Im Jahre 1929 kamen ein paar Privatunternehmer auf folgende geniale Idee: Lass uns mal eine Bahnlinie ins abgehängte Extertal bauen, Güterzüge reinschicken und gucken, ob die Wirtschaft aufschwingt. Das klappte nicht so, stattdessen geschah etwas anderes: Statt der Güterzüge wurden die Personenzüge viel beliebter als erwartet (und das ganz ohne 9-Mark-Ticket).
Die Gleise führten über die Weser und mitten durch die Innenstadt von
Rinteln. Für die Fahrgäste war das praktisch. Als dann aber 1969 die Personenzüge abgeschafft wurden, blieben nur Güterzüge übrig, und die störten in der Innenstadt eher. Deswegen ist das Gleis heute abgerissen, und wir mussten alles zu Fuß gehen.
Auf der Brücke kam uns der heutige Fluss aus dem Nebel entgegen und mündete mystisch in die Weser. Nach fast einer Stunde marschierten wir dann endlich auf das Ziel zu. Warum wir nicht einfach die Räder genommen haben? Die Exter hat keinen Radweg. Zumindest keinen, auf dem unsere Räder fahren könnten. Deswegen haben wir online eine Fahrraddraisine gebucht. Na endlich, da ist sie ja!
Inmitten von Industriehallen ragte ein kleiner grauer Schuppen auf. Der Vermieter begrüßte uns kurz und knapp und warnte bei der Einweisung: "Passt am Nachmittag auf, dann haben alle Autofahrer Wochenende und denken an nichts anderes!"
20 Minuten später durften wir aufbrechen. Ein Ruck ging durch das Fahrzeug, und unter unseren Tritten setzte es sich unerwartet holprig in Bewegung. Das hätte ich mir auf Schienen irgendwie geschmeidiger vorgestellt.
Der olle Startschuppen ist natürlich nicht der ehemalige Bahnhof. Ein paar Meter weiter liegt ein italienisches Restaurant, das sich früher Bahnhof Rinteln-Süd, und noch früher Bahnhof Exten nannte - obwohl der Vorort Exten ein paar Kilometer entfernt ist. Auf dem Weserradweg haben wir gesehen, wie die Exter dort einen Bogen durch Blumen und Bäume macht (wobei einige Bäume in Exten mit Äxten zu Fachwerk verarbeitet wurden). Die Gleise sparen sich diesen Bogen, indem sie auf einem hohen Bahndamm geradeaus weiterführen, mit weitem Blick über die Felder und Fabriken im Weserbergland.
Die Züge sahen eher aus wie elektrische Straßenbahnen, damals wie heute ziemlich ungewöhnlich für eine Regionalbahn.
Das war schon mal ein hübscher Anfang, aber jetzt wird es Zeit fürs richtige Extertal. Nach der Abkürzung tauchten wir ins engere Tal ein.
Hier und da erblickten wir sogar eine geriffelte Felswand, die aussah, als würde sich ab und zu jemand ein bisschen hellbraunen Fels abklopfen. Die meiste Zeit ist das Extertal aber waldgrün. Einmal sah ich Fahrradwegweiser an der Straße, Radwege aber nicht. Im Prinzip sollte es während der Hinfahrt bergauf gehen, es fühlte sich aber an wie ein sanftes Auf und Ab.
Die Exter sprudelt neben dem Gleis her, unter den Brücken hindurch oder über Betonwehre, und wird langsam schmaler. Zwischenzeitlich verläuft auf dem Fluss die Grenze von Niedersachsen und NRW, bis wir irgendwann komplett nach NRW wechseln. Eigentlich ein nettes Flüsschen, wäre da nicht der Geruch. Warum muss sie bloß so stinken? Fließen da so viele Schadstoffe von den Feldern rein?
Zum Glück fuhren wir nicht die ganze Zeit am Gestank entlang. Das Gleis war zwar ähnlich zugewachsen wie der Fluss, aber es roch besser. Eigentlich war es sogar zugewachsener als die Exter. Zwischen den Schienen wuchs eine vollständige Wiese oder ein Unkrautfeld. Manchmal war keine einzige Schwelle in der Mitte zu sehen, und selbst die Schienen waren nur aus nächster Nähe zu erkennen. Naja, das Fahrzeug weiß ja, wo es langgeht.
Was genau ist das überhaupt für ein Fahrzeug? Eine Fahrraddraisine besteht aus einer Bank und zwei Fahrrädern, die zu einem Mini-Eisenbahnwagen verschraubt wurden. Dadurch können immer zwei fahren und zwei entspannen (wobei es zu zweit auf der kurzen Bank schon kuschelig wird).
Die Draisinen wurde von der Fachhochschule Bielefeld speziell für das Extertal entwickelt. Sie haben Anschnallgurte auf der Bank, E-Bike-Unterstützung mit fünf Stufen, eine Gangschaltung mit sieben Gängen und bestehen aus leichtem Aluminium. Trotzdem darf man sie nicht einfach so aus dem Gleis heben, das könnte die kleinen weißen Kunststoffräder beschädigen, die das Fahrzeug im Gleis halten. (Die anderen Räder sind so was wie verkleinerte Fahrradräder.)
Zum Rasten und Überholen erhält man einen Schlüssel. Mit dem schließt man an einem der Rastpunkte einen speziellen Draisinenheber von der Kette ab, hakt ihn ein und zieht das Fahrzeug vom Gleis. Das klingt umständlich, ging aber überraschend schnell.
"Darf man auch überholen durch Draisinetauschen?", fragte ich bei der Ausgabe.
"Würde ich nicht machen. Dann geben Sie vielleicht einen vollen Akku weg und kriegen einen leeren."
Ganz schön kompliziert, und doch hatte diese ach so hochentwickelte (und nicht gerade billige) Draisine einen eklatanten Mangel.
"Funktionieren die Bremsen?", fragte mein Mitfahrer skeptisch.
"Hierfür reichts", brummte der Vermieter.
Und das war leider das Freundlichste, was man über die Bremsen sagen kann.
Wie kommt man mit so einem Fahrzeug über die Straße? Im Startschuppen mussten wir ein Fahrschul-Video ansehen, das gefühlt jeden einzelnen Bahnübergang entlang der Strecke durchging: "An der Kreuzung Krankenhagen-Soundso bitte..." Oh Mann, wie sollen wir uns das alles merken? Am Ende waren die meisten Kreuzungen doch sehr intuitiv, obwohl der Schwierigkeitsgrad immer mehr stieg.
- Level 1: Durch eine hässliche Unterführung fahren.
- Level 2: Am Stoppschild anhalten. Jeder einzelner Weg, den die Draisine kreuzt, hat ein Stoppschild. Sogar der hinterpopeligste Feldweg, an dem sich vielleicht einmal im Jahr ein Traktor und eine Draisine begegnen. Die haben nicht wirklich verstanden, wozu ein Stoppschild dient.
- Level 3: Langsam über die Kabel fahren. Dadurch wird eine Ampel mit extra Draisinensymbol aktiviert - und zeigt erstmal rot. Sobald sie grün zeigt, fahren.
- Level 4: Aussteigen und auf den Ampelknopf drücken, um die Draisinenampel zu aktivieren.
- Level 5: Aussteigen, um die Schranke hochzuheben. Durchfahren. Nochmal aussteigen, um den Ampelknopf zu drücken. Bei grün rüberfahren. Nochmal aussteigen, um die zweite Schranke hochzuheben. Uff, Level 5 ist echt dämlich. Zum Glück gibt's das nur einmal.
Meistens war die Straße nicht weit entfernt, aber gerade im Mittelteil brachten uns die Schienen auch woandershin, über die Hinterhöfe der Dörfer hinweg. Da fühlte ich mich irgendwie näher dran am Dorf - gerade wegen dieser verschobenen Perspektive fahren manche Leute ja gerne Zug. Wunderschön erhaltene Gutshöfe, Schweine im Schlamm, Forellen im Fischteich und eine Sauna zogen an uns vorbei. Aber wo sind die alten Bahnhöfe? Anfangs musste ich mich schon ein bisschen anstrengen, um sie zu finden. Die meisten wurden zu unauffälligen Immobilien umgebaut.
Der Rastplatz Rickbruch trägt die Nummer 4 und hat als einziger eine Sehenswürdigkeit. Hier beginnt nämlich ein Wanderweg mit dem Namen Patensteig. Er soll mehrere Wasserfälle haben. Am größten ist der
Wasserfall in der Hölle, der im Internet mit (für NRW) echt imposanten Bildern wirbt (ganz unten rechts). Wow! Das sieht nach einem Angebot aus, dass man nicht ablehnen kann.
Wobei, doch, kann man schon.
Zumindest im Herbst.
Unsere Füße raschelten über die braunen Blätter in einem engen Tal. Ein zartes Wässerchen plätscherte über kleine Felsstufen. Das war der Rickbach. Der sollte eigentlich gleich den Rickbachfall bilden. Das kleine Rinnsal? Und warum hören wir dann nichts rauschen?
Tja, weil nichts rauschte. Hinter der nächsten Biegung erwartete uns eine eckige Felsstufe, die immerhin einen Meter nach unten ging (Mitte rechts). Die könnte eigentlich einen durchaus schönen Wasserfall (fürs Weserbergland zumindest) abgeben. Wenn denn Wasser da wäre. Die paar Tröpfchen, die am rechten Rand herunterfallen, sind leider nicht der Rede wert. Schade. Wir verzichteten darauf, es bei den anderen Wasserfällen zu versuchen. War wohl einfach nicht die richtige Jahreszeit.
Und was bieten die anderen Rastplätze? Manche haben einfach nur den Draisinenheber und sind reine Überholstellen, andere sind mit Bänken und Dixiklos ausgestattet. An jedem Rastplatz wechselten wir einmal die Plätze, damit jemand anders auf der Bank entspannen kann.
Auf der Website des Draisinenverleihs findet sich eine imposante Liste von Cafés und Restaurants entlang der Strecke. Nur: Im Herbst machen die alle erst ab 17 Uhr auf, genau dann, wenn die Draisine wieder abgegeben werden muss. Das hätten die ruhig mal dazuschreiben können. Dann hätten wir nicht vor mehreren verschlossenen Türen gestanden.
Auf der Liste ist auch mehrfach von einem Rastplatz an der Bahnsteigkante die Rede. Wer da aber Überreste eines Bahnhofs erwartet, wird enttäuscht sein. Die sogenannten Bahnsteigkanten bestehen einfach aus Holzbohlen. Und die kleinen Eisenbahnbrücken bestehen bloß aus blödem bröckelndem Beton. "Ich hatte mir das schon historischer vorgestellt.", beschwerte sich mein Mitfahrer.
Abwarten. Ab Bösingfeld (Rastplatz Nr. 7) wird es plötzlich viel historischer. Der Bösingfelder Bahnhof war der Dreh- und Angelpunkt der Extertalbahn. Das sieht man. Große Bahnhofshallen ragen entlang des Weges auf, alte Züge ziehen an uns vorbei (aber nicht die straßenbahnartigen, sondern irgendwelche anderen). Theoretisch könnte man hier Weichen umstellen und auf ein Nachbargleis wechseln, aber das ist verboten. Auch der Bahnsteig ist endlich mal als solcher zu erkennen - so richtig aus Stein, mit einer Uhr und einem Schild! Ab hier verkehren manchmal Museumsbahnen auf der Strecke. Wer dagegen eine Mittags- oder Abendfahrt per Draisine macht, für den ist hier Ende Gelände.
Und noch etwas ändert sich: Auf einmal führen Oberleitungen über unseren Köpfen hinweg. Ja, diese Bahnstrecke war elektrifiziert. Die bisherige Strecke bisher eigentlich auch, aber große Teile der Kabel wurden 2005 geklaut. Ist ja immerhin wertvolles Kupfer. Seitdem fahren die Museumsbahnen mit Diesel.
Schade eigentlich, dass man kein Kabel mit einem Haken nach oben werfen und den Akku während der Fahrt aufladen kann.
Kurz vor der letzten Stadt ist zu sehen, wie mehrere kleine Bäche als grüne Heckenlinien die Hügel hinaufkriechen. Dort oben entspringt die Exter in mehreren Quellen.
Die Endstation heißt Alverdissen und ist eigentlich ganz schön. Eigentlich. Der Bahnhof ist der hübscheste auf der ganzen Strecke, die Fachwerkhäuser sind mit Bibelsprüchen bemalt und im Sommer bekommen alle Draisinenfahrer Gratis-Gutscheine fürs Freibad.
Leider war kein Sommer. In Alverdissen herrschte Herbst. Vertrocknete Sonnenblumen, ein ausgebranntes Moped und Totenstille machten klar, dass hier nichts lebt abgesehen von ein paar zurückgezogenen Rentnern. Verdammt, wir wollten doch was essen!
Das Restaurant im Bahnhof: zu.
Unser Magen: leer.
Der Imbisswagen hinter der Kirche: zu.
Unser Magen: leerer.
Der Grieche an der Hauptstraße: zu.
Die Metzgerei: geöffnet.
Notgedrungen versorgten wir uns mit Hähnchenschenkeln, Schnitzel und fragwürdigem Nudelsalat. Von einer regionalen, kleinen Dorfmetzgerei hatten wir mehr erwartet, aber was solls.
Hinter Alverdissen geht das Gleis noch weiter. Die Museumsbahnen setzen ihren Weg nach Barntrup fort, und in Lemgo treffen die Schienen schließlich auf richtigen Bahnverkehr. Es ist also im eigenen Interesse, dass die Draisinenfahrer hier definitiv umkehren. Das dürfen sie aber erst ab 14 Uhr.
Praktisch alle Online-Bewertungen hatten gewarnt, dass man die Steigung auf dem Hinweg nicht unterschätzen sollte. Früher sind die Draisinen sogar in Alverdissen gestartet, aber die Ausgabe musste nach Rinteln verlegt werden, weil die Gäste regelmäßig an der Rückfahrt scheiterten.
Tja. Wir erreichten Alverdissen ganz entspannt um 12. Verdammt, ich hätte weniger sportliche Leute mitnehmen sollen.
"Wie viel Akku habt ihr noch?", fragte kurz vor 14 Uhr ein anderer Gast. "Unser Balken ziemlich leer."
"Och, wir haben nur zwischendurch kurz angemacht zum Ausprobieren.", antwortete mein Mitfahrer bescheiden.
Kurz vor 14 Uhr hatten wir endgültig genug von Alverdissen und machten uns auf die Rückreise. Die Draisine hatten wir ja schon vor zwei Stunden umgedreht und passend positioniert.
Natürlich ging die Rückreise viel schneller. Und als wir dann noch spaßeshalber die Elektro-Unterstützung anknipsten, wurde aus der Draisine fast schon eine Achterbaaah...! Aber unendlich schnell konnten wir auf dem Teil dann doch nicht werden. Die ganze Konstruktion hat eine automatische Höchstgrenze, und das ist vielleicht auch besser so. Schon bei unserem Tempo ruckte und zuckte das Fahrzeug über die Gleise. Wenn uns in den Kurven nur noch ein eins der weißen Rädchen im Gleis hielt, fühlten wir uns nicht sonderlich sicher im Sattel. Wie viel mehr Tempo es wohl gebraucht hätte, um aus dem Gleis zu fliegen?
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