagene Bein unten, sodass man im Flow bleibt, aber trotzdem seine Muskeln entlasten bzw. dehnen kann. Das mag nach einer sehr naheliegenden und unerheblichen Sache klingen, rettete uns aber ungefähr zehn weitere Kilometer, die ich sonst sicher nicht durchgehalten hätte. Und außerdem muss man so spät auf der Tour unbedingt im Flow bleiben.
So endete unsere Fahrt schließlich nach fast 85 km in Runkel, einer wirklich nichtssagenden, aber durchaus schönen Kleinstadt direkt an der Lahn, die über eine sehr alte Steinbrücke verfügt – zu der mein Pilot, wie ich ihn kenne, sowieso noch mehr zu berichten hat als ich.

Öh, habe ich das? Sie ist nicht so einzigartig wie Europas einzige Marmorbrücke nebenan in Villmar, aber immerhin hat sie schöne Steinbalkönchen zum Chillen und Plaudern. Wenn man denn dorthin kommt, denn aus irgendeinem Grund fährt manchmal eine endlose Fahrzeugkolonne über die historische Brücke, während auf der Umgehungsstraße um die Altstadt gähnende Leere herrscht. Irgendwas scheint hier bei der Verkehrsführung nicht ganz richtig zu laufen.
Darüber ragen gleich zwei Burgen auf, weil die Familie Von Runkel sich zerstritten und ihren Cousin rausgeschmissen hat. Die Fehde war aber deutlich brandschutzkonformer als bei den Targaryens und verzögerte bloß den Brückenbau.

Mit noch etwa 20 Minuten Zeit, bis unser Zug fuhr, gingen – bzw. in meinem Fall watschelten – wir durchs Dorf und suchten nach irgendeiner Möglichkeit, uns Pommes oder wenigstens was zu trinken zu besorgen. Kurz gesagt, funktioniert hat das nicht und die Kellnerin der einen einzigen Kneipe, die wir fanden, war auch nicht gerade motiviert, zu unseren Gunsten etwas daran zu ändern. Stattdessen ein kurzes Pläuschen mit einem anderen Fahrradtouri und schließlich Rückweg zu dem kleinen Witz von Bahnhof, der mir gleich aus zweierlei Gründen in Erinnerung geblieben ist: 1. Man muss doch tatsächlich draußen vor einem Tor warten, bis der entsprechenden Zug eingefahren ist. Vorher darf man aus Sicherheitsgründen nicht auf das verdammte Gleis. Und 2. Lungerte da irgendein Typ herum, der zwar unsere Sprache nicht zu sprechen schien, allerdings komischerweise genug Deutsch konnte, um mich nach Geld für seine Fahrkarte zu fragen. Kurz nach meiner leicht überraschten Verneinung wurde er dann auch noch vom Bahnhofspersonal frischgemacht, weil er anscheinend schon zum wiederholten Male aufs Gleis gelaufen war und somit die eben erwähnte Regel 1 missachtet hatte. Was für ein kurioser Bahnhof!

Abschließend kann ich nur meine Enttäuschung darüber ausdrücken, dass wir die verbleibenden 12km bis Limburg nicht auch noch geschafft haben. Sie wären zwar sicherlich eine Qual für mich geworden, aber mein Ehrgeiz verbietet es mir eigentlich, so kurz vorm Ziel aufzugeben. Davon einmal abgesehen war es aber eine äußerst lohnenswerte Tour mit wunderschöner Landschaft und meist ebenso tollen Radwegen, die ich jedem nur wärmstens empfehlen kann – vor allem, wenn man mit so schönem Wetter gesegnet ist. Danke auch an dieser Stelle an meinen Piloten, der das Ganze organisiert und durch seine funktionierenden Augen erst möglich gemacht hat. Wir werden das sicherlich mal wiederholen – vielleicht ja, um den letzten Abschnitt auch noch auf unserer imaginären Checkliste abzuhaken.

09 Dezember 2022

Felda: Von Fladungen nach Dorndorf

FLUCHT AUS DER WEISSEN KUPPEL

Wie ich versuchte, den Feldatal-Radweg im November zu bezwingen, und dank welchem Geschäft ich es doch noch geschafft habe

Rote Zäune im Graugrünen: Die typischen Feldafarben

Vor mir befindet sich ein Weg. Er ist ungefähr zwanzig Meter lang. So viel weiß ich. Dann endet er an einer weißen, feuchten Wand, und mit ihm endet mein Wissen. Der Weg könnte noch 10 Kilometer so weitergehen oder direkt hinter der Wand in einer Sackgasse, einem tödlichen Abgrund oder einem gemütlichen Café enden. Was immer davon zutrifft, meine Augen sind nicht in der Lage, es zu sehen. Obwohl es 21 Meter entfernt ist.

Ich weiß, dass ich nichts weiß:
Gefangen in der Dunstglocke

Ein Blick nach hinten: Dort sieht es genauso aus. 20 Meter Weg, dann weiße Wand. Zumindest weiß ich, was sich dahinter befindet, denn aus der Richtung komme ich.
Ein Blick zur Seite: Noch schlimmer, denn da ist nicht mal ein Weg. 20 Meter schlammige Wiese, dann weiße Wand.
Ich bin eingeschlossen in einer eisigen Kuppel aus fliegendem Wasser. Wer hätte gedacht, dass man oben auf einem Mittelgebirge Klaustrophobie empfinden kann? Irgendwo in der Rhön hat mich der Nebel verschluckt und lässt mich nicht mehr gehen. Mir kommt eine Gruselgeschichte aus der fünften Klasse in den Sinn: Du rennst vor dem Nebel weg, er hat dich fast erreicht, als plötzlich... Ab da sollten wir weiterschreiben. Alle haben irgendein harmloses Happy End gewählt. Nur ich habe mich für das  Naheliegende entschieden: Dass der Nebel tatsächlich eine Art Ungeheuer ist, welches sich den Erzähler einverleibt. Damals kam ich mir irgendwie doof vor mit meinen verstörenden Ende. Heute scheint es fast, als hätte ich recht gehabt. Wie bin ich hier nur reingeraten?

Bye-bye, Bayern! Straße
nach Thüringen
Spulen wir ein bisschen zurück: Eigentlich war ich heute Morgen im kalten, aber deshalb nicht weniger schönen Sonnenschein aufgebrochen. Weil es in der Gegend so wenig Bahnhöfe gibt, wollte ich mehrere Touren kombinieren. Als erstes strampelte ich den Milseburgradweg hinauf nach Hilders. Ich hätte auch den Bus um 10 nehmen können, aber ich dachte mir, mit dem Rad bin ich viel schneller. Das war bereits der erste Fehler: Der Milseburgtunnel war im Winter gesperrt, ich musste die steile Umleitung nehmen. Und die Umleitungs-Abkürzung, die ich entdeckt hatte, stellte sich schlammiger Fehler heraus.
Erst kurz vor dem Bus erreichte ich Hilders und reiste auf dem Iron Curtain Trail weiter - und verschwand plötzlich im Nebel.  Durchgefroren landete ich im bayrischen Fladungen. Hier sollte die eigentliche Radtour beginnen, und ich war bereits ganz schön fertig.
Das nächste Stück war so weit in Ordnung. Ich konnte zwar auch nicht viel sehen, aber mit der Straße nebenan fühlte ich mich nicht ganz so verloren. Ich überquerte den bayrischen Bach Streu mit einer verfallenen Brettermühle und die ehemalige Grenze. Beides nicht wirklich interessant, aber immerhin Orientierungspunkte.
Leicht löchrig: Private
Brücke in Melpers
Es weihnachtet nicht sehr:
Zentrum von Melpers
In Thüringen begrüßten mich die trüben Lichter des frühen Weihnachtsbaumes von Melpers (wo auch die Beschilderung des Radwegs beginnt). Der Nebel schien selbst das Weihnachtsleuchten zu ersticken - zusammen mit allen anderen Lebenszeichen. Und dort bog ich dann auf den verhängnisvollen Feldweg ab, auf dem mich der Nebel endgültig von der Außenwelt isolierte.
Oje. Jetzt kriege ich auch noch Hunger. Mal sehen, was ich noch an Proviant habe... ah ja, ein Croissant. Mist. Ich glaube, das wird heute alles nichts mehr.
Fahren eigentlich irgendwo Busse? Eine kurze Suche bringt ein eindeutiges Ergebnis: Heute nicht. Dann muss ich es durchziehen.

Länger als gedacht: Ungefährer Verlauf des Feldatal-Radwegs


Als ich endlich den Abzweig zur Quelle erreiche, biege ich trotzdem ab. Und bereue es augenblicklich.
Bisher war zumindest der Weg in Ordnung. Jetzt quäle ich mich durch eine undefinierbare, grässliche Masse aus Schlamm und zerstückelten Ziegeln, Kies und Gras. Kein Wunder, dass sich mein Rad immer schwerer drehen lässt... Moment, jetzt bewegt es sich gar nicht mehr, was ist da los?
Es plätschert im Beton:
Feldaquelle
Im Hintergrund:
Zweite Feldaquelle
Folgendes ist los: Fette Schlammbrocken verstopfen den Raum zwischen Reifen und Schutzblech. Mit den Händen pule ich das Gröbste heraus. Meine Handschuhe sehen daraufhin selbst aus wie Schlammbrocken.
Echt einladend: Erstes Stück
der Felda
Die Felda trägt ihren Namen zu recht: Sie entsteht inmitten von Feldern. Die Radroute führt hier nicht lang, aber zumindest auf mapy.cz ist hier irgendwo die Quelle der Felda eingezeichnet. Entsprechend erwarte ich nicht viel, aber zumindest irgendetwas, das sich mehr oder weniger eindeutig als Quelle identifizieren lässt. Meine Erwartungen werden nicht enttäuscht. Aber auch nicht übertroffen. Zwei Paar Betonröhren liegen sich gegenüber wie im Schlamm versunkene Panzer, die noch immer aufeinander zielen. Dazwischen ein Meter Straßengraben. Aus dem linken Paar sprudelt das Wasser, im rechten Paar verschwindet es gleich wieder unter einem Feldweg. Und zwar ganz schön viel Wasser! Gibt es überhaupt einen anderen Zufluss der Weser, bei dem so viel aus der Quelle kommt? Ich glaube nicht.
Hinter dem Feldweg vereinigt sich das Bächlein mit einem zweiten Quellbach, der diagonal dazukommt. Der ist ein paar Meter länger (aber laut mapy.cz trotzdem nicht die richtige Quelle) und ein paar Pflanzen zugewachsener. Nach der Vereinigung setzt das Bächlein seinen Weg als Geistergraben entlang einer Allee fort.
Ich verspüre nicht das Bedürfnis, ihr zu folgen.
Jedenfalls nicht so nah. Noch nicht. Lieber kehre ich nach Schafhausen (nein, da ist kein Wasserfall) auf die offizielle Route zurück, wo zumindest der Weg erträglich ist.
Bisher jedenfalls. Aber jetzt hat der Radweg spitzgekriegt, dass ich ihn für einen ollen Feldweg verlassen habe. Um mich zurückzugewinnen, versucht er selbst, möglichst oll zu werden. Danke, das wär doch nicht nötig gewesen.

"Kaltensundheim ist Sitz der Verwaltungsgemeinschaft Hohe Rhön. Dieser gehören Achenhausen, Birx, Erbenhausen, Kaltensundheim, Kaltenwestheim, Melpers, Oberkatz und Oberweid sowie Frankenheim und..." - Die langweiligste Infotafel ever -

Mann, bin ich breit:
Flussverbreiterung in
Kaltensundheim
Mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich in Kaltensundheim ankomme - gleichzeitig mit der Felda, die sich stark verändert. Zum einen macht Kaltensundheim das, was fast jedes mitteldeutsche Dorf mit seinem Bach macht: Es kleidet ihn in senkrechte, graubraune Mauern von begrenzter Schönheit, wahrscheinlich zum Hochwasserschutz. Zum anderen wird die Felda zwischen diesen Steinwänden plötzlich breiter. Der Bach hat sich in ein richtiges Flüsschen verwandelt. Donnerwetter, das ging schnell.
Mal sehen, was es in Kaltensundheim so gibt. Die Informationstafel, welche normalerweise Geschichten und Sehenswürdigkeiten erzählen sollte, beginnt folgendermaßen: "Kaltensundheim ist Sitz der Verwaltungsgemeinschaft Hohe Rhön." Es folgt eine zehnseitige Aufzählung, welche Dörfer zu dieser Gemeinschaft gehören. Dann ein Hinweis, dass es hier sogar (!) Übernachtungsmöglichkeiten gibt, und ganz zum Schluss werden noch kurz ein zwei Kirchen als Sehenswürdigkeiten erwähnt.
Erstes Upgrade: Verbesserter
Nebelweg von
Kaltensund- nach
Kaltennordheim
Äh, ich fahre mal lieber weiter.
Zack, schon sieht die Schlammwiese wieder aus wie am Anfang. Holztafeln säumen den Weg: Die Sonne, Merkur, Venus, Erde... Mooment, nicht so schnell, soll das etwa ein Planetenweg sein? Die wissen aber schon, dass man dann auch den maßstabsgetreuen Abstand zwischen den Planeten einhalten soll? Ah, der Jupiter steht immerhin ein paar Meter weiter. Nachdem ich dieses ungewöhnlich kleine Sonnensystem durchquert habe, leistet mir die Felda wieder Gesellschaft, damit ich im Nebel nicht vereinsame. Längliche Inseln aus Gras treiben im Wasser einer vernebelten Zukunft entgegen.

Echte Facharbeit:
Kaltennordheim
Diese Zukunft heißt Kaltennordheim und ist in mancherlei Hinsicht ein Upgrade des öden weißen Kaltensundheim.  Rotweißes Fachwerk ziert die Wände, unter denen mehrere Bäche sprudeln. Besondere Sehenswürdigkeiten springen mir erst einmal nicht ins Auge. Oder Menschen, wenn wir schon dabei sind. Aber die Infotafel hat deutlich Interessanteres zu berichten: Im Schloss wohnte der legendäre Rhönpaulus, die rögionale Variante von Robin Hood bzw. Klaus Störtebecker. Der Rhönräuber lebte hier allerdings nicht freiwillig, sondern als Gefangener. Am Ende wurde er hingerichtet. Auch Goethe besuchte Kaltennordheim mehrmals (und wurde, soweit bekannt, weder gefangen noch hingerichtet). Nicht dass Kaltennordheim so eine tolle Inspiration für Gedichte wäre - der Schriftsteller war nebenbei ja auch noch Minister und musste mehrmals wichtigen Kram mit der Stadt klären.
Tja, ich nehme mir lieber Goethe als Paulus zum Vorbild, indem ich die Stadt lebend und in Freiheit wieder verlasse. Die Felda führt mich durch eine längliche Grünanlage. Zum
Nett hier, aber waren Sie schon
mal in Göttingen?
Kaltennordheim
 Durchfahren ist Kaltennordheim schon echt schön (und anders als der Name sagt, längst nicht so kalt wie das Gebiet oben in den Bergen). Wenn ich jetzt noch etwas zu essen fände... aber nein, das Croissant muss noch weiter Treibstoff liefern.
"Nächster Halt:
Kaltennordheim, Rewe"
- Start des
Bahntrassenradwegs
Am Ende des Parks reihen sich mehrere Supermärkte aneinander. Ich finde sie gar nicht so super, unter anderem, weil sie alle geschlossen sind. Dafür entdecke ich dort endlich die Bahntrasse. Der Grund, warum dieses Flüsschen überhaupt einen Radweg hat. Der Grund, aus dem ich hier bin.
Hier soll die wirklich eigentliche Radtour beginnen, und ich bin... gar nicht mehr so fertig. Dann kann's ja losgehen.


Roter Zaun und rote Blätter:
Im Feldatal
Eine Minute später bin ich glücklich. Im Vergleich zur Schlammstrecke an der Quelle hat sich mein Tempo um gefühlt 500 Prozent gesteigert. Obwohl - wahrscheinlich nicht nur gefühlt. Gerade wie ein Gleis bahnt sich die Bahntrasse ihren Weg das Tal hinab. Was ich an Bahnradwegen so mag, ist die Abwechslung ohne Anstrengung. Mal fahre ich auf einem Damm und blicke von oben über das weite Tal, mal in einem kuschligen Hohlweg zwischen aufgeschütteten Wänden, und manchmal wird sogar das ganze Tal zum Hohlweg aus Herbstblättern. Dann höre ich, wie die kräftige Felda in ihrem Flussbett rauscht, als wollte sie die Erinnerung an ihren hässlichen Anfang genauso schnell hinter sich lassen wie ich.
Im Moos nichts mehr los:
Bildhübsche Bahnbrücke
bei Fischbach
(Die Bahntrasse ist oben.)
   
Vorsicht an der Bahnsteigkante:
Ein komischer Typ radelt durch.
Bitte nicht einsteigen!
Vor den feuchten Holzbrücken bremse ich stets ab, das hat mich eine unerfreuliche Erfahrung auf dem Solztal-Radweg gelehrt. An den erinnert mich so einiges, von den grau gemauerten Bahnbrücken, den einsamen, unglaublich langen Bahnsteigkanten bis zu den hübschen Bahnhofsgebäuden. Letztere fand ich sogar hübscher als auf anderen Bahntrassen. Sie wurden nicht einfach lieblos zum 0815-Vorstadthaus umgebaut, sondern so, dass man regelrecht erkennt, dass sie früher ein Bahnhof waren. Einige Bahnhofsbewohner hatten schon die Weihnachtsbeleuchtung angeknipst. Für bahnbegeisterte Kinder muss es großartig sein, in so was zu wohnen. Oder zumindest in so was zu Besuch bei Oma und Opa zu sein - wahrscheinlich ist es mittlerweile schon fast die Großelterngeneration, die mit einem normalen Gehalt so ein Haus erwerben konnte.
Ein Zella-Bahnhof: Hier
fuhren Mikroben Zug
Doch wenn dieser Radweg ein einzigartiges Markenzeichen hat, dann sind es keine Bahnhöfe, Brücken oder Bahnsteigkanten, nicht einmal der Nebel (der ist hier ja hoffentlich nicht immer). Es sind die roten Zäune. Unendlich lange, nicht enden wollende, leuchtendroooooteeeeee Zäääääüüüüüneeeeee. Wann immer die Bahntrasse ein Bächlein auf einer Brücke überquert, oder ein winziges Rinnsal unterm Weg in einem Betonrohr verschwindet, oder der Wegesrand ein kleines bisschen steil aussieht, oder sonst irgendeine Situation auftritt, in der ein fallender Radfahrer tiefer als 0,5 Zentimeter bergab stürzen könnte - zack, irgendwer hat rote Zäune aufgestellt. Und zwar für die nächsten 10 Kilometer, um ganz sicherzugehen.
Ende Gelände
(nicht die Protestbewegung):
Unterbrechung des
Bahntrassenradwegs
Ein bisschen albern ist es schon, aber gestört hat es mich nicht. Das grelle Rot war ein idealer Wegweiser  durch den Nebel. Damit hätte ich mich sicher zurechtgefunden, selbst wenn ich nur noch einen Meter weit gesehen hätte.
Wie kann es sein, dass dieser tolle Radweg nicht zum Bahnradweg Hessen gehört? Nun ja, zunächst einmal, weil er in Thüringen liegt. Und weil das erste Stück ja bekanntermaßen alles andere als toll ist. Aber nach ein paar Kilometern entdeckte ich, dass es noch einen Grund gibt: Er ist unvollständig. Auf einmal endete der Radweg an einem Haufen Betonschwellen. Die lagen ohne Gleise auf dem
Schlamm statt Bahn:
Erster Umweg bei Fischbach
Bahndamm rum, als hätte ein Riese (oder ein echt großer Bagger) sie mit der Hand zusammengerafft, dann aber doch keinen Bock gehabt, die schweren Dinger wegzuschleppen. Tja, nun durfte ich die Bahntrasse auch mal von der Seite bewundern. Auch schön. Gerade die Brücken kommen so viel besser zur Geltung. Aber wieso muss ich dazu schon wieder durch den Schlamm? Soll die Bahntrasse irgendwann noch ausgebaut werden oder warum ist die Umleitung so mies?
Als ich wieder auf dem Damm bin, stelle ich verblüfft fest: Der Nebel hat sich zurückgezogen.
Nebel statt Lava:
Der letzte aktive Rhönvulkan
Naja, natürlich nicht ganz. Aber ich kann komplette Ortschaften erkennen, weit entfernte Kirchtürme, sogar Berge schälen sich aus dem Dunst. Ist das so, wenn man richtig sehen kann? Hatte ich ganz vergessen.
Heiliges am Horizont:
Die Probstei Zella
Schließlich tragen nur noch die Berggipfel eine weiße Wolkenmütze. Anscheinend sind die Vulkane der Rhön erneut ausgebrochen, nur diesmal speien sie anstatt todbringendem Feuer einen klammen, feuchten Dunst. (Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was davon mir lieber wäre.)
Doppelt hält besser:
Radwege nach Dermbach
Bald müsste ich gleich die Hälfte geschafft haben. Vorher taucht etwas auf, mit dem ich Null gerechnet habe: Ein zweiter Radweg. Direkt neben dem Bahndamm folgt er schnurgerade dem Rand des Feldes. Warum? Soll das ein Weg für die Traktoren sein, der rein zufällig haargenau die Breite eines Radwegs hat? Und wenn ja, wieso ist er perfekt asphaltiert, der Schlammweg für die Radler vorhin aber nicht?
Nächster Halt: Bahnhof Dermbach
Ausstieg zum
Bäcker der Erlösung
in Fahrtrichtung rechts
Mit nebelfreier Sicht und doppeltem Weg kann ich die Stadt Dermbach gar nicht verfehlen. Zum Glück. Denn dort leuchte ein kurzes Stück die Hauptstraße runter ein verheißungsvolles Schild - eine Tankstelle. Ja, endlich! Mittlerweile ist mir alles recht, wo es auch nur einen Happen essen geben könnte.
Bäcker der Erlösung:
Papperts in Dermbach
Trotzdem werde ich diese Tankstelle niemals betreten. Denn auf dem Weg dorthin entdecke ich etwas noch Besseres: Einen Bäcker. Ein richtiges Bäckerei-Cafe, das sogar geöffnet hat. (Ich schulde der Tankstelle trotzdem einen Dank, dass sie mich zu ihm hingeführt hat.) Es ist gut besucht. Kein Wunder, viele Alternativen gibt es ja nicht. Als ich die Toilette betreten möchte, ist sie verschlossen. "Sie müssen an der Kasse nach dem Code für die Türklinke fragen.", meint ein Rentner. Tatsächlich, da sind kleine Tasten auf dem Griff. Wie wohl der Rhönräuber mit solch neumodischen Sicherheitsvorkehrungen zurechtgekommen wäre? Vermutlich ohne Probleme, denn der Code ist so simpel, dass sich jeder Experte für IT-Sicherheit sofort im Klo aufhängen würde.

Als ich die Bäckerei kurz darauf verlasse, fühle ich mich wie neugeboren. Keine Ahnung, was die in ihre Heiße Zitrone tun, aber ich schätze mal, es ist der Zaubertrank von Asterix. Mindestens.
Stadtschlösschen
und Trampolindelta:
SchenkStadtlengsfeld
"Rapunzel, lass... ach, du bist
schon rausgeklettert." -
Türmchen in Weilar
Die zweite Hälfte der Bahntrasse sieht ganz ähnlich aus, nur dunkler. Was daran liegen könnte, dass die Dämmerung hereinbricht. Eigentlich kein Problem, ich sehe trotzdem noch genug. Nur meine Kamera bekommt langsam Probleme. Schade, denn das Tal wird jetzt wieder enger und enthält ein paar kleine Seen und interessante Bauwerke. Im Park von Weilar (wo übrigens auch die Verbindung zum Rosatal-Radweg abzweigt) ragt ein pittoreskes Steintürmchen in die Höhe, dessen Zweck mir unbekannt ist. In Stadtlengsfeld (das ich andauernd mit Schenklengsfeld am Solztal-Radweg verwechsle, argh) säumt ein richtiges gelbes Schlösschen das Flussufer. Die Felda fächert sich dort zu einer Art Mini-Delta auf, welches an einen Trampolinpark mit tausend dicken Graskissen erinnert. Nur die Wassermühlen, auf die mapy.cz hinweist, sind nicht der Rede wert - einfach irgendwelche 08/15-Häuser, die früher mal ein Mühlrad hatten.
Stahl und Lichtstrahl:
Eisenbahnbrücke Weilar
Beinahe-Bahnradweg:
Rechts die Felda,
links der Bahndamm
Unterdessen taucht die zweite große Lücke in der Bahntrasse auf. Die nervt nicht ganz so, denn diesmal ist der Umweg gut ausgebaut und verläuft oft direkt neben dem Bahndamm. Darauf liegen richtige Gleise, nicht nur Betonschwellen. In Weilar verschwinden sie für eine Weile ans andere Ufer und nutzen dazu so eine industrielle Eisenbahnbrücke aus Stahlträgern - schade, da oben wäre ich schon gern rübergefahren, aber unten im Park ist es auch schön.
Straßenbahnradweg:
Gleise in Dietlas
Im Dorf Dietlas sind die Gleise längst wieder da und vereinigen sich für einen kurzen Moment mit dem Radweg und einer Dorfstraße: Die Gleise sind in den Asphalt eingesenkt, sodass eine Art Straßenbahnradweg entsteht. Das erinnert mich an eine Idee, den ich mal hatte: Das Einzige, was man auf einem Bahnradweg definitiv nicht von der historischen Bahntrasse sieht, sind die Gleise. Und wenn man die Gleise irgendwie unter einer Glasscheibe unter dem Weg verbaut? Nee, viel zu teuer und würde ganz schnell zerkratzen. Auf die simple Lösung eines Straßenbahnradwegs bin ich nicht gekommen. Wäre auf längeren Strecken aber zu gefährlich.
Ein klares Zeichen, dass ich mich der Werra nähere: Hier wurde 1911 ein Bergwerk gegraben. Woher ich das weiß? Wie in buchstäblich jedem Bergbauort stand da eine alte Lore auf Gleisen, natürlich mit diesem Bergbausymbol drauf. Diese Dinger sind anscheinend gesetzlich verpflichtend, sobald unter einem Dorf auch nur ein Krümelchen abgebaut wurde. 1961 waren die Gänge so weit gewachsen, dass die Bergleute mit durchschlagender Wirkung eine Verbindung zum Bergwerk Merkers herstellten. Fünf Jahre später machte die Mine dicht. Eine Gedenktafel von fragwürdiger Grammatik und noch fragwürdigerer Empathie erinnert mit den Worten "Gasausbruch dabei starben" an die Opfer.

"Gasausbruch dabei starben Heinz Günther Weilar Peter Rohs Stadtlengsfeld Rudolf Dengel Stadtlengsfeld... [N.v.d.R.g.]" 
- eine eher gefühlskalte Gedenktafel, Bergwerk Weilar -

Keine Sorge! Das ist nicht
der böse Computer HAL9000,
sondern die Bauampel BAL95.
Eigentlich soll ich jetzt ans westliche Ufer wechseln. Sagen jedenfalls mapy.cz und der Wegweiser. Den blöderweise irgendwer in Folie eingewickelt hat. Und irgendwer hat einen laminierten Zettel aufgehängt, der behauptet, ich solle die stark befahrene Straße in der Dunkelheit als Umleitung nutzen.
Warum ist der Radweg für Radler gesperrt? Eine Baustelle? Ein Erdrutsch? Schlechter Belag? Alles falsch. Das einzige Hindernis stellt eine Bauampel dar, die in der Finsternis einsam und sinnlos von rot zu gelb zu grün zu gelb zu rot schaltet. Hinter ihr befindet sich keine Baustelle. Der Weg ist genauso schmal wie vorher. Mit solch einem Hindernis werde ich gerade noch fertig.
Jetzt wirds salzig:
Die Feldatal-Bahn trifft auf die
Werra-Kali-Bahn in Dorndorf
(Keine Ahnung, ob die Namen
offiziell richtig sind. Außer
Dorndorf, das ist richtig.)

Kurz darauf schieße ich aus dem engen Tal heraus. Zwei olle Brücken zeigen an: Ich bin in Dorndorf angekommen. Die Gleise vereinigen sich im Licht der Straßenlaternen mit der berüchtigten Güterzugstrecke, welche die Salzbergwerke im Werratal verbindet und Kalten Krieg für Streit sorgte. Triumphale Musik erklingt. Nanu? Es ist der Posaunenchor von Dorndorf, der mir zur Begrüßung ein Lied spielt.
Gut zu erkennen, nur halt nicht
auf diesem Foto:
Feldamündung in Dorndorf
Geschafft. Naja, fast. Bleiben noch mindestens 11 Kilometer zum Bahnhof Bad Salzungen, oder mehr als 20 Kilometer nach Bosserode. Puh, nee, für heute reichts. Da quetsche ich mein Rad lieber in den Bus nach Hersfeld. Ja, im Werratal gibt es sogar richtige Busse!
Bis der Bus kommt, mache ich noch einen Abstecher zur Werrabrücke. Ob ich von da oben die ferne Mündung der Felda sehen kann? Wahrscheinlich nicht, denke ich.
Doch, kann ich: Auch am Abend ist die dunkle Linie aus Büschen, die zielstrebig im spitzen Winkel zur Werra dazustößt, deutlich zu erkennen. Zumindest mit meinen Augen. Meine Kamera sieht da gar nichts. Anscheinend sind meine Augen doch nicht so schlecht. Zumindest im Vergleich zu einer altersschwachen Canon-Digitalkamera. Immerhin.