NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

06 November 2022

Ems: Von Leer nach Norddeich

 Ems-Tag VI

Gleiche Deiche um Dörfer - Der schiefe Turm ist mieser - Partyboot - I need a Dollart - Der richtige Name - Die Stadt der Ostfriesenwitze - You're my Wunderwall - Minimühlen, Doppelmühlen und Megamühlenmengen - Wie viele Ostfriesen man braucht, um eine Mühle zu bewachen - Zaunkontakte ganz ohne Elektrik - Der Bahnhaf

Los geht es heute genauso wie beim letzten Mal mit einem Radweg hinterm Deich. Ab und zu habe ich mich auf einem Betonstreifen an einem Schöpfwerk vorbeigequetscht. Hinter der breiten Fensterfront wird anscheinend Holz zersägt.

Noch etwas ist neu: Die Dörfer am Wegesrand werden immer ostfriesischer. Um das zu erkennen, musste ich nur die Ortsschilder lesen:
Bingum, Critzum, Pogum, Rorichum, Oldersum, Gandersum, Jarßum, Himarsum, Borssum, Pewsum (klingt wie etwas, das jemand unter ein Katzenbild schreibt), Twixlum (ironischerweise lag unter dem Schild nach Twixlum die Verpackung eines Marsriegels), Wybelsum, Eilsum, Wirdum... gut, das reicht erstmal. Die Orte müssen alle umbedingt auf -um enden. Andere Namen finden Ostfriesen umständlich, umangenehm umd dumm.
Ein traditionelles UmDorf beinhaltet eine Kirche und eine Mühle. Es ist rumd... schon gut, ich hör ja auf... also, es ist rund und ein klitzekleines bisschen höher als die Umgebung, denn UmDörfer wurden als Warftendörfer gebaut. Wenn ringsum die Flut tobt, ist das Dorf rundum (Kommt daher das Um?) geschützt, weil es auf der Warft liegt, einer Art Exklusivdeich beziehungsweise künstlicher Hügel.
Die Wassermühlen der Ems werden nun abrupt und konsequent durch Windmühlen ersetzt.

Das UmDorf Jemgum hat zusätzlich ein Albahaus. Warte mal, Alba, war das nicht dieser fiese spanische Militärtyp in dem einen Theaterstück, über das jemand in Deutsch ein Referat halten musste?
So ungefähr, nur dass er Statthalter in den besetzten Niederlanden war und wirklich existiert hat - unter anderem in Jemgum. Während der Schlacht von Jemgum hat er eine Nacht im Albahaus gepennt, sagt der Radführer. Also hat er gleichzeitig geschlafen und die Schlacht geschlagen? Tja, während der Arbeit einzuschlafen sollte uns seit dem Homeoffice ja vertraut sein.

Das kleinere UmDorf Midlum wollte ich lange mal sehen, seit ich in einer Zeitschrift davon gelesen habe. Sein Glockenturm ist der älteste in Ostfriesland (gähn) und der schiefste der Welt. (Oh, was?) Mit 6,74 Grad übertrumpft er seinen berühmten Kollegen in Pisa. Entstanden ist er auf dieselbe Weise: Ups, Boden zu weich, naja, abstützen und lassen wir jetzt so. Im Vergleich zu Pisa fehlen allerdings jede Anzeichen von Touristenmassen. Nur ein einsamer Reisebus stand leer auf dem Parkplatz, aber ich glaube, der Busfahrer wohnt einfach nur hier. Unter den misstrauischen Blicken der Friedhofsgärtnerin machte ich Fotos und lief ein Stück in den Turm, bis mir Stahlträger den Weg versperrten.

Der Turm erinnert mehr an einen offenen Haufen Backsteinbögen, die ein Kind zu einem chaotischen Gebauten aufeinandergetürmt hat. Dann hat es noch ein paar Stahlträger quer reingepiekst, um die Glocken dranzuhängen. Das Ergebnis ist definitiv und unübersehbar schräg. (Nur auf dem Foto kommt er nicht ganz so schief rüber.) Der Turm ist nicht mit dem Rest der Kirche verbunden, deren Altarraum übrigens auch ungewöhnlich schief aussah.
Leider steht das Ding nicht im Buch der Rekorde, weil es technisch gesehen gar kein Turm ist: Es ist breiter als hoch. Der Rekord geht stattdessen je nach Quelle an den etwas weniger schiefen Kirchturm Suurhusen (nicht weit von hier in Ostfriesland) oder Gau-Weinheim (immerhin auch in Deutschland). Aber seine Funktion ist trotzdem die eines Glockenturms, also kann man ihn trotzdem irgendwie als schiefsten Glockenturm der Welt bezeichnen.

Jetzt bin ich meer oder weniger fast an der Nordsee. Wenn ein neues Kreuzfahrtschiff, von dem quasi noch ganz frisch das Blut der Leiharbeiter tropft, aus Papenburg rauswill, muss erstmal dieses Sperrwerk versperrt werden, bis sich die Ems tief genug angestaut hat. Das Teil wurde extra für die Meyerwerft gebaut. Mein letztes Hindernis war dagegen etwas leichter.

Am niedlichen Hafen von Ditzum musste ich die Fähre nehmen, wo eine neue skurrile Erfahrung auf mich wartete. Das kleine Boot fährt nach einem unregelmäßigen Fahrplan, den ich mir vorher angesehen habe. Die Partytruppe auf Fahrrädern, die kurz hinter mir eintraf, offenbar nicht. Sie fragten einfach, wie die Fähre fährt, und hatten Glück, dass sie nicht 1,5 Stunden auf die nächste warten mussten.
"Ein Auto könnte hier auch draufpassen.", überlegte einer von ihnen.
"Hier dürfen drei Autos, einmal hatten wir sogar vier.", erklärte der Fährmann.
"Was?", lautete die allgemeine entgeisterte Reaktion.
"Das muss man dann aber auch wirklich wollen.", kommentierte ein Partygast.
"Ganz genau. So, bezahlen alle zusammen?"
"Ja. Ach nee, Moment, der gehört nicht zu uns." Mist, und ich hatte schon gehofft, sie würden mir vor lauter Trunkenheit versehentlich die Überfahrt spendieren. Stattdessen spendierten sie mir ein Getränk, und durstig wie ich war, stürzte ich es ohne Nachzudenken sofort herunter. Ups, da war nicht wenig Alkohol drin. Hoffentlich bin ich noch fahrtüchtig.

Abgesehen von der angeblichen Autoquetscherei war noch etwas seltsam an der kleinen Fähre. Die Rampe, die auf den meisten Schiffen mit Schranken und Ampeln verschlossen und unter Sirenengeheule hochgeklappt wird, fuhr hier gerade mal ein paar Zentimeterchen aufwärts. Wie ein Sprungbrett ragte sie die ganze Zeit über die Wasseroberfläche, und kurz vor der Ankunft stellte sich ein Fahrgast drauf. Was ist nur aus der guten alten deutschen Sicherheit geworden?
Die Ems wird nun viel breiter und verwandelt sich in eine riesige blassblaue Fläche. Das ist der Dollart, eine Bucht der Nordsee.

Auf den letzten Kilometern gibt der Emsradweg alles, was ich vermisst habe: Gerade Radwege am Wasser. Ich durfte eine ganze Weile vor dem Deich bleiben, hier und da sogar genau wie im Leeraner Miniaturland obendrauf. Das Miniland hat also doch nicht gelogen! Obwohl, größtenteils schon.

So bin ich zum Außenhafen von Emden gelangt. Den Eingang markieren zwei Bänke und ein düsteres Denkmal, das an die Seebestattungen im Dollart erinnert oder vielleicht auch für sie wirbt.

Dieser Ort war eine Zeitlang ein Mysterium für mich, weil ich bei undeutlichen Durchsagen der Bahn immer das Ziel "Entenhausen-Hafen" verstanden habe. Bis mir irgendwann klarwurde, dass es "Emden Außenhafen" heißt.
Im Entenhausen-Hafen liegen unter anderem eine zweite Fährlinie nach Ditzum, eine in die Niederlande und eine zur Insel Borkum, ein Schiff namens City of St. Petersburg, welches penetrant nach Petroleum stinkt, und das Boot für die bereits erwähnten Seebestattungen.
Jemand hat diesen Ort als Zielpunkt des Emsradwegs festgelegt, und deshalb bilden die Pflastersteine hier das Logo des Radwegs, genau wie am Infozentrum bei der Quelle - nur als Negativ. Das ist eine schöne Idee.
Aber wieso muss es schon zu Ende sein, es wurde doch gerade so richtig schön? Auf der Landkarte ist das Wasser immer noch mit Ems beschriftet, und der Nordseeradweg folgt ihm weiter.

Doch erst einmal geht es rein in die Stadt Emden. Wurde auch Zeit - endlich mal eine Stadt an der Ems, die nach dem richtigen Fluss benannt wurde!
Auf dem Weg ins Zentrum bin ich am Arbeiterviertel Transvaal vorbeigefahren. Dieses ganze Gebiet gehörte früher der Ems und wurde dem Fluss mühsam abgerungen.
 

In Transvaal lebte einst ein Wal, der sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlte ein kleiner Junge aus einer Familie, die wenig hatte, aber großen Wert darauf legte, die ostfriesische Teezeremonie korrekt zu zelebrieren. Er verdiente sein erstes Geld, indem er andere Kinder mit Puppentheater zum Lachen brachte.
Jahre später wurde er zum berühmtesten Sohn der Stadt, dem man sogar eine Statue schenkte. Er vertrat Emden im preußischen Abgeordnetenhaus, ließ den Dortmund-Ems-Kanal bauen und wurde sogar Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat. (Das ist ernsthaft ein echter Titel.) Sein Name war Carl Schweckendiek. Moment, was? Laaangweilig, mit so was wird man doch nicht deutschlandweit berühmt! Wie gut konnte Carl Schweckendiek jodeln? Wie gut konnte er einen sprechenden Föhn imitieren? Das sind Leistungen, die unsterblich machen.
Der lustige Arbeiterjunge war natürlich Deutschlands zweitbeliebtester Komiker, Otto Waalkes. Wo ist denn nun die Statue mit den knutschenden Ottifanten?

Dat Otto Huus ist ein Museum über den Ostfriesen, der Ostfriesenwitze über sich selbst macht. Aber egal wie aufwändig die Relikte seines Lebens platziert wurden - am Ende bleibt doch jeder im Kinoraum sitzen, wo seine Auftritt in Dauerschleife laufen.

Emden fand ich sogar noch schöner als Leer und noch niederländischer als Meppen und Papenburg. Beweisstück A: Es gibt sogar Grachtenrundfahrten.
Gleichzeitig hat Emden das Papenburger Zeitreiseprinzip übernommen und perfektioniert. Je tiefer ich den weitverzweigten Kanälen in die Stadt gefolgt bin, desto mehr wurde aus dem modernen Hafen eine klassische Amsterdamer Gracht.
Emden war schon immer eine eigenwillige Stadt. Vielleicht lag es an den Sonderrechten, die Karl der Große den Ostfriesen geschenkt hat. Vielleicht lag es auch daran, dass sich die Emdener für alle Ostfriesenwitze rächen oder der Welt das Gegenteil beweisen wollten. Auf jeden Fall haben sie ihre Sonderrechte so clever wie möglich eingesetzt und sich keiner Organisation untergeordnet außer dem König. Das gefiel der Hanse nicht besonders, weil sie rein zufällig eine solche Organisation war. Emden belegte die Hanseschiffe lieber mit hohen Zöllen und handelte mit ihrem Erzfeind, dem Piraten Störtebecker.

Die Stadt wird nach hinten hin nicht nur älter, sondern grüner. (Eine Ausnahme stellt der blaugraue Wasserturm dar, der auf dürren Beinchen im Hintergrund des Bildes steht.) Grund genug, eine Runde um den Stadtwall zu drehen, der Emden zur Hälfte umschließt.

Auf dem Wall verbergen sich wundersame, eigenartige Bauwerke, verschiedene Brücken, Schleusen und... Huch! Wieso steht da plötzlich so ein fetter Riesenbunker?

Außerdem gibts jede Menge Mühlen: Eine klassische Mühle, eine süße Spielplatzmühle, eine seltsam nackte, zum modernen Kindergarten umgebaute Mühle und... Huch! Eine Bunkermühle?

Vier Grachten treffen auf der Kesselschleuse im Stadtwall aufeinander. Hier begegnen sich Schiffe von der Ems, den städtischen Kanälen und dem Jade-Ems-Kanal. Weil die alle unterschiedliche Wasserstände haben, wurde eine Art Kreisverkehr für Schiffe gebaut. Alle vier Eingänge haben eine Schleuse, und im runden Mittelteil (dem Kessel) kann der Kapitän entscheiden, wo es weitergehen soll. Heute kesseln darin hauptsächlich Ausflugsschiffe umher.

Vom Stadtwall geht es weiter durchs Grüne, an irgendeinem kleinen Kanal entlang und durch die Streuobstwiesen aus der Stadt raus. Ah, wunderbar! Manchmal lohnt es sich, der offiziellen Radroute mit all ihren Verschnörkelungen zu folgen.

Aber nicht immer. Die nächsten Schnörkel durch Vororte habe ich mir gespart und bin an der Straße direkt zurück zur Ems geradelt.
Jetzt geht es so richtig rauf auf die ostfriesische Halbinsel, deren erster Teil seinen eigenen Namen hat: Krummhörn. Das ist der feuchteste Teil Ostfrieslands, denn das Land liegt bis zu 2,3 Meter unter dem Meeresspiegel. Um all das Wasser aus dem Himmel und aus dem Meer loszuwerden, wurde das große Knocksperrwerk gebaut. Im Ernstfall schmeißt es bis zu 60 Tonnen Wasser raus. Pro Sekunde.

Die kleineren Sperrwerke in den Deichen konnten danach dichtmachen. Sie wurden zugemauert.

Auf der Ems bzw. dem Dollart verläuft die Grenze zu den Niederlanden. Wo genau, ist aber umstritten. Die Niederlande sehen die Mitte als Grenze an, Deutschland beansprucht den ganzen Dollart wegen eines Dokuments von 1464. Die Länder haben nur Abkommen über die gemeinsame Nutzung geschlossen, aber bei der grundsätzlichen Frage sind sie sich weiterhin uneinig. Zuletzt relevant war der Streit, als Deutschland 2011 einen Windpark zum Teil in der umstrittenen Zone bauen wollte.
Auf der anderen Seite ragen die Hafenanlagen von Delfzijl und Eemshaven in den Himmel. Und außerdem massenhaft Windräder, aber die sind auch auf deutscher Seite zu finden.

Der Nordseeküstenradweg versucht immer wieder, die Radler weg von der Küste zu locken, ins Hinterland, weil sich da ja angeblich das wahre ostfriesische Leben abspielt. Na schön, dann mache ich mal einen Abstecher ins UmDorf Rysum. Ach, hübsch hier. Enge Sträßchen verliefen hin und her, ohne dass ich die runde Form einer Warft erkennen konnte. Aber ein ganz leichter Anstieg zur Dorfmitte hin war tatsächlich vorhanden.

Als ich die Mühle von Rysum erreichte stand die Tür sperrangelweit offen. Das komplette Innere ist kostenlos zugänglich, ohne Aufsicht, inklusive Mechanik, Modell des Dorfs und Balkon. Mann, sind die Ostfriesen vertrauenswürdig!
Natürlich kam es, wie es kommen musste: Ein paar Dorfkindern benutzte die Mühle als Abenteuerspielplatz und demolierten... absolut gar nichts. Sie rannten nur in gemäßigtem Tempo herum, fassten nichts Verbotenes an und benahmen sich auch sonst überraschend gesittet, ohne dass dies ihrem Spaß einen Abbruch tat. Wer an der Jugend von heute verzweifelt, sollte dringend nach Rysum reisen.

Ich sollte noch durch zwei weitere Dörfer fahren, aber darauf hatte ich keine Lust. Ich kehrte lieber zum Deich zurück.
Was wäre eine Radtour am Meer ohne Leuchttürme? Irgendwie unvollständig und nicht ausreichend beleuchtet. Deshalb folgt nun der mit Abstand berühmteste Leuchtturm Ostfrieslands. Er besteht aus einem dürren weißen Röhrchen, irrsinnig vielen roten Stahlträgen sowie einem fetten Haufen Beton, und seine Verankerung reicht 17 Meter unter die Erde. Sein Name ist Campener Leuchtfeuer. Moment, was? Laaangweilig, mit so was wird man doch nicht deutschlandweit berühmt! Wie viele Filme wurden darin gedreht? Das sind Leistungen, die einen Leuchtturm unsterblich machen.

Der berühmteste Leuchtturm Ostfrieslands wurde natürlich von Deutschlands zweitbeliebtestem Komiker bewohnt. Wo ist denn nun der Pilsumer Leuchtturm?
Der Turm mit den gelben Streifen spielt eine Hauptrolle im Film Otto - Der Außerfriesische. Darin steht der Turm einer Teststrecke für Tempo-1000-Hochgeschwindigkeitszüge im Weg und soll zerstört werden (eine Parodie auf die Transrapid-Teststrecke im Emsland). Heute wären außerdem Windräder im Weg, sodass man den Film so nicht mehr drehen könnte.

Otto muss die Zerstörung des Turms verhindern, weil er rein zufällig darin lebt. Im Film sah das Innere nicht ganz so kahl aus wie in Wirklichkeit. Heute kann man den Turm nur bei Führungen und Hochzeiten betreten, aber im Mai fand anscheinend noch nichts von beidem statt. Eigentlich schade, denn das Interesse ist ungebrochen. Auch über 30 Jahre nach Erscheinen des Films zieht dieser Leuchtturm mehr Schaulustige an als jede andere Sehenswürdigkeit auf dieser Tagesetappe. Sie machten Selfies und schlenderten über den Deich. Das Gitter für Liebesschlösser quoll über. Viele hatten auch kryptische Botschaften mit Edding auf den beiden untersten Turmstreifen verewigt:
Für immer ich liebe dich Schatz
Wichtig! (ohne Erklärung, was denn so wichtig ist)
Herr und Frau Schraat
Wäre bestimmt lustig, wenn Otto all das Gekritzel laut vorliest.

Ungefähr hier öffnet sich der Mündungstrichter der Ems endgültig zur Nordsee. Davon ist wenig zu sehen, denn das Meer hält Abstand.
Sturmfluten brachten es in der Vergangenheit viel zu nah an die Stadt Greetsiel heran, woraufhin die Einwohner es zurückdrängten, unter anderem mit dem Störtebeckerdeich. Es entstand das Naturschutzgebiet Leyhörn. Aktuell droht es auszutrocknen, weshalb wieder ein paar Deiche zurückgeschoben und Salzwiesen wiederhergestellt werden sollen.

Auch im Otto-Film kommt Greetsiel vor. Laut den Tempo-1000-Bossen handelt es sich um "das letzte Eingeborenendorf vor der Küste". Es ist ein äußerst bezauberndes Eingeborenendorf mit einem historischen Hafen. Später folgen noch viele ähnliche Dörfer, aber keines kann Greetsiel toppen. Enttäuscht hat mich nur, dass keine Bürgermeister-Wahlplakate mit dem Slogan Make Siel greet again hängen.

Weiter hinten stehen die Zwillingsmühlen von Greetsiel. Die vordere enthält eine ostfriesische Teestube, in der zusätzlich Lammfell verkauft wird. Eine ungewöhnliche Kombination, hoffentlich schmeckt der Tee nicht nach fettigem Fell.

Greetsiel ist gut besucht, obwohl es touristisch gesehen einen großen Nachteil hat: Kein Meer. Das heißt, das Meer ist natürlich schon in der Nähe, aber durch das ganze Hin- und Hergedeiche am Leyhörn wurde es quasi unerreichbar. Strandurlaub und Wattwanderungen sind nicht drin, stattdessen bieten die Greetsieler Bootsfahrten durch das Labyrinth der Sieltiefen an.
Eine andere Konsequenz besteht darin, dass meine Orientierung litt. Wo geht es jetzt zum Meer? Wie komme ich über diesen verflixten Kanal? Hier sollte doch laut Karte eine Brücke sein, wo zum Geier ist die? Was solls, dann fahre ich halt zurück zur anderen Brücke.

Als ich es dann doch hinter den letzten Deich geschafft hatte, befand sich das Wasser immer noch in weiter Ferne. Salzwiesen und ungewöhnlich viele Misthaufen säumen den Radweg.
Aber wen interessiert der Mist - ich darf vor dem Deich fahren, und das richtig lange! Das ist an der Nordsee nicht selbstverständlich.

Einige Kilometer später rückt das Meer näher heran. Theoretisch zumindest - durch die Ebbe blieb es irgendwo am Horizont. Doch noch jemand rückt näher heran: Schafe und Menschen. Radler und Spaziergänger füllen den Weg immer mehr, und gleichzeitig verspüren die Schafe das unbändige Verlangen, sich auf dem warmen Asphalt in der Sonne hinzufläzen. Wie soll der Platz nur für alle reichen?
Total locker, denn der halbe Deich ist asphaltiert. Ich musste ab und zu seitwärts nach oben fahren, um Fußgängern auszuweichen. Das war ein ungewohntes Gefühl, aber immerhin besser als gar kein Platz.

Eigenartige Gebilde aus Steinen, Beton und Reisigzweigen teilen das Wattenmeer in Gitterquadrate. Sollen die Dinger Fische fangen oder Wellen brechen?
Auch der Radweg ist unterteilt, und zwar von Gatterzäunen. Immerhin deren Zweck kann ich erraten: Sie sollen die extrem gechillten Schafe daran hindern, versehentlich auf die Weide des Nachbar rüberzuchillen.
Als ich das erste Gatter erreichte, passierten es gerade zwei Damen und ein Fahrradanhänger, in dem ein Hund saß. Sie hielten mir das Gatter auf, ich bedankte mich.
Hinter dem nächsten Gatter trank ich gerade Wasser, als ich sie herannahen sah und nun meinerseits die Tür aufhielt.
Am dritten Zaun waren die beiden wieder schneller, und ich versprach schon mal, das vierte Gatter zu übernehmen.
Wenn Sie schüchtern sind und Kontakte zu gleichgesinnten, gleichschnellen Radfahrern knüpfen möchten, kann ich Ihnen die Gatter von Norddeich wärmstens empfehlen.

Erst am Ziel bin ich wieder auf die Innenseite des Deichs zurückgekehrt.
Die Promenade von Norddeich sieht aus, als hätte der Hund aus dem Fahrradanhänger Ziegelsteine gefressen und im Ganzen wieder ausgeschieden. Aus diesen Ziegelhäufchen sind dann Straßenlaternen gewachsen.

Norddeich hat gleich zwei Bahnhöfe direkt hintereinander. Sie stehen dichter zusammen als viele Straßenbahnhaltestellen. Was auf den ersten Blick unnötig klingt, ergibt wirklich Sinn: Zuerst steigen die Einheimischen aus, und hinter der Straße dann eine Masse an Urlaubern, die ganz dringend vom Festland wegwill. Norddeich hat den einzigen Hafen, der gleich zwei ostfriesische Inseln auf einmal erschließt.
Der Bahnhof Norddeich Mole ist die nordwestlichste Ecke von Deutschlands Schienennetz und geht quasi direkt ins Meer über. In der Mitte liegen zwei Gleise, und links und rechts kommen dann gleich, wie zwei nasse Extragleise, die Anlegestellen. Selbst die Durchsagen sind dieselben: "In Mole 3 legt jetzt an: Die Fähre nach Juist, Abfahrt 10:30".
All die Instagramer, die gern Züge und Schiffe fotografieren, dürften hier die Zeit ihres Lebens haben.

Norddeich ist Teil der ältesten Stadt Ostfrieslands mit dem passenden, aber unkreativen Namen Norden. Wer diese Stadt mitnehmen will, macht einen Abstecher von fünf schnurgeraden Kilometern landeinwärts (entweder auf Gleisen oder an der Straße). Dabei lag die Stadt früher sogar auf einer Insel, bevor die Ostfriesen das Land trockenlegten. Das machten sie so gründlich, dass in der Innenstadt anders als in Leer und Emden kaum noch Wasser zu finden ist. Trotzdem wachsen überall Bäume: Die Fußgängerzone ist eine Allee und der Marktplatz zur Hälfte ein Park. Drei Windmühlen schmiegen sich alle ungewöhnlich nah ans Einkaufszentren. Jup, Norden ist mindestens so hübsch wie Emden.


Im Alten Rathaus wollte ich endlich dem Geheimnis auf den Grund gehen: Warum stand in Leer diese Teestatue? Warum trinken Ostfriesen auch heute noch mehr Tee als Engländer und elfmal so viel Tee wie der Durchschnittsdeutsche? Wo sollte ich Antworten finden, wenn nicht im Ostfriesischen Teemuseum?
Die Antwort ist leider etwas eklig: Das ostfriesische Moorwasser schmeckt einfach unerträglich. Um nicht vor Ekel zu verdursten, muss man es kochen und etwas reintun - aber was? Ach guck, die Niederländer nebenan haben da so eine Pflanze von der Ostasiatischen Kompanie bekommen, probieren wir die mal. Nur wenige Jahrhunderte später war eine komplizierte Teekultur mit zig einzelnen Schritten und fünfzig verschiedenen Geschirr- und Besteckteilen entstanden. (Am merkwürdigsten ist die Barttasse mit einer Porzellanbrücke, die beim Trinken den Schnurrbart beschützen soll.)
Obwohl die Pflanzen auf der anderen Seite der Erde in Kolonien mit eher suboptimalen Arbeitsbedingungen angebaut wurden, sprach man vom Ostfriesentee. Naja, immerhin wurde der Tee vor Ort gemischt. Weil nämlich der Geschmack mit jeder Ernte variiert, müssen die Ostfriesen jedes Jahr unterschiedliche Teesorten anders mixen, um dasselbe Ergebnis zu erhalten. Dafür sind anerkannte Tea-Taster mit mindestens sieben Jahren Erfahrung zuständig. Der wichtigste Teehändler in Norden war Otto Behrends, der als erster den fertig abgepackten Tee einführte.
Friedrich II. versuchte vergeblich, den Ostfriesen den Teeimport bei den ungeliebten Briten zu verbieten (sie sollten gefälligst Bier trinken wie richtige Deutsche). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Tee streng rationiert, woraufhin hunderte Ruhrpötter nach Ostfriesland fuhren, um ihre Teerationen gegen Massen aller anderen Lebensmittel einzutauschen. Ostfriesen werden lieber kriminell oder lassen sich abzocken, als auf Tee zu verzichten.

1 Kommentar:

  1. Eine aufschlussreiche Tourenbeschreibung. Ich habe viel Neues gelernt, obwohl ich doch mal in der Gegend gewohnt habe....

    AntwortenLöschen