NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

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07 November 2022

Ems: Von Emden nach Borkum

 Ems-Tag VII

Wie mein Handy eine unblutige Grenzfrage beantwortet - Windmühlen im umstrittenen Territorium - Das letzte Um - An Borkums Strand nur Deutschtum chillt und Antisemitismus gilt? - Der Zweckveranlasser - Krude Kurtaxenpraxis - Alles und nichts inclusive - Nebulöser Abschluss am emsigen Ende

Acht Uhr morgens. Eine Menschentraube verlässt den Bahnhof Emden Außenhafen, überquert die Straße und stellt sich bei der Fähre an. Die meisten Fahrgäste trampeln abwärts durch den Fußgängertunnel, manche fahren auch eine Etage höher mit ihrem Auto rein. Seltsam: In diesem Schiff ist das Fahrzeugdeck über den Fußgängern. Ist das nicht gefährlich?
Diese Fähre will alles gleichzeitig sein: Autofähre und Fußgänger-Kaffeefahrt, modern und luxuriös und rustikal (diese Holzregale für Gepäck könnten aus dem Auswandererhaus Bremerhaven sein), ein Restaurant und Imbiss und Nationalparkzentrum gleich auch noch (ein grünes Zimmer ist mit ein paar Natur-Informationen zuplakatiert).

Auf der rechten Seite ziehen Hafenanlagen, Deiche und Windräder vorbei. Links beschränkt sich die Aussicht auf steinerne Begrenzungen und Bojen, die den Fahrweg markieren. Wobei es streng genommen zwei Fahrwege gibt. Unter der Wasseroberfläche teilt sich die Ems nun in Westerems und Osterems, zwei Ströme im Wattenmeer. Dazwischen liegt eine flache Fläche, die früher mal eine große Insel war. Die Fähre entscheidet sich für die Westerems.
Zugleich entscheidet mein Handy schnell und friedlich die ungelöste Grenzfrage zwischen Deutschland und den Niederlanden, indem es mir eine SMS sendet: Willkommen in den Niederlanden! Na so was, da wollte ich heute gar nicht hin.

Mein Ziel ist der letzte Rest der einstmals riesigen Insel: Borkum. Das ist immerhin noch die größte der ostfriesischen Inseln und Deutschlands nordwestlichster Punkt. Laut der Instagram-Seite des Emsradwegs gehört diese Insel auch zur Radroute dazu, schließlich liegt sie mitten in der Mündung. Jetzt sind schon über zwei Stunden um, müsste die Insel nicht zu sehen sein? Oh.
Die Insel war nicht zu sehen, und sonst auch nichts. Die Fähre musste mitten in eine Nebelwolke gefahren sein. Ich wartete und wartete den ganzen Tag, doch die angesagte Sonne kam nicht raus. Mist. Im Laufe des Tages konnte ich zumindest ein bisschen was erkennen, mehr aber auch nicht.

Aber der Kapitän wusste, wo er hinmusste, und legte fast blind in Borkum-Reede an, wo sich der Emdener Einstiegsprozess spiegelbildlich wiederholte: Alle Gäste stiegen durch einen blauen Tunnel hinauf und in die Inselbahn. Diese rote Diesellok zieht bunte Wagen mit Holzbänken zum Zentrum, unter einem Brückenbogen mit der Aufschrift Willkommen auf Borkum hindurch.

Sonderlich willkommen fühlte ich mich in Reede noch nicht. Mein Eindruck ist, dass die Borkumer auf diesen kleine Vor-Insel alles ausgelagert haben, was irgendwie lästig ist: ihr Gewerbegebiet, die Jugendherberge (mit lauten Jugendlichen), den Bundeswehr-Stützpunkt (mit lauten Soldaten) und den großen Hafen.
Einzige Attraktion ist das rotweiß angemalte Feuerschiff Borkumriff, in dem sich das Nationalparkzentrum befindet. Es ist das letzte deutsche Schiff, das (bis 1988) als mobiler Leuchtturm herumfuhr.

Zur eigentlichen Insel gelangen die Gäste auf einem welligen Damm. Der ist schon mal eine klare Verbesserung: Sanddornsträucher wachsen am Wegesrand; links und rechts erstrecken sich braune Salzwiesen, soweit das Auge reicht. Wobei es nicht sehr weit reichte, denn der Nebel war immer noch da. Aber theoretisch müsste kurz hinter der braunen Ebene das Meer beginnen.
Auf diesem Damm liegen: Eine Straße, zwei Gleise und sogar zwei Rad- und Fußwege. Einer verläuft neben der Straße (im Bild hinterm Gleis), und einer mit leichten Wellen über die Düne. Bei dieser Nordseeinsel ergibt es noch am ehesten Sinn, das eigene Auto mitzunehmen, aber was die Anzahl der Wege angeht, ist der Autofahrer auf diesem Damm klar in der Unterzahl.
Die Radwege sind im Borkumer Stil gepflastert, das heißt: Gerade so holprig, dass es ein bisschen nervt und bremst. Die Insel wirbt mit 130 Kilometern Radwegen, aber auf so eine Zahl kommt man nur, wenn man jeden kleinen Verbindungsweg dazurechnet. Eine Rundfahrt dauert je nach Route so 30 Kilometer, wie bei den meisten deutschen Inseln.

Am Ende des Damms passiert die Reedestraße eine Betonpforte im Deich, das zweite Tor zur Insel. Willkommen auf Borkum, diesmal richtig, müsste eigentlich draufstehen.

Wie die meisten ostfriesischen Inseln Borkum die Form eine merkwürdige Form, die an eine kleine Handfeuerwaffe erinnert - nicht schön, is aber so. Bisher bin ich quasi den Griff (oder keine Ahnung, wie man das bei Waffen nennt) hochgefahren. Als nächstes kommt ein Wald, genau an derselben Stelle wie auf Langeoog. Allerdings ist die sogenannte Greune Stee ein ganzes Stück größer und abwechslungsreicher als das Langeooger Wäldchen. Der Radweg schlängelt sich durch Hell und Dunkel, um knorrige Nadelbäume und schlanke Birken. Gefällt mir!

Unterdessen zuckelt die Inselbahn durch die Vororte der Stadt Borkum und steuert ihren Zwischenhalt an, den Jakob-van-Dyken-Weg. Die Hälfte der Leute steigt aus und überlegen, welches der zig Ziegelhäuser, die so auch irgendwo anders in Norddeutschland stehen könnten, ihr Ferienhaus ist.

Ab jetzt darf ich sogar am Strand entlangradeln, denn hier beginnt die extrabreite Bürgermeister-Kieviet-Promenade. In diesem Vorort stehen außerdem das Nordseeaquarium, der kleine Leuchtturm und langgezogene Sonnenterassen. Für mich sahen die eher nach Sporttribünen aus, auf denen die Weltmeisterschaft im Wattwandern oder so watt ähnliches beobachtet werden kann.

In den Dünen erstreckt sich ein Kurpark, aber der hat mich weder kuriert noch beeindruckt. Da wachsen stinknormale Hecken und irrsinnig viele giftgrüne Sitzbänke mit der Gestalt eines Strandkorbs und der Ausstrahlung einer uralten Bushaltestelle, an der einmal täglich ein Bus fährt.
Dahinter schälen sich die Masten eines Hochseilgartens aus dem Nebel. Sobald die richtig zu sehen sind, schälen sich auch schon die Umrisse der Kulturinsel aus dem Nebel, und dahinter wiederum die schiffsförmigen Konturen des Gezeitenland-Schwimmbads. Mannomann, hier gibt es deutlich mehr Angebote als auf Langeoog. Diese Insel will alles gleichzeitig sein: Kurort, Familienurlaubsgebiet, Naturschutzgebiet, Erlebnisort, Wander-, Auto- und Fahrradinsel. Das heißt aber halt auch, dass auf den einzelnen Gebieten eine andere Insel besser ist, die sich darauf spezialisiert hat.

Ziemlich mies ist folgende Regel: Wer seine Kurtaxe (2,5 Euro) noch nicht bezahlt hat und irgendwo den Eintritt zahlen will, muss gleich 8 Euro obendrauf blechen. Praktisch überall sonst kann man die Taxe auch in den Einrichtungen zahlen.

Irgendwo da draußen vereinigt sich die Westerems endgültig mit der Nordsee.
Ich habe noch nie einen so grauen Strand gesehen. Himmel, Wasser, und selbst der Sand schienen irgendwie ergraut. Größtenteils lag das am Nebel.

Aber nicht nur. Die Westküste Borkums ist mit fetten Betonstreifen gesichert, sogar die Buhnen bestehen aus solchen Dingern. Sie verhindern, dass sowohl die Schönheit als auch der Schrecken des Meeres überhand nehmen.

Bei den Schrecken der Geschichte war Borkum übrigens auch an vorderer Front. In diesem verfallenen Ziegelhäuschen wurden Funksprüche abgehört, und ein kleiner Bunker zeugt vom Zweiten Weltkrieg.

Lange vor 1933 war Borkum das wohl antisemitischste Seebad Deutschlands. Es warb als erstes Bad damit, judenfrei zu sein, und die Gäste grölten sogar stolz das Borkumlied, irgendwas von wegen Doch wer dir naht mit Haaren kraus, der muss hinaus, der muss hinaus.
Interessant ist nun, dass ausgerechnet die Borkumer Polizei dieses Lied gar nicht in Ordnung fand. Nur, was sollte sie unternehmen? Jeden einzelnen Gast festnehmen, der mitsingt, würde ihr Polizeirevier überlasten. Könnte man der Kapelle an der Promenade verbieten, die Melodie zu spielen - obwohl ausgerechnet die Musiker gar nicht mitsingen? Ja, denn die Kapelle ist der Zweckveranlasser, der gerade zu dem Zweck musiziert, andere zu einer Störung der öffentlichen Ordnung zu veranlassen. Die Bezirksregierung hatte mal eben eine Figur des Polizeirechts erfunden, die heute weitgehende anerkannt ist. Damals nicht, die Gerichte hoben das Verbot auf, weil es ja auch andere Texte zu der Melodie gäbe.

Machen wir nun einen Abstecher in die Innenstadt. Weiße Villen und schlichte Ziegel reihen sich aneinander. Aus letzteren besteht auch der Bahnhof, der gleichzeitig das Casino und einen Fahrradverleih enthält. Im Ernst, ein Casino, das aussieht aus wie ein norddeutscher Bahnhof? Ich dachte, das muss überall eine Art Palast sein.
Wer sich ein paar Euro sparen will, lässt sein Rad auf dem Festland, fährt mit der Bahn hierher und leiht sich eins aus (was aber etwas länger dauert). Und wer noch mehr Euro sparen will, macht dabei einen Bogen ums Casino.

Bevor irgendjemand das Wort Tourismus kannte, war Borkum eine Insel der Walfänger, die sich im Auftrag der Niederlande im Walkampf engagierten. Daran erinnert eine beeindruckende Walskulptur mit Plastik-Eisschollen an der Hafenpromenade und... was zum Geier, ist das ein Zaun aus Walzähnen?
Der Walfang wurde auf Eis gelegt, weil ab 1782 alle Walfänger entweder in britische Kriegsgefangenschaft gerieten oder verunglückten oder auswanderten, bis keiner mehr übrigblieb.

Aber nun vergessen Sie all die Wale, Fische oder seltenen Vogelarten, das Borkumer Tier schlechthin ist der Hase. Die ganze Insel wimmelt von Häschen. Leider hat noch kein einziges Exemplar begriffen, dass Haken schlagen vielleicht eine schlaue Taktik bei einem Raubtier ist, aber nicht bei einem Fahrrad. Jedenfalls nicht, wenn die Haken einen immer wieder und wieder auf den Radweg zurückbringen.
Die meisten Hasen leben an einem Ort, wo sie vor Rädern sicher sind. Soweit logisch. Überraschend ist allerdings, dass sich diese kreisrunde Wiese mitten im Ortszentrum befindet. Warum ist da überhaupt eine flache Wiese, will da niemand bauen? Oder wurde die absichtlich freigelassen, als Freiluftgehege?

Nein, die Wiese ist eigentlich nur ein Freiluftgehege für den Neuen Leuchtturm.
Borkum hat gleich drei Türme:
  • Der Neue Leuchtturm ist ein Backsteinschlot ähnlich wie in Cuxhaven.
  • Der Kleine Leuchtturm (so klein nun auch wieder nicht) ist gestreift und sieht damit am leuchtturmigsten aus.
  • Der Alte Leuchtturm ist eckig, einzigartig und hat eine skurrile Zickzack-Treppe an der Seite - da wär ich gern hochgestiegen, durfte ich leider nicht.

Das Kreuz gibt einen dezenten Hinweis, dass es sich beim Alten Leuchtturm mal um einen Kirchturm handelte. Dieser Turm hatte zwischenzeitlich zwei Jobs, leuchten und bimmeln. In seinem Erdgeschoss befindet sich eine kleine Gratisausstellung über die Gräber, die unter dem Fußboden gefunden wurden. Die Toten haben so exzessiv Pfeife geraucht, dass sich vorne in ihre Zähne ein fette Pfeifenstiehl-Kerbe eingeschliffen hatte. Damals gab es halt noch keine Warnhinweise auf den Pfeifenkraut-Schachteln.
Vor dem Turm befinden sich die Grabstätten jener, die im Meer ums Leben kamen. Eine niedriges Mäuerchen im Schilf verrät, wo einst das Kirchenschiff stand.


So, das wäre die zivilisierte Westseite der Insel. Borkum hat aber auch eine wilde Ostseite. Die war eine Zeitlang sogar eine eigene Insel. Der Streifen Wasser zwischen Ost und West wurde immer schmaler, die Nordsee spülte immer mehr Schlick an, und die Menschen fanden das eigentlich ganz praktisch. Sie halfen ein bisschen nach und bauten den sogenannten Interwall. Über 200 Jahre vor dem Berliner Mauerfall fiel auf Borkum die Grenze zwischen Ost und West. Wo genau sie verlief, konnte ich beim besten Willen nicht erkennen.

Wer vom Zentrum auf der Straße nach Osten fährt, gelangt zuerst zum Flughafen und dann zum Dorf Ostland.

Der Ostlandstrand ist ein ganzes Stück breiter als im Westen. Wer ihn sehen will, muss mehrere Dünen besteigen, die immer weniger Pflanzen und immer mehr Sand beinhalten. Dieser prächtige Strand hat mich am meisten an Langeoog erinnert.

Auch schlängelt sich hier ein Radweg durch die Dünen, der selbst im trübsten November Spaß macht.
Und doch muss ich sagen, das Farbenspiel auf Langeoog hat mich mehr beeindruckt. Die meisten Gräser und Hecken auf Borkum tragen ein gewöhnliches Grün, das man so auch anderswo in Norddeutschland findet.

Am Ende wartet ein Hügel, der wahlweise Duala Aussichtsdüne oder Aussichtsdüne Steerenk-Klipp genannt wird. Eine gewöhnliche Düne erhält das Upgrade zur Aussichtsdüne, wenn sie a) höher ist als die anderen und jemand sie mit b) Treppen c) Holzzäunen und d) Papierkörben pflastert.
Der Nebel hatte sich inzwischen etwas zurückgezogen, sodass ich regelrecht ein bisschen in die Ferne sehen konnte. Eine graugrüne Düne reiht sich hinter die nächste. Das westliche Ende ist nicht zu sehen und das östliche... auch nicht? Müsste da hinten nicht die Osterems sein? Wie weit geht das bitte noch weiter?

Dieser Weg ist für Fahrräder nicht geeignet. Bitte stellen Sie Ihr Fahrrad ab, bat mich ein Schild kurz hinter der Aussichtsdüne.
Die ersten Meter des Kieswegs waren sogar noch halbwegs geeignet, aber danach ging es mit dem Weg schneller abwärts als mit der britischen Wirtschaft. Aber nicht wortwörtlich abwärts, das Land wird wieder flacher. Die Dünen ziehen sich an die Nordseite zurück, und eine weite Schilfswiese in herbstlichem Beige öffnet sich.
Diese wilde Ostspitze der Insel nennt sich Hoge Hörn. Hier gibts nur noch Wanderwege, und selbst die sind im Gras manchmal kaum zu erkennen. Und wenn doch, dann nur anhand tiefer Schlammspuren. Über die Wasserläufe führen rostige Brücken, die aussehen, als hätte sie jemand achtlos mit einem Helikopter abgeworfen. Schließlich habe ich aufgegeben und bin umgekehrt. Wenn die Karte richtig liegt, führt der Weg sowieso nicht ganz bis zum Ende der Insel. Dafür wollte ich nicht riskieren, die letzte Fähre zu verpassen.

Von der Aussichtsdüne gibt es noch einen anderen Weg zurück in den Westen. Genau genommen sind es sogar zwei. Ein gewöhnlicher Borkum-Radweg folgt dem Deich am Südufer vorbei an einem Schilfsee namens Hopp (auf Langeoog heißt das Ding Schlopp, ich erkenne ein Muster).
Auf dem Deich liegt aber auch eine schmale Reihe Pflastersteine. Dann fahr ich lieber oben! Da konnte ich das Schilf der Insel und die braunen Salzwiesen der Südküste beobachten. Beide sind durchzogen von Wasseradern, beide verlieren sich in der Ferne im Nebel - gar nicht so leicht zu sagen, auf welcher Seite denn nun das Meer liegt.
Hm, die Salzwiesen sehen ja ganz ähnlich aus wie die an der Reeder Straße. Was daran liegt, dass sie nach ein paar Kilometern direkt in die Reeder Salzwiesen übergehen. Dort endet der Deichweg am Borkumer Betontor.

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