Manchmal ist es gar nicht so verkehrt, wenn man nicht allein
Fahrradfahren kann. Einmal ganz davon abgesehen, dass die notwendige mentale
Leistung sich in Grenzen hält, wenn man hinten einfach nur stumpf in die Pedale
tritt, kann nämlich der Pilot auch noch hervorragend andere Tätigkeiten wie das
Beschaffen des Reiseproviants, der Getränke oder sogar des Tandems übernehmen.
Und, naja, weil ich am Vorabend noch auf einem Geburtstag in Gießen war und
sowieso bei solchen Touren nicht unbedingt mit Weitblick oder Erfahrung glänze,
war es am Morgen unserer Tour von Gießen nach Limburg fast schon ein Segen,
dass mein Pilot schon des Öfteren seinen Hintern auf einen
Fahrradsattel gepresst hatte – nur eben bisher noch nie auf ein Tandem.
Genau dieser Umstand sollte sich dann auch gleich bemerkbar
machen, als wir schließlich vom Frühstück gut gestärkt – und in meinem Falle
völlig übermüdet – unsere Tour begannen. Erste Aufgabe: Fahrradweg finden, auf
Spur kommen und uns eingrooven. Vor allem Letzteres war bisher mit meinen
zahlreichen Piloten immer erst einmal das Hauptproblem – auch wenn einige sich
da geschickter anstellen als andere. Das Seltsamste an so einem Tandem scheint
die doppelte Gangschaltung zu sein, denn die bekommt wirklich keiner so recht
hin. Auch mein Pilot hatte so seine Schwierigkeiten damit, vor allem, weil er sich
gleichzeitig auch noch an all seine anderen Aufgaben gewöhnen musste.
So hielten wir gleich mehrfach an – manchmal auch bloß wegen
roter Ampeln, bis wir schließlich an der Lahn und dem entsprechenden Radweg
waren. Die zwei oder drei missglückten Wendemanöver und seine anfänglichen
Schwierigkeiten, den tatsächlichen Radweg zu finden, wollen wir an dieser
Stelle einfach mal verschweigen.
Tatsächlich gibt es über den ersten Abschnitt bis Wetzlar nicht sonderlich viel zu berichten: Man fährt an einem hier noch sehr beliebigen Fluss entlang, muss immer mal wieder gucken, wo es weitergeht, steht hier und da an einer roten Ampel und, naja, fährt stumpf geradeaus.
"Und wo ist jetzt der Fluss?", fragte mein Hintermann mehr als einmal. Antwort: Zwei Meter neben dir. Aber dichte Hecken schirmten die Lahn oftmals ab. Als Sichtschutz zur Verrichtung der Notdurft waren sie trotzdem ungeeignet.
Die Ampeln und Orientierungsschwierigkeiten rührten übrigens daher, dass ich anfangs eine kürzere Variante neben der Autobahn wählte. Weil die Wegweiser dort etwas lückenhafter waren und das Lahndem keinen Karten- oder Handyhalter hatte, verzichtete ich danach auf weitere Abkürzungen.
Und obwohl das jetzt nicht so positiv klingt, war das im Grunde genau das, was wir zum Beginn unserer Reise brauchten, denn so konnten wir die verschiedenen Gänge testen und unser Fahrverhalten aufeinander anpassen. Der aufmerksame Leser mag sich an dieser Stelle fragen, von welchem Fahrverhalten ich spreche. Was kann der Trottel hinten auf dem Tandem anderes machen als stumpf in die Pedale zu treten? Naja, nichts eigentlich. Und zugleich eine ganze Menge. Es bringt nämlich überhaupt nichts, wenn der hinten Vollgas gibt, während der vorne andauernd bremst. Generell ist ein gleichmäßiges, aufeinander abgestimmtes Tempo beider Fahrer sinnvoll, wenn man das länger als zwanzig Minuten durchhalten will. Ein gutes Duo ist deshalb in ständigem Austausch, sodass der hinten weiß, wann der vorne nichts tut, und umgekehrt. Zusätzlich wird jeder, der auch nur einen Funken Sports- oder Abenteuergeist im Blut hat, meinen Drang verstehen können, die verdammte Kiste auch mal im High Speed zu erleben. Aber findet einmal eine Strecke, die lange genug geradeaus und bergab geht, um wirklich Tempo aufzubauen. Und dann bringt den Piloten noch dazu, euch das früh genug mitzuteilen und sich nicht weiter einzuscheißen. Der gute Mann ist nämlich Langstreckenfahrer – ein Umstand, der ihm später noch sehr zu Gute kommen sollte, uns aber zu Beginn ein paar km/h Geschwindigkeit kostete.
Wir sind eindeutig ganz unterschiedliche Körpertypen, oder was auch immer der Fachausdruck dafür ist. Er äußerte Dinge wie "Ich merk gerade, wie bei mir das Aerobe nicht mehr funktioniert, aber das Anaerobe auch nicht mehr so richtig." (Oder war es umgekehrt?) Ich muss mich bei solchen Worten erstmal an den Sportunterricht zurückerinnern, was das überhaupt bedeutet. Für mich sind 10 bis 15 km/h vollkommen ausreichend, das höchste der Gefühle ein Durchschnitt von etwa 18. Für meinen Hintermann war das "Kaffeefahrt", 20 km/h sollten es schon sein, am besten 25. Dafür kann ich den ganzen Tag von 6 bis 22 Uhr fahren. Er dagegen muss die Tagesetappe dann auch wirklich in wenigen Stunden bei Tempo 25 durchziehen, ehe er zusammenklappt. Die Unterschiede der Menschen sind immer wieder ein Quell der Faszination. Aber selten unüberwindlich.
Es ist ja nicht so, dass ich an sich etwas gegen 25 km/h gehabt hätte! Aber das Fahrgefühl war noch ungewohnt, und ich hatte stärker als bei einem normalen Rad das Gefühl, in der Kurve zu kippen. Das brachte mich instinktiv dazu, stärker zu bremsen, als es notwendig war. Sorry...
Unser Tempo rutschte runter auf 5 km/h, zu langsam, da waren wir uns einig. Unten rauschte die Autobahn durch das steile Tal. Darüber lugten zaghaft ferne Felsen aus dem Wald.
Auf einer Dorfstraße trafen wir auf eine Sperrung, und in der Nähe von Dinskirchen regnete es auch noch.
"Jetzt lass mal Dinskirchen im Dorf!", rief mein Hintermann. "Es tröpfelt!"
Nun gut, für uns bedeutete das jedenfalls viel schwitzen, keuchen und – vor allem in meinem Falle – fluchen. Glücklicherweise lohnt sich dieser Aufwand aber, denn man wird durch Weilburg selbst und den Streckenabschnitt dahinter dafür mehr als entschädigt. Ich kenne Weilburg noch von einem Schulausflug mit meinem damaligen Kanu-Kajak-Kurs. Man nennt sie auch die Stadt der Brücken und als solche ist sie wunderschön.
Majestätisch ragt das weiße Schloss in der engen Flussschleife auf. Auch Weilburg ist sehr dreidimensional, aber der obere Teil ist ziemlich klein und läuft praktisch nur auf den einen Marktplatz hinterm Schloss zu.
Als ich während einer anderen Tour den Schlosspark von Weilburg betreten und den Talblick genießen wollte, sprach mich ein zehnjähriger Junge wichtigtuerisch an: "Tut mir leid, wir schließen jetzt." Ich gehorchte dem furchteinflößenden Parkwächter. Eine Straße weiter kam ein weiterer Junge in Kampfsportkleidung vorbeigeeilt. Das ist dann wohl die Eingreiftruppe, falls die Gäste den Park nicht schnell genug verlassen.
Wir mussten die Stadt der Brücken im Zickzack über die eine oder andere der besagten Brücken umrunden. Für Schiffe stellt diese Flussschleife eine noch größere Herausforderung dar als eine Schuhschleife für Kindergartenkinder. Glaube ich zumindest. Denn zum Abtransport vom Lahn-Dill-Erz wurde eine außergewöhnliche Abkürzung in den Fels gebohrt: Ein Teil der Lahn zweigt als hohler Kanal ab und verschwindet für 195 Meter in einem ummauerten, schwarzen Löchlein. Das ist Deutschlands einziger Schiffstunnel. Ein heutiges Lastschiff passt da sicherlich nicht mehr durch. Ob nun stattdessen mutige Kanufahrer hindurchpaddeln?
Die Lahn schlängelt sich dort mit einigen Wehren und kleineren Wasserfällen durch eine weite Schlucht, um die herum die Berge noch um einiges höher sind als auf der Strecke zuvor – nur mussten wir uns diese Berge jetzt nicht mehr heraufquälen. Und auch hinter der Stadt wird es nicht weniger schön. Der Fahrradweg ist dort quasi direkt an der Lahn, bloß einige Meter weiter oben. So hat man die bewachsenen Felsen links, die Lahn rechts und vor sich hervorragenden Fahrradweg mit nur wenig Steigung.
Wie still es auf einmal war! Die Straßen waren weg, selbst die Gleise verzogen sich irgendwann in einen Tunnel. Diese grüne Schlucht und ihr schmaler Radweg gehörte uns allein. Mit Proteinriegeln in den Schenkeln und Müsliriegeln im Blut kamen wir endlich auf unsere wohlverdienten 25 km/h.
Unsere schlechte Laune vom zweiten Abschnitt war daher rasch wie verflogen, weshalb wir den Schwung erst einmal nutzten, und unsere eigentlich längst überfällige lange Rast um ein paar Kilometer nach hinten verschoben. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nur ein einziges Mal länger gestoppt als man für ein paar Schlucke Wasser und mein Gejammer über meinen wunden Hintern braucht, und da waren wir mit unserem Proviant noch sparsam umgegangen. Entsprechend ausgehungert waren wir, als wir schließlich mitten in der Pampa hinter Weilburg an einer maroden Parkbank direkt am Wasser hielten und uns mit Protein- und Müsliriegeln vollstopften. Zu diesem Zeitpunkt sandte mein Körper mir bereits deutliche Signale, die mich daran erinnerten, dass meine letzte Fahrradtour knapp zwei Jahre zurücklag. Doch trotz dieser körperlichen Beschwerden war es eine fabelhafte Rast bei nahezu perfektem Wetter direkt am Fluss und ohne auch nur eine einzige andere Menschenseele.
Wir nutzten die Rast neben einem aktiven Carb-Loading vor allem für eine kurze Netzrecherche. Dies war unseren Time Constraints geschuldet, denn mit Rückfahrt nach Gießen, Abgabe des Tandems und schlussendlicher Rückfahrt nach Kassel standen uns gut und gerne drei bis vier Stunden Zugfahrt bevor, die wir bei Zeiten würden antreten müssen, wenn wir nicht erst um Mitternacht Zuhause sein wollten - da ich am nächsten Tag arbeiten musste, wirklich keine Option. Gleichzeitig ist die Zuganbindung zwischen Wetzlar und Limburg wirklich eine Vollkatastrophe. Im Prinzip das klassische Problem: Der schnellere Zug fährt zu früh, der langsamere gerade so wenig später, dass man sich auch für ihn beeilen muss, und der wiederum nächste ist der schnellere zwei Stunden später – zu spät ganz ohne Frage.
Eine Vollkatastrophe? Sag mir, dass du noch nie Kurhessenbahn gefahren bist, ohne zu sagen, dass du noch nie Kurhessenbahn gefahren bist.
Lange Rede kurzer Sinn, wir fassten den kleinen Ort Runkel
ins Auge und weiter ging es. Für mich war dieser letzte Abschnitt unserer Reise
eine sehr zwiespältige Angelegenheit. Einerseits war die Landschaft weiterhin
der Hammer und das Fahren machte wirklich Spaß. Andererseits spürte ich
inzwischen deutlich, dass mein Hintern den Radsport wirklich so gar nicht mehr
genießen konnte, und meine Beine begannen auch mit lautstarkem Gejammer. Immer
wieder deuteten sich Krämpfe an. Von einem tatsächlichen Krampf blieb ich
allerdings verschont, weil ich inzwischen doch genügend Erfahrung habe, um
meinem Piloten meine benötigten Pausezeiten anzusagen. Das funktioniert folgendermaßen:
Wann immer ich nicht mehr kann, nehmen wir die nächstmögliche noch so kleine
abschüssige Stelle und hören mit dem Treten auf. Dabei ist am besten das
angeschlagene Bein unten, sodass man im Flow bleibt, aber trotzdem seine
Muskeln entlasten bzw. dehnen kann. Das mag nach einer sehr naheliegenden und
unerheblichen Sache klingen, rettete uns aber ungefähr zehn weitere Kilometer,
die ich sonst sicher nicht durchgehalten hätte. Und außerdem muss man so spät
auf der Tour unbedingt im Flow bleiben.
So endete unsere Fahrt schließlich nach fast 85 km in Runkel,
einer wirklich nichtssagenden, aber durchaus schönen Kleinstadt direkt an der
Lahn, die über eine sehr alte Steinbrücke verfügt – zu der mein Pilot, wie ich ihn
kenne, sowieso noch mehr zu berichten hat als ich.
Öh, habe ich das? Sie ist nicht so einzigartig wie Europas einzige Marmorbrücke nebenan in Villmar, aber immerhin hat sie schöne Steinbalkönchen zum Chillen und Plaudern. Wenn man denn dorthin kommt, denn aus irgendeinem Grund fährt manchmal eine endlose Fahrzeugkolonne über die historische Brücke, während auf der Umgehungsstraße um die Altstadt gähnende Leere herrscht. Irgendwas scheint hier bei der Verkehrsführung nicht ganz richtig zu laufen.
Darüber ragen gleich zwei Burgen auf, weil die Familie Von Runkel sich zerstritten und ihren Cousin rausgeschmissen hat. Die Fehde war aber deutlich brandschutzkonformer als bei den Targaryens und verzögerte bloß den Brückenbau.
Mit noch etwa 20 Minuten Zeit, bis unser Zug fuhr, gingen – bzw. in meinem Fall watschelten – wir durchs Dorf und suchten nach irgendeiner Möglichkeit, uns Pommes oder wenigstens was zu trinken zu besorgen. Kurz gesagt, funktioniert hat das nicht und die Kellnerin der einen einzigen Kneipe, die wir fanden, war auch nicht gerade motiviert, zu unseren Gunsten etwas daran zu ändern. Stattdessen ein kurzes Pläuschen mit einem anderen Fahrradtouri und schließlich Rückweg zu dem kleinen Witz von Bahnhof, der mir gleich aus zweierlei Gründen in Erinnerung geblieben ist: 1. Man muss doch tatsächlich draußen vor einem Tor warten, bis der entsprechenden Zug eingefahren ist. Vorher darf man aus Sicherheitsgründen nicht auf das verdammte Gleis. Und 2. Lungerte da irgendein Typ herum, der zwar unsere Sprache nicht zu sprechen schien, allerdings komischerweise genug Deutsch konnte, um mich nach Geld für seine Fahrkarte zu fragen. Kurz nach meiner leicht überraschten Verneinung wurde er dann auch noch vom Bahnhofspersonal frischgemacht, weil er anscheinend schon zum wiederholten Male aufs Gleis gelaufen war und somit die eben erwähnte Regel 1 missachtet hatte. Was für ein kurioser Bahnhof!
Abschließend kann ich nur meine Enttäuschung darüber
ausdrücken, dass wir die verbleibenden 12km bis Limburg nicht auch noch
geschafft haben. Sie wären zwar sicherlich eine Qual für mich geworden, aber
mein Ehrgeiz verbietet es mir eigentlich, so kurz vorm Ziel aufzugeben. Davon
einmal abgesehen war es aber eine äußerst lohnenswerte Tour mit wunderschöner
Landschaft und meist ebenso tollen Radwegen, die ich jedem nur wärmstens
empfehlen kann – vor allem, wenn man mit so schönem Wetter gesegnet ist. Danke
auch an dieser Stelle an meinen Piloten, der das Ganze organisiert und durch seine
funktionierenden Augen erst möglich gemacht hat. Wir werden das sicherlich mal
wiederholen – vielleicht ja, um den letzten Abschnitt auch noch auf unserer
imaginären Checkliste abzuhaken.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen