Harz VIII: Der Südosten
Niedersachsen ist das Ostseebad Binz vom Harz, zumindest was die Eisenbahn angeht. Es gibt zwei Gleise und zwei Bahnhöfe, die ein gutes Stück auseinanderliegen: Niedersachswerfen Ost für die Harzer Schmalspurbahn, Niedersachswerfen West für die normale Regionalbahn. Bei den Preisen der Schmalspurbahn haben wir uns lieber für den Extra-Kilometer zur normalen Regionalbahn entschieden. Für diese Strecke haben wir auf andere Weise bezahlt: Wir wurden patschnass.
Im Hintergrund wird der Gips ganz professionell in großen Stufen abgebaut.
So ein Örtchen wie Niedersachswerfen ist natürlich nicht das Ziel der beiden Bahnen. Die wollen noch eine Station weiter nach Nordhausen.
Dort kann man eine Stadtmauer auf Stahltreppen erklimmen, um oben herumzuspazieren.
In dieser Mauer liegt eine vielfältige und freundliche Stadt. Zwar ist Nordhausen längst nicht so groß wie Berlin, aber in einer Hinsicht kann diese Stadt absolut mit der Hauptstadt konkurrieren: Pfefferminzlikör. Denn das grüne Zeug, das zuverlässig Hemmungslosigkeit und Kopfschmerzen verursacht und auf den meisten Partys einfach "Pfeffi" genannt wird, wird hier hergestellt und ist der Spirituose namens Berliner Luft hinsichtlich des Konsums unter jungen Leuten eigentlich sogar überlegen.
Die Nordhäuser Brennereien überstanden sämtliche Erdbeben der Geschichte, ganz egal, ob Weltkriege, kommunistische Verstaatlichung, die Treuhandanstalt oder (das Schlimmste) wenn man keine Söhne kriegt und deswegen den Betrieb an den Schwiegersohn vererben muss. Alkohol wird einfach immer nachgefragt! Genau genommen sind Weltkriege oder die Treuhand ja sogar ein Grund, noch mehr zu trinken.
Vor der Kirche läuft ein Mönch herum.
Die hinteren Straßen der Altstadt bestehen aus Fachwerk und vielen Eisdielen.
Napoleon lieferte sich mit Preußen ein Katz-und-Mausspiel in den Straßen von Nordhausen. Die Franzosen schafften es zwar in die Stadt, aber nicht, die deutsche Armee richtig einzukreisen und auszuschalten, es blieb ihnen nur Frustplündern. Eine Art Unentschieden quasi, also außer für die Zivilisten.
Nordhausen hat außerdem einen großen Park mit alten Mauern, die unter Tonnen von Schlingpflanzen ächzen.
Und was verbirgt sich in diesem schicken Haus? Etwa ein Museum? Nein, eine Schwimmhalle - oder besser gesagt, ein Badehaus. Es wurde im Jahr 1907 gebaut, und im alten Teil des Gebäudes bekommt man heute noch einen Eindruck, wie die Vorfahren unserer Schwimmbäder vor hundert Jahren ausgesehen haben. Damals gab es rechteckige, warme Becken ohne eingezeichnete Schwimmerbahnen, dafür aber mit schöner Jugendstil-Architektur und einem plätschernden Brunnen. Ob die Whirlpools und Solarien neben dem Becken da 1907 auch schon standen, wage ich zu bezweifeln.
Weniger schick sind diese Ruinen an der Zorge.
Aber genau genommen liegen weder Nordhausen noch Niedersachswerfen liegen direkt am Harz. Was liegt denn dann direkt am Harz? Die Gemeinde Harztor, oder noch genauer genommen: Ilfeld.
Zunächst schien Ilfeld nur aus Einfamilienhäusern und Solaranlagen zu bestehen. Aber dann tauchte das auf, was wahrscheinlich mit Harztor gemeint ist: Vor dem Eingang ins Gebirge thront thront wie ein Wächter ein Hügel mit der Burgruine Ilfeld obendrauf (wieder nur ein paar verfallene Mauern).
Dies ist die einzige Stelle im Südharz, wo die Harzer Schmalspurbahn in die Berge eintaucht. Die Dampfloks sind so teuer, dass ich lieber ein paar Jahre gewartet habe, bis sie im 9-Euro-Ticket inkludiert sind. Dann stieg ich ein und stellte fest:
Das Harztor ist kein richtiges Tor.
Die Bahn taucht ganz allmählich ins Tal ein, sodass ich nicht wirklich sagen konnte, wo genau die Berge beginnen. Was aber egal ist, denn wow! Sobald die Bahn im engen Tal drinsteckt, wird die Fahrt großartig. Der erste Halt im Gebirge,
Netzkater, liegt direkt neben einem Bergwerk namens
Rabensteiner Stollen.
Nach einer Weile erreicht man dann den Umsteigebahnhof Eisfelder Talmühle und muss entscheiden, ob man Richtung Brocken/Sorge/Elend/Wernigerode oder Selketal/Quedlingburg weiterfährt.
Selbst Füchse gucken fasziniert zu und wollen mitfahren.
Die Nebenstraße wird schmaler und anstrengender. Sie zwängt sich durch Hügel und einen kleinen Wald hindurch. Dort haben wir einen Waldspaziergang eingeschoben.
Drei Wälder liegen an der südöstlichen Schwelle zum Harz. Der eine ist himmlisch schön, der andere höllisch gruselig, und der dritte ein wenig seltsam. Finde ich jedenfalls. Und ich bin sicher, dieser Eindruck liegt nicht nur am Wetter an den jeweiligen Tagen, als ich diese Wälder besucht habe.
Beginnen wir mit dem seltsamen Wald. Niemand scheint dort hinzugehen, außer ein paar Leuten, die unten im Tal irgendwann mal ein paar Bäume gefällt haben. Die Pfade sind zugewuchert, riesige Waldameisen und verdammt viele Spinnen krabbeln aus alten Baumstümpfen und am Waldrand schweben schwarze Wolken merkwürdiger großer Fliegen.
Wäre dies eine Fantasygeschichte, wären das beunruhigende Anzeichen, die zweifelsfrei auf ein paar sprechende Riesenspinnen in 500 Metern rechts schließen lassen. Aber in der Realität sieht so nun mal ein Wald aus, in dem sich wenige Menschen aufhalten.
Im Dorf Werna leben extrem viele exotische Papageien in einer möglicherweise zu engen Voliere.

Dann kommt die letzte Stadt Thüringens: Ellrich. Im Vergleich zu anderen Harzstädten wirkt Ellrich etwas schäbig. (Nein, das gilt nicht für alle Städte in Thüringen - haben Sie bei Nordhausen nicht aufgepasst?) Wohlgemerkt: Im Vergleich zu den anderen Harzstädten, das ist ja auch ein hoher Maßstab.
Außerdem sind die Ellricher nicht imstande, ein Schild aufzustellen, das in Richtung Bahnhof weist. Ob Feuerwehrmuseum oder Infozentrum, alles haben sie ausgeschildert, nur nicht den Bahnhof.
Die Kirche scheint zwar restauriert zu sein, aber das eine Ende wurde trotzdem als Steinhaufen liegengelassen und nur mit einem metallenen Schutzdach versehen. Vielleicht wollten die das aus historischen Gründen so lassen, damit die quasi ihre eigene Gedächtniskirche haben und mit Berlin konkurrieren können. Vielleicht dachten die aber auch nur, dass es so am besten zum Ortsbild passt.
Durch Ellrich fließt die Zorge. An ihrem Ufer kommen die große Straße und die Regionalbahn auf direktem Weg aus Nordhausen dazu. Diese Abkürzung haben wir nicht genommen - diese Etappe ist eh nur 23 Kilometer lang.

Wir sind einfach immer am knallgelben Rapsrand vom Harz geblieben, die grünen Gipfel stets im Blick.

Aber der Wald ist auch ganz unabhängig davon höllisch, denn er beinhaltet das komprimierte Grauen der deutschen Geschichte: Hier befanden sich auf demselben Gebiet die Außenstelle eines Konzentrationslagers und die Grenzanlagen der DDR. Von ersterem sind nur verfallene Grundmauern übrig, von letzterem gar nichts. Selbst die wunderschönen Gipsklippen wurden Teil dieses Grauens: Die Häftlinge der Nazis mussten den Gips abbauen.
Bei schönem Wetter sieht der höllische Wald trotz seiner Vergangenheit sicher netter aus. Dennoch hatte ich keinerlei Lust auf ein Wiedersehen, also nahmen wir den direkten Weg auf der Straße durch Rapsfelder. Mittendrin überquerten wir die Grenze von Thüringen nach Niedersachsen, zu erkennen wie üblich am braunen Schild ("Hier waren Deutschland und Europa geteilt bis zum...").

Hinter dem höllischen Wald liegt das kleine, feine WaldenriedWalkenried, wo wir auf unseren Harzreisen aus irgendeinem Grund immer wieder durchkommen. Der Ortskern besteht im Prinzip nur aus einem kleinen Straßenkreis. Stadtmauer und Stadttor wurden aus Platzgründen direkt in die Fachwerkhäuser integriert.
Im Zisterzienserkloster von Walkenried lebten fischsüchtige Mönche. Die noch existierenden Mauern sind hoch genug, um sich vorzustellen, wie die Klosterkirche einst aussah.
Am südlichen Rand vom Harz steuert die kleine rote Regionalbahn eine Kette kleiner Bahnhöfe mit geradezu winzigen Bahnhofsgebäuden an, wie zum Beispiel das in Walkenried. ("Liebe Gäste, dieser Fahrkartenschalter ist seit 2017 geschlossen, weil hier eh keine Sau vorbeikommt. Vielen Dank für Ihr Verständnis.") Dorthin hat es uns nun schon mehrmals verschlagen, denn hier befindet sich laut Internet der günstigste Punkt, um von der Bahn in einen Bus umzusteigen, der in den Harz hineinfährt. Heißt: Die Umsteigezeit beträgt nur 45 Minuten. Toll!
An Walkenried fließt ein Bach namens Wieda vorbei. Als wir einmal zu früh abbogen, entdeckten wir einen schönen Spazierweg an ihrem Ufer. Er wurde nach irgendeinem Professor oder Forstmeister benannt, dessen Name mir allerdings entfallen ist.
Der himmlische Wald erstreckt sich zwischen Bad Sachsa und Walkenried und ist voller grünblauer Teiche, die wir umfahren mussten. Dabei entschieden wir uns, nicht den direkten Weg zu nehmen, sondern mehr vom Wald zu erkunden. Zum Glück! Das war der schönste Teil dieser Radtour. Um die Pfade leuchtete es hellgrün und frühlingshaft, und dazu waren die Wege gut befahrbar. Hier leben viele Baby-Nacktschnecken.
Einer der Teiche heißt Priorteich. Das verrät uns, wer die Dinger ausgebuddelt hat: Mönche. Angeblich legten sie 365 Fischteiche an, um jeden Tag Fisch zu essen (außer an Schaltjahren). Fisch hatte für den Prior des Klosters ganz klar Priorität.
In diesem Wald entdeckten wir die Burgruine Sachsenstein. Es handelt sich um die Art Ruine, bei der nicht überall zu erkennen ist, ob das jetzt ein Felsen ist oder eine sehr stark verwitterte Mauer. Kaiser Heinrich IV. ließ solche wehrhaften Burgen bauen und setzte Ministeriale da rein, um den Harz zu kontrollieren. Klappte aber nicht so richtig, und nach ein paar Aufständen musste er sich zum Rückbau der Burgen verpflichten (oder wie man damals etwas dramatischer sagte: die Burgen schleifen).
Die Form des Turms ist immerhin noch erahnen, und sogar ein paar dekorative Muster sind an der Innenseite eingeritzt. Die Feuerstelle in der Mitte ist neueren Ursprungs.
Zum Glück haben wir den Abstecher zur Burg gemacht, sonst hätten wir was verpasst! Und damit meine ich jetzt nicht die Burg.
Denn hier oben entdeckten wir die beste Harzer Gipskarstlandschaft. Sie strahlt in einem hellen Weiß, von dem die Questenberger Klippen nur träumen können. Mittendurch fährt die Bahn. Auch aus dem Bahnfenster ist die Aussicht klasse, aber hier oben zeigte der Gips nochmal viele neue Blickwinkel. Weil ein Grundwasserstrom direkt unter der Erde fließt und am Gips herumlutscht, senkt sich der Boden
bis zu 18 Zentimeter im Jahr ab. Die Schienen müssen regelmäßig erneuert werden.
Die graue Klippe gegenüber konnten wir nur über die Gleise hinweg bewundern.
Auf unserer Seite hingegen konnten wir sogar am Rand der Klippe entlangspazieren und den herrlichen Blick über einen Teich und Bad Sachsa genießen.
Der Gips strahlt in der Sonne so weiß wie die Kreidefelsen auf Rügen. Aus der Nähe sieht er körnig und bröselig aus, ist aber überraschend fest. Wäre ja auch mehr als beunruhigend, wenn jederzeit was abbrechen könnte und da weder eine Absperrung noch ein Schild steht.
Dieser tolle Kletterbaum an der Klippe dürfte für Kinder ein Traum, für Eltern hingegen ein Albtraum sein. Dabei besteht doch kein Grund zur Sorge, falls ein Kind in den Abgrund stürzen sollte: Vor Ort gibt's Gips für alle gebrochenen Körperteile.
Um den Wald in Richtung Bad Sachsa zu verlassen, mussten wir einen Schlenker nach Norden machen, über einen Bach namens Uffe.
Die Hauptstraße von Bad Sachsa kuschelt sich halb in ein Tal (allerdings längst nicht so tief wie die ganz spezielle Stadt, die im Mittelpunkt der letzten Etappe steht).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen