05 Juni 2025

Spree: Von Erkner nach Köpenick

Der aufmerksame Leser wird sich wundern: Hö, wieso sind da immer noch drei Tage übrig? Hat der Trottel echt so lange durch Berlin gebraucht, so zäh kann der Verkehr dort nun auch wieder nicht gewesen sein?
Nein, war er nicht (nur fast). Diese kurzen Berliner Spreetappen bin ich während eines Wochenendbesuchs, einer Berliner-Mauer- und einer Havelradtour gefahren, daher die Zersplitterung. Aber es ist nicht so, als gäbe es nichts zu erzählen über die kurzen Stückchen.


Erkner hat auch seinen eigenen See, der Dämeritzsee versteckt sich aber lieber hinter modernen Villen. So richtig bekam ich ihn erst zu Gesicht, als die Spree schon wieder rausfloss. Wobei, eigentlich auch da nicht so richtig. Macht nix, der nächste kugelrundliche See folgt sogleich. Das Land an der sogenannten Müggelspree zwischen den Seen war mal eine Sumpflandschaft, quasi eine Art Mini-Spreewald. In den 20ern wurde das alles mit Kanälen trockengelegt und Neu-Venedig genannt, was noch am ehesten von den Grundstückspreisen her passen könnte.


Am Müggelsee wollte ich nichts dem Zufall überlassen und verließ die empfohlene Strecke, um mir die zweite annähernd kugelrunde Wasserfläche anzuschauen.
Damit überließ ich aber etwas ganz anderes dem Zufall.
Nämlich die Tatsache, ob sich meinen Reifen fester Boden befindet oder doch purer Strandsand.
Ein paar Sportboote lagen im Hafen, doch ansonsten war es erstaunlich ruhig. Sollte hier nicht schon mehr los sein, an einem solch schönen Strand nah an der Metropole.

Der Radweg ist eigentlich auch super ausgebaut, wenn man bereit ist, etwas Abstand zum See zu halten. Die Waldstraßen und Radwege kurven fast vollkommen flach über den Blätterboden und durch die schlanken Säulen der Laubbäume.
Schwer zu glauben, dass sich gleich nebenan der Berg mit dem Müggelturm befinden soll. Der alte Müggelturm ist 1958 abgebrannt, aber ein paar Kunststudenten haben gleich einen neuen Entwurf für das beliebte Ausflugsziel gewagt. Hm, da könnte ich ja eigentlich wirklich mal hoch... ah nee, Google sagt, is schon zu. Außerdem klagen die Bewertungen über einen furchtbaren baulichen Zustand und das seit ein paar Monaten geschlossene Café. Nein danke, das klingt mir verdächtig nach dem gruseligen Bayernturm von Zimmerau...

Später rückt der Radweg näher an den Gehweg und die kleinen Grasstrände heran.

Als die Spree den Müggelsee wieder verließ, habe ich meinen Weg ebenfalls verlassen, um mir eine kleine Besonderheit anzuschauen - den ersten Tunnel unter der Spree. Wenn auch nicht der einzige, in Berlin-Mitte gibt es definitiv einen Eisenbahntunnel, mehrere U-Bahn-Tunnel und wahrscheinlich auch irgendwo einen Straßentunnel. Aber die lassen sich mit dem Spreetunnel nur sehr bedingt vergleichen.
Erst einmal war er ganz schön schwer zu finden unter den ausladenden Baumkronen. Ich schob die letzten Zweige zur Seite, und auf einmal klaffte ein archaisches Treppenmaul vor mir auf, aus dem hysterische Geigenmusik hallte.
What?
Neugierig und fast gar nicht beunruhigt stieg ich die Stufen hinunter in den niedrigen Tunnel, der zu 80 Prozent von Graffiti, zu 15 Prozent von Patina (eine genauere Untersuchung wurde aus Selbstschutzgründen abgebrochen) und zu 5 Prozent von bröckelndem Stein zusammengehalten wird. So, nun müsste ich aber gleich... nee, noch mehr Stufen, aber gleich... jap, nun bin ich ganz unten angekommen.
In dem niedrigen Tunnel befand sich keine Menschenseele außer einem Violonisten, der sich mit all seiner Kraft und Leidenschaft in rasendem Tempo (auf jeden Fall deutlich schneller als mein heutiges Tempo) die Seele aus dem Leib geigte.
Dit is Berlin, dachte ich mir.
"Das ist Berlin", lachte später auch mein Gastgeber.
Dit is Berlin, denkt sich da wahrscheinlich jeder, sogar jene, die bisher noch nie wirklich was mit der Stadt zu tun hatten.

Eigentlich musste ich überhaupt nicht unter der Spree durch, sondern einfach bloß derselben Straße bis rein nach Köpenick folgen. Berlin-Köpenick ist so was wie das östliche Gegenstück zu Berlin-Spandau: Eine kleine Altstadtinsel in einer Flussmündung und eine der drei mittelalterlichen Keimzellen Berlins. Die Dahme mündet in die Spree (guck an, es gibt also doch einen Spree-Nebenfluss mit eigenem Radweg) und bildet ein dickes nasses Dreieck, das in der Abenddämmerung und den Lichtern der Stadt violett schimmerte. Das beobachtete ich eine Weile in einem Rosengarten am Ufer (sogar der hatte Patina), während ich mich vor einem Regenschauer versteckte. Zwischen den Wohnblocks in meinem Rücken herrschte die gesetzlich vorgeschriebene Nachtruhe, das hatte so gar nichts von der ach so gefährlichen Stadt, in der ich mich laut der CSU befand. Wie ich später von meinem Gastgeber hörte, war die Nahverkehrsanbindung nach Köpenick gerade äußerst bescheiden ("Von A nach B ist keine gute Idee."), und es hatte fast den Anschein, als hätten die Berliner diesen schwer erreichbaren Stadtteil am Rande irgendwie vergessen.

Die Altstadt selbst ist, ähnlich wie in Spandau, nicht superhistorisch und darüber hinaus weitgehend gefüllt mit Baustelle fünf. Unter den (ehemals) weißen Häusern sticht die märkische Backsteingotik am Rathaus umso deutlicher hervor, wie eine Mini-Version des Roten Rathauses im Zentrum. Sogar die kleinen weißen Flächen zwischen den Ziegeln wirken wesentliche weißer als die komplett "weißen" Häuser.
Aus dem Rathaus schreitet eine Figur des bekanntesten Köpenickers, der bisher auch das einzige war, was ich mit Köpenick in Verbindung gebracht hatte. Sein Name war Wilhelm Voigt, Schuhmacher, Dieb und Urkundenfälscher. Nach Jahren im Gefängnis wollte er sein Leben in den Griff bekommen und fand ordentliche Arbeit. Dummerweise bekam das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin Wind von seinen Vorstrafen und verwies ihn des Landes. Er zog in die Nähe von Berlin - dasselbe Spiel wiederholte sich. Der rehabilitationswillige Wilhelm hatte genug. Er kaufte sich an verschiedenen Stellen eine Hauptmannsuniform zusammen. Am 16.10.1906 ging er zu einer Militärbadeanstalt und befahl elf Männern, mitzukommen, Kabinettsorder. Sie folgten ihrem Befehlshaber gehorsam in die Stadtbahn ("Es war mir nicht möglich, Kraftwagen zu requirieren.") und ins Köpenicker Rathaus.
An dieser Stelle gibt es zwei Versionen. Mein Reiseführer, Voigts Autobiographie, das Theaterstück und der Film mit Heinz Rühmann behaupten, er wollte sich eigentlich nur einen Pass ausstellen lassen, den er als Vorbestrafter aus bürokratischen Gründen nicht bekommen konnte, und im Ausland endlich ein gesetzestreues Leben beginnen. Dagegen sprechen einige Gründe, zum Beispiel, dass in diesem Rathaus überhaupt keine Pässe ausgestellt wurden, was ihm bei seinen umfangreichen Vorbereitungen eigentlich hätte auffallen müssen. Laut Wikipedia hatte er deshalb von Anfang an vor, das zu tun, was er am Ende tat: Den Bürgermeister, Oberstadtsekretär und Polizeichef verhaften und die Stadtkasse "beschlagnahmen." Während er mit besagter Kasse in die Bahn stieg, hielten die loyalen Soldaten weiter das Rathaus besetzt. Erst zehn Tage später verpfiff ein ehemaliger Zellengenosse den Hauptmann von Köpenick an die Polizei.
Die Richter kauften ihm die Passgeschichte nicht ab, was es umso überraschender macht, wie viel Verständnis sie für dem Mann zeigten, der offensichtlich versucht hatte, ehrlich zu leben, und ohne eigene Schuld daran gehindert worden war. Der Hauptmann von Köpenick hatte eine Menge öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich hatte er die Schwächen des preußischen Gehorsams offengelegt, aber Kaiser Wilhelm checkte das nicht so richtig, und war im Gegenteil sogar auf verquere Weise stolz auf den amüsanten Vorfall. ("Da kann man sehen, was Disziplin heißt. Kein Volk der Erde macht uns das nach!") So stolz, dass er den Hauptmann von Köpenick begnadigte. Nach seiner Freilassung war er ein Star und konnte von Bühnenauftritten leben (also der Hauptmann von Köpenick, nicht der Kaiser).

Die anderen preußischen Ereignisse aus Köpenick sind weniger witzig. Am 1. Mai 1933 weigerten sich die Köpenicker Arbeiter, zu Naziparolen zu marschieren. Darauf folgte die Köpenicker Blutwoche Ende Juni, bei der die SA überall linke Regimegegner verschwinden ließ - ein Testlauf, um die Fähigkeit des deutschen Volkes beim Wegsehen einzuschätzen.

Am Ufer der Dahme steht ein weißes, barockes und unvollendetes Stuckschloss, das in jetziger Form für den Soldatenkönig Friedrich I. gebaut wurde. Über die Zugbrücke konnte ich den Innenhof und den Garten besichtigen, aber die paar kugelrund zurechtgeschnittenen Hecken waren nicht übermäßig spannend. Ganz anders das dramatischste Ereignis, das in diesem Schloss stattfand, der Kronprinzenprozess.
Der Sohn des Soldatenkönigs und spätere König Friedrich II. war sehr unglücklich unter seinem tyrannischen Vater, der seinen Tagesablauf genau eintaktete (7 Minuten fürs Frühstück) und sowohl seinen Sohn als auch dessen Lehrer verprügeln ließ, wenn er mitbekam, dass der Junge heimlich ein bisschen Latein und Literatur statt Militär- und Wirtschaftswissen gelernt hatte. Dann lernte der junge Friedrich einen acht Jahre älteren Leutnant namens Hans Hermann von Katte kennen, der sich ebenfalls für Dichtung und Flötenspiel interessierte. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, versuchte der Prinz mehrfach mit seinem Freund ins Ausland zu fliehen und scheiterte jedes Mal am zu loyalen (oder zu ängstlichen) Personal seines Vaters. Nach dem letzten Versuch bekam der König einen Brief seines Sohnes an Hermann von Katte als eindeutiges Beweismittel, und endlich konnte er ihn im Köpenicker Schloss vors Militärgericht bringen. Der Prozess begann damit, dass Friedrich I. Hermann von Katte erst einmal persönlich brutal verprügelte. Die (vermutlich etwas blassen) Richter erklärten als allererstes einmal für nicht zuständig, was den Thronfolger anging, und verurteilten dann Katte wegen Desertion zu lebenslanger Festungshaft. Woraufhin der König ihnen nahelegte, sie sollten sich nochmal zusammensetzen und das Urteil überdenken. Als die Richter dabei blieben, wandelte der König persönlich das Urteil in eine Todesstrafe um.
Als der Prinz das Urteil hörte, fiel er in Ohnmacht.
Man steckte beide Freunde in dieselbe braune Kleidung, damit der Prinz glaubte, auch er würde sterben. Stattdessen war er gezwungen zuzusehen, wie sein Freund mit dem Schwert enthauptet wurde.

So weit, so tragisch. Ein traumatisierter Heranwachsender, das auf diese Weise seinen engsten Freund verliert, ist in jedem Fall fürs Leben gezeichnet.
Dennoch bleibt die Frage: Wie nahe standen sich diese beiden Freunde nun eigentlich wirklich? Die Anzeichen sind da, dass zwischen ihnen was lief. Zum Beispiel Friedrichs Schwester, laut der Katte ihren Bruder weg von einem "anständigen Leben" hin zu "Verirrungen" trieb.
Natürlich sind wir wie alle Generationen nicht frei davon, die Geschichte durch die Augen unserer Zeit zu deuten, und mit Sicherheit können wir das sowieso nie wissen. Ich sag mal so: Wer jede enge Freundschaft mit Ausrufen wie „Wie unglücklich bin ich, mein lieber Katte, ich bin schuld an Ihrem Tod, wäre ich doch um Gottes Willen an Ihrer Stelle!“ - „Ach, Monseigneur, hätte ich tausend Leben, ich opferte sie Ihnen.“ als Liebesbeziehung interpretiert, der wird wohl in manchen Fällen falsch liegen, aber in manchen Fällen sicherlich auch richtig.

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