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Noch mehr Radreisen

10 April 2025

Havel: Von Rathenow nach Havelberg

Havelgeschwafel IX: Die Dorfdurchfahrten
Das Heidentum hat einen Harken - Kirche der Klugscheißer - Der Gaul mit dem großen Maul - Was Vogelliebhaber und künftige Ingenieure unterscheidet - Crossover der Flussradwege

Am nächsten Morgen nahmen wir eine Abkürzung nach Göttlin und nutzten die gesparte Zeit zum Schwimmen. Die sehr gepflegte Badewiese war sogar als Biwakplatz markiert, und tatsächlich hatten zwei Radler in hautenger Radsportkleidung die Aprilnacht anscheinend hier verbracht. Zu solchen Abenteuern kann ich meine Familie bekanntermaßen nicht überzeugen.

Als wir in die Havel wateten, wurde sie unter unseren Füßen schnell tiefer. Dafür ist sie schmaler und zwängt sich noch einmal durch ein tief eingekerbtes und bewaldetes Tal, das mich ein bisschen an die Strecke nach Fürstenberg vom Anfang erinnert hat. Nach wenigen eisigen Schwimmzügen verzog sich die Sonne schon wieder hinter eine dicke graue Wolke.

Wir radelten um die sandigen Dünen um den Truppenübungsplatz Klietz. Unser Vater glaubte, diese glatten Betonplatten stammten noch aus der DDR. Ich kannte genug Betonplatten vom Radweg an der Innerdeutschen Grenze und hatte da so meine Zweifel.

Wer glaubt, diese Landschaft hätten die üblichen Verdächtigen, also die Gletscher, erschaffen, der irrt sich. Den Sagen zufolge war es die Göttin Frau Harke, die alle Täler und Hügel liebevoll modelliert hat. Und das, obwohl in der Landschaft gar keine geraden Rillen wie von einer Harke zu erkennen sind. Irgendwann fiel auch den Menschen diese Ungereimtheit auf und sie konvertierten zum Christentum. Wütend Enttäuscht schleuderte sie dicke Steine auf die neu gebauten Kirchen (im Vergleich zu Frau Holle ging Frau Harke beim Geoengineering etwas grobschlächtiger vor), traf aber immer daneben. So kamen die Findlinge in die Landschaft.

Den Großteil des Tages fuhren wir auf straßenbegleitenden oder verschnörkelten Abwegen abseits des Flusses. Nur Altarme waren hin und wieder zu sehen, angeblich wurden 19 von ihnen wieder an die Havel angeschlossen. Frösche quakten wie verrückt, sobald ein Sonnenstrahl auf sie fiel - unter der Wolke blieben sie stumm.
Welchem Zweck dient wohl eine Kette aus 5 m hohen blauen Stangen am Rand des Feldes? Falls sie die Orientierung im Tiefschnee sicherstellen sollen, wird sie wahrscheinlich nicht mehr oft benötigt, aber vielleicht bei Hochwasser?
Die Havel ist inzwischen die Grenze nach Sachsen-Anhalt, und wir fuhren schon am linken, anhaltinischen Ufer. Hier ist es viel, viel leerer als in Brandenburg. Die Osterradler der letzten Tage waren endgültig verschwunden, sogar das Schild von gestern "Letzter Radstop vor Moskau" wäre plötzlich glaubhaft erschienen, wenn nicht die Richtung immer noch falsch gewesen wäre.

Während die Population an Menschen abnahm, nahm die Storchendichte rapide zu. Erst ein Nest pro Dorf, dann zwei... äußerst motivierend, unser Ziel war schließlich Deutschlands größtes Storchendorf. Auf Schornsteinen blickten die Riesenvögel gelassen und neugierig auf uns herab. Nur das Nest auf einer Insel im Dorfteich schienen sie zu verschmähen.

Die historischen Dorfplätze waren mal rund, mal rechteckig, mal hufeisenförmig oder im Laufe der Zeit alles davon, weil sich das Dorf nach jedem Großbrand oder Hochwasser anders entschied. Schollene hat einen ganz besonderen See mit einer Superkraft: Rheuma heilen. Der Schlamm aus dem See heißt Pelose, jedes Jahr werden 1500 Tonnen davon abgebaut und in Kurkliniken gekarrt. Ein Wunder, dass überhaupt noch was vom Naturschutzgebiet übrig ist.

In Garz sind die Ziegelwände mit feinen weiß gemeißelten Rahmen verziert, weshalb das Dorf sogar Kulturerbe ist. Das verdankt Garz dem Großbrand von 1897, denn danach wurde alles mit Backstein im Stil der Neurenaissance oder -klassizismus neu aufgebaut.
Und weil Frau Harke so schlecht im Zielen war wie ich, steht im Herzen des Dorfes eine achteckige Fachwerkkirche.

Im Inneren ist sie (anders als die achteckige Kirche in der Feldberger Seenplatte) ganz klassisch ausgestattet: Altar, Bänke, Empore, alles da, so dass man ihr die Achteckigkeit kaum noch ansieht.
Die Besucher der Kirche hatten ohnehin andere Kritikpunkte, die sie mangels eines Gästebuchs auf ein DIN-A4-Blatt niedergeschrieben hatten. DIN-A4-Blätter an Kircheneingängen sind ein unterschätztes soziales Medium, denn immerhin verlief die Diskussion ganz ohne Content Moderator noch halbwegs höflich.

Eine Anmerkung zu den Aposteln: In den Darstellungen wird Judas Iskarioth verschwiegen und durch Petrus ersetzt, der aber nicht zum Kreis der Zwölfe gehörte
Kommentar: Aber zu den Aposteln!

Also wirklich, da müssen wir die Porträts aus dem 17. Jahrhundert auf der Empore aber dringend umändern, das geht ja gar nicht!


Eine Anmerkung zur Gedenktafel der Toten des Zweiten Weltkriegs: Die letzte Aufzählung bitte ersatzlos streichen, da geschichtsverfälschend.
Kommentar: Die letzte Aufzählung hat 30 Jahre nicht gestört! Die Verfasser haben den Krieg, das Kriegsende und die Zeit danach miterlebt!

Hui, das ist etwas ernster. Es gab sicher Soldaten, auf die die einzelnen Worte jeweils zugetroffen haben, aber in der Summe hat die Aufzählung schon einen Hauch von Opferrolle rückwärts.

Ungewöhnlich ist auch, dass es nicht nur Gedenktafeln für die Weltkriege gibt, sondern auch für die Toten von Bismarcks Reichseinigungskriegen.
Ansonsten wurde in der Klugscheißerkirche noch ein Stück alte Uhrwerksmechanik zu einem Glastisch umgebaut, zumindest dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.

Die Rasthütten heute waren wahrscheinlich die architektonisch wertvollsten, die ich je gesehen habe. Der Architekt hat nicht nur eine Art Sanduhr aus Backstein zwischen die Balken gemauert, sondern auch jedes Mal einen extragroßen Backstein mit einem Reliefbild verziert, und zwar immer ein anderes, zum Beispiel eine Windmühle.
Am Dorfteich von Kuhlhausen steht hinter der coolen Hütte noch eine Outdoor-Bowlingbahn, die auch cool gewesen wäre, wenn denn auch coole Kugeln und Kegel dabeigewesen wären. "Kuhlhausen ist aufregend", behauptet das Schild. Na, mal sehen, ob ich hier noch was Aufregendes finde.

In den Hecken versteckt sich ein metallener Aussichtsturm. Ich dachte mir nichts weiter dabei und ging rein. Erst da erkannte ich, dass die Hecken rundherum einen Weidendom bilden, also eine natürliche Kirche aus Zweigen, die sich oben zu einem Gewölbe berühren. So, wie wir sie in Rostock auch hatten, ehe sie in Brand gesetzt wurde. Der Metallturm versucht, sich als Kirchturm in das Bauwerk einzufügen, indem er sich Netze mit Schlingpflanzen dran anzieht.

Als sich unser Vater der der Weide näherte, wurde Kuhlhausen endlich aufregend. Plötzlich schnappte ein sehr forsches Pferd nach seiner Jackentasche, in der es die Snacks roch. Obwohl er den Rest des Tages mit ca. 1 Liter Pferdesabber an der Jacke herumfahren musste, war er nicht sauer, das Mitleid mit dem offenbar ausgehungerten Tier überwog. Auf seiner Weide gab es nur noch Pflanzenstummel im Matsch.
Wenn wir ihm frische Grasbüschel hinhielten, schlang es die lautstark herunter wie ein Häcksler, als gäbe es kein Morgen mehr, oder als gäbe es morgen zumindest kein Gras mehr. (Wir haben nicht zum ersten Mal unterwegs Tiere gefüttert, deshalb können wir das durchaus mit anderen Pferden vergleichen.) Kauen und Schlucken hielt dieses Pferd für überbewertet. Kaum waren die Halme halb im Mund verschwunden, schwenkte es sofort zur nächsten Hand um und leerte auch diese.  Die einzige Möglichkeit, der Stute eine halbwegs entspannte Mahlzeit zu ermöglichen, bestand darin, etwas über den Zaun auf die Weide zu werfen – es war schlau genug, um zu begreifen, dass dieses Gras nicht mehr wegrennen würde.

Kurz vorm Ende kommt die Dosse dazu, ein Brandenburgfluss ohne Radweg, den ich bislang namentlich nur vom Autobahnkreuz Wittstock kannte, was diesen Youtuber nicht davon abhielt, die Dosse per Rad zu entdecken.

Auf dem finalen straßenbegleitenden Deichradweg erreichen wir noch eine Vogelbeobachtungshütte. Die interessanteste Vogelbeobachtung machte unsere Mutter, indem sie die 1.) die Beobachtungshütte nicht betrat und 2.) in die komplett entgegengesetzte Richtung sah. Dort führten gerade zwei Kraniche einen Balztanz auf, um ein und dasselbe Weibchen zu beeindrucken. Die Dame zeigte sich unbeeindruckt und fraß einfach weiter. Wahrscheinlich praktizierte sie während der diesjährigen Balzzeit den Trend #boysober.

In der dunklen, einstöckigen Hütte hatten wir einen noch weiteren Blick über die sumpfigen Seen und Wiesen. (Der Frühling war so trocken, dass es sich vermutlich wirklich um dauerhafte Seen handelte und nicht um Frühlingshochwasser. Die Havel fließt da nicht durch, aber der NABU hat alte Rinnensysteme in den Wiesen wieder geöffnet, sodass frisches Wasser reinkommt.) Ich entdeckte in den Wiesen einen grauen Reiher mit besonders schwarzen Schwanzfedern, der so nirgends auf den Infotafeln abgebildet war (weder auf der von Kindern JuniorRangern noch auf der von Erwachsenen gezeichneten).

Um diesen Blick jedoch zu genießen, mussten wir zunächst die Fenster aufbekommen. Entweder schiebt man die kleinen Sichtklappen auf, welche das Hütteninnere zu etwa einem Prozent erhellen, oder man schafft es, das Flaschenzugsystem zu bedienen und die großen Fensterklappen zu öffnen. Wozu der Aufwand? Damit die Vögel weniger gestört werden? Das ständige laute Öffnen und Schließen ist doch bestimmt auch nicht ganz optimal für die. Die klebrigen Kreise an der Decke geben einen anderen Hinweis: Irgendwann wurden hier mal Schwalbennester entfernt. So groß ist die Vogelliebe (anders als in den Vogelhütten auf dem Zingst) dann wohl doch nicht, dass die Schwalben in der Hütte nisten dürfen. Während unsere Mutter uns Rufe und Vogelarten nahezubringen versuchte, interessierte sich der Jüngste mehr für die Mechanik des Flaschenzugssystems und lief nach unten, um zu sehen, wohin die Seile führten.


Joa. So, und das war's eigentlich auch schon. Am Abend erreichten wir Havelberg, und ab da ist der Havelradweg mit dem Elberadweg identisch. Auf der ersten Hälfte, weil beide Flüsse von Havelberg bis zur Mündung dicht nebeneinander fließen, und auf der zweiten Hälfte, weil die Havelradler von der Mündung noch zum Bahnhof Wittenberge weitermüssen.
Diese Etappe kannten wir in umgekehrter Richtung schon von der Elbetour 2009, aber wir sind sie nochmal gefahren, denn erstens ist 2009 verdammt lange her, zweitens haben wir damals gar nicht auf die Havelmündung geachtet, weil eh alles voller Wasser war, drittens hat Havelberg sowieso keinen Bahnhof zum Wegfahren und viertens haben wir die Frühlingstour von damals als ganz herrlich in Erinnerung. So überlappten sich am Ende der Havelreise unsere älteste und unsere neuste Frühlingsradtour.

09 April 2025

Havel: Von Brandenburg nach Rathenow

Havelgeschwafel VIII: Die Sichtgeschichten
Von den Seen zum Sehen - Ein Lama Imbiss - Welche Abkürzungen akzeptabel und welche inakzeptabel sind - Die Stadt der Optik - Regenbogenrätsel - Wir essen locker vom Hocker

Am Ostermontag gab es weder Frühstück in der Unterkunft noch einen geöffneten Bäcker. Darum versorgte uns eine Tankstelle an der Hauptstraße zu einem Preis, der locker für ein schönes Hotelbuffet ausgereicht hätte.

Kurz darauf radelten wir in weitem Bogen um

Havelsee Nr. 40: Breitlingsee (im Bild)
Havelsee Nr. 41: Möserscher See

die das südliche Ufer besonders weit ausbeulen. Urige Nadelwälder erheben sich rund um die sanften Wellen des Radwegs, gerade so flach, dass das Rüberfahren noch leicht von der Hand vom Fuß geht.
Immer wieder zeugten Haufen kunterbunter Schalen vom Ostereiermassaker, das hier gestern stattgefunden haben muss, unter anderem an diesem Sandstrand. Trotz der herrlichen Lage war es noch ein bisschen zu kühl zum Baden.

Weiter gings an den Schornsteinen, Hallen und Gleisen der Pulverfabrik Kirchmöser vorbei, die aus irgendeinem Grund von der Reichsbahn verwaltet wurde. Ich würde mich ja lustig machen über die Idee, dass Bahnmitarbeiter schwer bewaffnet rumlaufen, aber angesichts dessen, was die in der letzten Zeit über sich ergehen lassen mussten, ist die Idee leider nicht mehr so abwegig, wie sie es mal war. 400 Fabrikgebäude und 172 Wohnungen gehörten zum Gelände. Also 2,33 Fabrikgebäude pro Arbeiter? Die hatten aber schon viel automatisiert!
Danach ging es per Brücke über

Havelsee Nr. 42: Plauer See (hat nichts mit dem Plauer See in MV zu tun)

und in den Schlosspark Plaue. Das ist nun wirklich der letzte See - es sind genau 42 geworden!
Das Schloss Plaue ist graugelb und sehr abgewetzt, aber im Park konnten wir auf schmalen Pfaden ganz gut durchradeln. Es stehen noch Statuen von Engeln, Theodor Fontane, einem Himalayabären und einer sogenannten Schraubenziege (denn genau so sehen ihre Hörner aus) herum. Die erinnern an Jagdtrophäen des Grafen von Königsmarck. Also natürlich nur der Bär und die Ziege, Engel und Dichter hat er, soweit bekannt, nicht abgeschossen.
Als eine Straße zum Pulverwerk quer durch seinen Park gebaut werden sollte, verlangte der Graf stinksauer "Rücksicht auf die märkische Landschaft". Wie hätte er wohl reagiert, als die DDR später auch noch eine T-förmige Halbinsel (hinten im Bild) aufschüttete, um Schiffe auf dem Weg von Westdeutschland nach Westberlin zu kontrollieren?


Die nächste Brücke ist eine seltene Fachwerkstahlbrücke und konnte auch für größere Schiffe aufklappen. 1945 wurde sie besonders radikal aufgeklappt, mit Sprengstoff. Davon hat sie sich anscheinend immer noch nicht erholt, denn sie war gesperrt, was man von unten nicht sehen konnte. Damit ist die Stelle sehr gut geeignet, um Familienmitglieder weiter unten auf der Straße zu verwirren, die nicht begreifen, wie man so offensichtlich in die falsche Richtung abbiegen kann.

Die Burgschänke in Plaue haben wir übersprungen, aber beim "letzten Radstop vor Moskau" (was schon von der Richtung her überhaupt keinen Sinn ergibt) hatten wir dann doch Hunger und hielten notgedrungen an. Der kuriose kleine Bauernhof war vollgestopft mit Tischchen und Strandkörben. Wir beobachteten dort Lamas und warteten außerordentlich lange auf zwei gewöhnliche Backfischbrötchen.

In Premnitz fiel mir vor allem eine Hauswand auf, auf die eine riesiges Bücherregal gepinselt war. Unser Vater wurde hier mal als Sommerjob von einem dubiosen Obsthändler ausgebeutet: Er ließ ihn morgens an einem DDR-Kleingarten raus, um Johannisbeeren zu pflücken, und holte ihn abends wieder ab. Den ganzen Tag pflückte er in der prallen Sonne ohne Essen, Trinken, Internet oder irgendeine Ahnung, wo er überhaupt war. Die einzige verfügbare Verpflegung waren - Johannisbeeren. Dementsprechend war das einzige, was er heute aus Premnitz wiedererkannte, die Kleingärten.

Meine Familie fühlte sich schon etwas "ausgebrandenburgt" (wie Rainald Grebe sagen würde) und wollte den Rest des Tages am rechten Ufer abkürzen, wo die ganze Zeit ein Radweg an der Bundesstraße verläuft. Bis Premnitz fuhr ich da gerne mit, da ist der offizielle Radweg eh weit vom Fluss entfernt. Aber auf dem letzten Abschnitt wurde inzwischen ein neuer, fast autofreier Havelradweg gebaut, der sich im Zickzack zwischen Straße und Uferwegen hin und her windet. Das Problem war nur: Bei der Streckenplanung hatten wir noch die alte Auflage des Reiseführers berücksichtigt, und die hat bei den Entfernungsangaben mit dem direkten Weg an der Straße nach Rathenow gerechnet. Gewissen Reisenden (ich möchte keine Namen nennen) wären diese überraschenden ca. 5 Extrakilometer einfach zu viel gewesen.
Darum fuhr ich die neue Route alleine und wurde mit dem Anblick eines heterosexuellen Fasanenpaares belohnt. (Außerdem sah ich heute einen Reiher aus nächster Nähe und natürlich einige morgendliche Waldmöpse.) Die Havel ist nun viel überschaubarer. Sie hat zwar noch immer dickere Stellen, aber See kann man die nicht mehr nennen. Überraschend oft durchbrechen Badesträndchen das Schilf. Der Wegbelag war leider sehr unterschiedlich – olle Betonplatten und enge Erde hätte ich bei einem "neuen" Radweg nicht erwartet.

Wir trafen uns wie verabredet in Rathenow am Tagesziel wieder, dem sogenannten Optikpark. Er befindet sich an einer langen Straße, zwischen den Innenstadt und einem verschnörkelten Havelarm. Die Anlage ist ein Überrest der Bundesgartenschau, die 2015 von Havelberg bis Brandenburg reichte und damit als erste BUGA jemals über mehrere Bundesländer. Aber was hat das mit Optik zu tun?

Der Grund dafür ist ein Rathenower Theologiestudent namens Johann Heinrich August, dem alle Brillenträger viel zu verdanken haben. Johann konnte wohl seine Bibel nicht richtig lesen und erfand kurzerhand eine Vielschleifmaschine, die ganz viele Brillengläser auf einmal herstellen konnte. Der König (wahrscheinlich auch Brillenträger) fand das super und gab ihm das Privileg, eine Optische Industrieanstalt zu gründen. Die hat sich fortgepflanzt, denn heute gibt es 25 Unternehmen in der Stadt, die irgendwas mit Linsen oder Feinmechanik machen. (Ja, auch Fielmann.)

Zum Beispiel kommen die Linsen für den Warnemünder Leuchtturm am Teepott von der Firma Picht aus Rathenow - und sind inzwischen schon 120 Jahre alt. Der Leuchtturm auf dem Bild kommt auch aus Warnemünde, ist aber etwas kleiner und stand in der Hafeneinfahrt. Als er 1997 in Rente ging, stellten ihn die Rathenower als Symbol für ihre Leuchtturmleistungen in die Havel und malten ihn in den Farben Brandenburgs an - zufällig sind das eh die typischen Leuchtturmfarben Rot und Weiß.


Im Herzen des Optikparks liegt ein Karpfenteich mit mehr Stegen, als man überhaupt begehen kann. Warum bauen die da gleich so einen Riesenknoten an Stegen rein? In der Mitte steht ein achteckiger Tisch, auf dem Städtenamen aus aller Welt stehen. Hmm, warte mal, das sieht doch aus wie... genau, die Weltzeituhr in Berlin. Und der Steg soll die Planetenbahnen nachahmen, die oben auf der Uhr draufgeschraubt sind, nur halt in 2D statt 3D. Haben Sie sie wiedererkannt? Ich auch nicht. Trotzdem ist das mal wirklich eine anschauliche Station im Optikpark.
Die berühmte Uhr ist nämlich ein Rathenower Projekt. Die Idee kam von Erich John, Professor für Formengestaltung, der die Volkseigenen Betriebe Rathenow von seiner Idee überzeugt hat. Auf Knopfdruck erklärt seine Stimme persönlich die hohe Meinung, die er von den Rathenower Handerwerkern hatte: Das seien die einzigen, die so ein Projekt vielleicht hinkriegen. Und auch mit denen war es schwierig, denn das Material war knapp: Sie mussten in der ganzen DDR Draht und Schrauben kaufen, und der Stundenring wird bis heute von einem Trabi-Getriebe gedreht.
(Aus Rathenow kommen übrigens auch die Ziegel für das Rote Rathaus in Berlin und das Holländische Viertel in Potsdam.)

In der hintersten Ecke des Parks versteckt sich hinter Zäunen ein enormes Fernrohr. Das hat der Rathenower Edwin Rolf mal eben als Hobby in seinem Garten zusammengeschraubt, wobei wieder tüchtige Rathenower geholfen haben. Die Akademie der Wissenschaften hat ihm die Materialkosten erstattet, dafür dass sie die Technologie später in Sternwarten benutzen durfte.
Bei Teloskopen hat man normalerweise die Wahl: Wenn man Spiegel benutzt, werden die Größenverhältnisse verzerrt. Wenn man Linsen benutzt, werden die Farben durch die Lichtbrechung verfälscht. Die Idee bei einem Medialfernrohr ist, einfach beides zu benutzen und die Linsen und Spiegel zu anzuordnen, dass sie ihre Fehler gegenseitig korrigieren. Und der Rolf hat das zum Brachymedialfernrohr weiterentwickelt, das ist eine um 50 Prozent gekürzte Version davon. (Ja, auf dem Bild ist die schon verkürzt.)

Dennoch: Der Optikpark enthält mehr Park als Optik. Was ein Brachymedialfernrohr wirklich ist, musste ich hinterher bei Wikipedia nachgucken. Optik gibt es vor allem in dem Sinne, dass der Park optisch schön aussieht, aber nicht, dass man dort superviel über die optische Industrie lernt.

Im Regenhaus, wo das Wasser von der Decke prasselt, konnten wir uns wunderbar nach dem heißen Tag erfrischen. Aber wo sind die versprochenen Lichtbrechungen, Regenbögen oder gar "vielfältigen optischen Illusionen"? Die Holzhütte ist doch von innen dunkel.


Aufgemalte Regenbögen gab es zumindest auf den bequemen Liegen und auch weiter hinten, wo bunte Silhouetten und Pyramiden anscheinend die Lichtbrechung darstellen sollen (im Bild). Aber wieso sind Orange und Blau im selben Strahl drin? So richtig wurde das alles nicht erklärt. Die optischen Täuschungen auf den Tafeln überall im Park kannte sogar der Kleinste schon. Zwischen den Bäumen verbargen sich irgendwelche künstlerischen Installationen aus alten Möbeln, bei denen ich beim besten Willen keinen Bezug zur Optik erkennen konnte.
Dass man weder den Leuchtturm besteigen noch durch das Brachymedialfernrohr schauen kann, hatte uns die Internetseite eiskalt verschwiegen, und ebenso, dass die Floßfahrten auf dem Havelarm schon um 17 Uhr Feierabend machen. Die interessantesten Stellen des Parks durften wir also nur doof mit Abstand anglotzen. Als Wissenschaftsmuseum oder gar Mini-Erlebnispark ist das Ding eher enttäuschend, als großzügiger Kinderspielplatz und künstlerisch angehauchter Landschaftspark ganz schön und mit 6 Euro vom Preis her auch noch halbwegs akzeptabel.

Rathenow sieht ganz anders aus als die letzten Städte: Es besteht einfach nur aus Wohnblocks, die urplötzlich in Stadtvillen übergehen. Historisch ist nur die Kirche und das eine Fachwerkhaus. Aber hässlich ist es jetzt auch nicht, es gibt Radwege, und wir waren wunderbar italienisch essen, darum hinterlässt Rathenow bei mir trotzdem einen guten Eindruck.


In einer der Stadtvillen haben wir gepennt, zufälligerweise beim selben Betreiber wie der gestrigen Unterkunft. Die in Rathenow ist eindeutig noch schöner. Ich pflanzte mich in einen Lesesessel im achteckigen Erker mit Blick auf den Netto gegenüber und fühlte mich wie der Lehnsherr über die gesamte Straßenkreuzung.


Diesmal waren wir schlauer, kauften ein und bereiteten uns in der Küche das Frühstück selbst zu. Während wir das Rührei vernichteten, steckten unsere Füße schon in den Pedalen - denn die Küche hat zwei witzige Fahrradhocker.


07 April 2025

Havel: Von Potsdam nach Brandenburg

Havelgeschwafel VII: Die Hunderunde
Von den unangenehmen zu den sympathischen Kötern - Wie viel das dringende Bedürfnis nach Windmühlen kostet - Ostersuche mal anders und dann nochmal anders - Mein Name ist Albrecht, ich falle hier ein - Die Keimzelle des Ostens - Memento Mopsi

Hinweis: In diesem Beitrag sind 11 Waldmöpse versteckt. Wer findet alle?

Wir verließen Potsdam an einem noch schöneren, bunteren Dampfmaschinenhaus, das als Moschee gestaltet wurde. Es brauchte jeden Tag vier Tonnen Kohle brauchte, um Wasser durch eine 1,8 Kilometer lange Leitung nach Sanssouci zu pumpen. Dort kam es als 38-Meter-Fontäne raus, damals ein Rekord.
Sogar die Wohnblocks dahinter sind erstaunlich bunt.

Nach ein paar Straßen landeten wir am

Havelsee Nummer 35: Templiner See (hat nichts mit dem Templin aus der Uckermark zu tun)

Hinter diesem herrlichen Uferweg wurden zuerst Zeppeline gebaut und dann Sportveranstaltungen abgehalten. Davon ist nichts mehr übrig, stattdessen irrte ich vergeblich durch einen Irrgarten aus Glasfassaden, um die versprochene Toilette zu finden.

Später im Wald kamen vorbei an einem Campingplatz mit Sandstrand und Strandbar mit Blick auf viel Wasser und noch mehr Bäume. Ich kann ich mir durchaus vorstellen, dass der Urlaub hier Spaß macht. Nur die Hundebesitzer und ein Fahrradschlauch vermiesten uns den Ort ein bisschen. Erstere, weil sie ihren Hundekot zwar in Tüten packten, diese jedoch nicht im Mülleimern, sondern ganz einfach direkt am Wegesrand entsorgen. Letzterer, weil er beschloss, direkt neben einer solchen Tüte plattzugehen.

Die Havel macht nun ausladende Zickzacks in Richtung Nordwest und Südwest, während sie immer immer dickere Seen durchquert. Am südlichsten Punkt bei Geltow verabschiedet sich der Radweg Deutsche Einheit auf seiner eigenen Route nach Bonn über den

Havelsee Nummer 36: Schwielowsee


Eine lauter Ortsdurchfahrt später standen wir in Werder. Der Name bedeutet vom Wasser umflossen und das erklärt auch endlich mal, warum ich schon so viele Inseln namens Werder gesehen habe. Auch die Altstadt von Werder liegt auf einer kleinen Havelinsel, so war sie vor Angreifern geschützt. Anfangs lebte sie von Fischerei und Weinbau, aber in den kalten Wintern gingen die Weinstöcke der Mönche immer wieder ein. Also sattelte die Stadt um auf Ziegel und Obst - die einzigen Weine, die heute aus dem "Obstgarten Brandenburgs" kommen, sind Obstweine. Da war die Stadt schon weit über die Insel hinausgewachsen, unter anderem wegen der katholischen Saisonarbeiter.
Die Altstadt ist eigentlich richtig schön. Eigentlich.

Auf dem süßen Marktplatz sprudelt ein Springbrunnen, an der Uferwiese verläuft ein Kiesweg für Fußgänger, und überall haben Eisdielen geöffnet, etwa die sehr sehr gute Dolci e Gelati. Als wir sahen, dass es dort ungewöhnliche Sorten wie Blutorange gibt, haben wir direkt Blut geleckt.
Nur leider versuchen sehr viele Autofahrer trotz der winzigen Entfernungen, ihr Kraftfahrzeug auf diese Insel zu quetschen. Egal, wo man steht, immer poltert gleich ein PKW übers Kopfsteinpflaster heran und will da durch.

Auf dem Hügelchen der Insel hat sich die neugotische Heilig-Geist-Kirche bestens herausgeputzt. Sie sieht tatsächlich sowohl neu als auch gotisch aus, eine eher seltene Kombination.

Direkt daneben steht neben einigen wortreichen Erklärungstafeln eine Mühle wie in Potsdam, nur dass sie sich nicht dreht und man sie dafür betreten kann. Zumindest steht das so auf dem Schild, laut dem die Mühle gerade geöffnet sein müsste. Irgendwo auf dem weitläufigen Mühlengrundstück saß ein Mann eifrig am Kassiertisch und wartet auf Besucher. Die ausblieben - denn das Tor zum Grundstück war leider verschlossen. Neben mir diskutierten einige Senioren: "Sollen wir warten, bis der das endlich aufschließt?" - "Wollt ihr da hoch?" - "Nee, da steige ich nicht hoch!"

Ich wartete genau eine Minute ab. Eine gute Entscheidung, denn nach einer Minute bemerkte er tatsächlich, dass das Besucheraufkommen mit offenen Türen etwas höher ist, und schloss auf. Ich stieg eine Holztreppe hoch am Mühlenbock a.k.a. "Hausbaum" vorbei, auf dem die komplette Mühle von nur einem Menschen in die richtige Windrichtung gedreht werden kann. Oben erwarteten mich zwei Stockwerke, in denen lauter Zahnräder und Seile von der Decke hingen, dazu eine römische Handmühle aus Xanten. Nicht gerade riesig, aber für 1,5 Euro kann man nicht meckern.
Die originale Mühle war eine ganz klassische Bockwindmühle und wurde 1973 von Brandstiftern abgebrannt. Die Stadtverwaltung wollte aber ganz, ganz unbedingt ihre Mühle wiederhaben und war so verzweifelt, dass sie der DDR eine ähnliche, aber total kaputte Mühle ohne Flügel für 6500 Mark (Das sind 13000 Mark! Ach nee, warte, das waren ja eh schon Mark...) abkaufte, auseinanderbaute und aufwendig wieder zusammenpuzzelte.

Havelsee Nr. 37: Großer Zernsee
Havelsee Nr. 38: Kleiner Zernsee

Hinter Werder verließen wir endgültig den belebten Großraum Potsdam/Berlin. Es waren zwar immer noch Radler unterwegs, aber offensichtlich nicht direkt aus den angeregten Dörfern - was wir daran erkennen konnten, dass es kaum noch angrenzende Dörfer gab. Endlich wieder Brandenburg, wie man wie man es kennt!
Der Radweg folgte über weite Strecken den Bögen der Havel auf einem Deich, daneben nichts als grüne Wiesen. Meine Mutter kam mit Vergleichen zur Insel Föhr an, ich fühlte mich eher an den Wümmeradweg kurz vor Bremen erinnert. 

Havelsee Nr. 39: Trebelsee

Allmählich wird die Havel zum unübersichtlichen Geschmörgel aus Inseln, Seen und Sümpfen, nichtsdestotrotz fanden wir kurz hinter der Fähre nach Ketzin eine unwahrscheinlich guter Raststelle. Alle Ausflügler hatten sie übersehen, nur unser Jüngster entdeckte den wunderbareren kleinen Havelstrand mit malerisch ungestützten Bäumen, auf denen auf wundersame Weise plötzlich Ostereier erschienen. An einem hing sogar eine vergessene Schaukel. Haus- und Motorboote schickten uns kleine Wellen entgegen.

Das Wasser war erstaunlich klar, kaum zu glauben, dass dieses Zeug direkt aus Berlin angeflossen kommt! Daraus ergaben sich ganz neue Möglichkeiten zum Ostereierverstecken.

Auch auf dem Radweg prangten Osterbotschaften aus Kreide in Deutsch und Englisch.

Überraschenderweise wurde es noch ein bisschen hügelig (1 Müllberg, mehrere Waldberge), hinzu kamen die wassergefüllten Deetzer Erdlöcher, erschaffen zwecks Abbau von Ton und Aufbau von Berlin. Wolken von Insekten waberten über den Weg.

Zum Schluss folgt der Radweg direkt der Straße über die Gleise. Brandenburg hat in der Gegend überraschend viele Bahnlinien, und eine davon kreuzten wir jetzt. Die Schranken waren zwar oben, doch oft sind sie das nicht und man muss bis zu 15 Minuten warten. Deshalb hat die Stadt den Bau einer Brücke beantragt. Ein paar Monate später war sie fertig und... ups, man kommt da ja gar nicht hoch. Sie haben vergessen, auch die Straßen zur Brücke hinauf zu beantragen. Nur auf einer Seite gibt es eine provisorische Rampe für die Bauarbeiter, damit sie oben auch den Asphalt auftragen konnten. Tja, jeder vergisst mal was. Oder wie Horst Ever sagt: Und wem das noch nie passiert ist, der werfe die erste Rolltreppe.

Nach über 50 Kilometern in praller Ostersonne schleppten wir uns doch recht erschöpft nach Brandenburg an der Havel. (Bei dieser Stadt muss wirklich jeder den Flussnamen nennen, um Verwirrung zu vermeiden.)
Diese Inselstadt wurde nicht nur an die Havel, sondern mitten in das unübersichtliche Inselgewirr der Havel reingebaut, mit der Folge, dass überall irgendwo Wasser ist - aber (anders als bei den anderen norddeutschen Inselstädten) nirgendwo eine Klappbrücke. (Vielleicht auch besser so, am Ende wäre die Klappbrücke sonst senkrecht über der Havel geschwebt, weil die Brandenburger vergessen haben, die Verbindungsstücke vor und nach dem klappbaren Bereich zu beantragen.)
Zuerst radelten wir über die Neustadt auf der großen und modernsten Insel. Die Kirschbäume begrüßten uns mit blühenden rosa Puscheln, die wir schon auf der Strecke ein paarmal gesehen hatten.

Viel kleiner, aber historisch wichtiger ist die Dominsel. Um das zu erklären, müssen wir zurückspringen in eine Zeit, als der Osten Deutschlands noch als arme, abgehängte Provinz galt und alles Wichtige im Westen passierte - so unglaubwürdig das aus heutiger Sicht auch klingen mag. Die Rede ist natürlich von den 90ern.
Oh, pardon, da fehlt eine Null, ich meinte die 900er.
Im Jahr 948 zog ein christlicher Bischof auf diese Insel - der erste östlich der Elbe. Aber die Slawen starteten einen Aufstand und stoppten das Christentum nochmal für 200 Jahre. (Von der damaligen Burg Brandenburg ist noch eine Kapelle übrig.)
Bis Albrecht der Bär kam (nach dem Bäerlin höchstwahrscheinlich nicht benannt wurde, auch wenn das zum Teil behauptet wird). Albrecht eroberte das Land nicht nur mit Bärenstärke, sondern manchmal auch mit Diplomatie und Bestechung (zum Beispiel wurde der letzte Slawenfürst Taufpate von Albrechts erstem Sohn). Etwa zu der Zeit wurde der Grundstein für den Dom (im Bild) gelegt.

Albrecht der clevere Kolonisator gründete auch die Neustadt (auf der großen Insel) und die Altstadt (auf dem Festland), wo sich niedrige Häuser an den Boden ducken und nur das Rathaus ein bisschen aufragt.
Um 1150 wurde Albrecht der erste Markgraf von Brandenburg. Wobei "Brandenburg" damals nicht ganz das heutige Bundesland war, sondern bloß das Havelland - erst seine Nachfolger eroberten weiter bis zur Oder. Trotzdem, der Markgraf von Brandenburg war einer von sieben Kurfürsten, der den Kaiser wählen durfte (quasi der erste Quoten-Ossi). Zum ersten Mal spielte Ostdeutschland wirklich eine Rolle, und zwar eine immer größere: Aus der Mark Brandenburg wurde Preußen und daraus irgendwann das Deutsche Reich. Und das süße kleine Brandenburg an der Havel war die Hauptstadt von alldem.
Also, anfangs.
Aber dummerweise hatten da ein paar Dödel an der Spree auch eine Stadt gegründet, und die lag einfach von den Handelsrouten her besser und wuchs viel schneller. Als die Hohenzollern also die Mark Brandenburg übernahmen, verlegten sie ihre Residenz nach Berlin (und später zusätzlich nach Potsdam). Brandenburg wurde abgehängt und verdiente sein Geld später damit, Fahrzeuge für Brennabor zusammenzuschweißen.

Der berühmteste Sohn der Stadt war auch zwar auch adelig, aber es war ist nicht Albrecht der Bär, denn erstens wurde der wurde nicht hier geboren - und zweitens mag er zwar slawische Dörfer verwüstet haben, aber nur aus langweiliger Machtgier und nicht, weil in diesen Dörfern ein Bild schief hing.
1923 kam Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow im heutigen Arbeitsgericht von Brandenburg auf die Welt. Kurz darauf wurde er in der St.-Gotthard-Kirche getauft. (Die Infotafel an der Kirche erwähnt die Taufe nicht. Und sie spricht zwar die Außensanierung von 1990/93 an, aber nicht, dass von Bülow sie fast komplett bezahlt hat.)

Mit einem solchen Namen war Bernhard-Viktor "Vicco" Christoph-Carl von Bülow ja quasi in die Wege gelegt, dass er sich später a) einen Spitznamen zulegen und b) über Deutsche lustig machen würde. Das Wappen der von Bülows zeigt einen Pirol, denn der macht ein Geräusch, das ungefähr so klingt: Bülow, bülow. Auf Französisch heißt der Vogel Loriot. Und diesen Namen wählte Bernhard-Viktor zum Künstlernamen und wurde mit ihm der bedeutendste Vertreter, tote Vertreter, der bedeutendste toteste, also nicht mehr lebendige Vertreter deutscher Comedy.
Nun ja, erst einmal musste er einen Krieg überleben. Und dann eine Zeitschrift finden, die seine Comics mit Knollennasenmännchen drucken wollte, obwohl da so furchtbar provokante Dinge zu sehen waren wie nackte Frauen oder Hunde, die Menschen an der Leine führen. (Was damals halt provokant war - heute schwer vorstellbar. Also außer, man lebt in den USA.)
So einen unvergesslichen Künstler ehrt man natürlich nicht, indem man eine Statue vom Künstler selbst aufstellt, sondern von seinen Figuren. Vor dem Rathaus sitzt ein lebensgroßer Mann mit Knollennase. Und wer die halbe Altstadt auf einem wunderbaren Uferweg umradelt, entdeckt dort (neben viel Grün, Booten und Bootshäusern) einen zweiten. Die Plastikmänner sehen den Zeichnungen jetzt nicht soo ähnlich und scheinen frisch aus dem 3D-Drucker zu kommen. Ältere Fotos deuten darauf hin, dass sie ähnliche Männchen aus Holz ersetzt haben.

Viel besser hat uns die zweite Hommage gefallen, die erst nach Loriots Tod entstanden ist. In einem seiner Sketche parodiert er eine Naturdoku, laut der Möpse im Prinzip Rentiere sind, denen die Nase und das Geweih weggezüchtet wurden. Das erkennt man daran, dass in deutschen Wäldern noch heute der scheue Waldmops mit einem kleinen Geweih herumstolziert.
Seitdem hat sich einiges verändert. Der Waldmops hat sich an urbane Lebensräume angepasst und seine Scheu den Menschen gegenüber abgelegt. In Brandenburg liegt er in Parks, besteigt Brunnenmauern, trinkt aus Pumpen und pinkelt gegen Steine.

"Ha! Da ist noch einer!"
"Den habe ich gerade schon gesehen."
"Mist. Aber da!"
Wir machten einen richtigen (vertrauensbasierten) Wettkampf daraus und durchkämmten die Straßen und Parks - Ostern ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos. Eigentlich wurde die Mopssuche für uns zur wahren Ostereiersuche. Und die ist gar nicht so einfach, denn manche Metallmöpse lungern in versteckten Heckenecken. Es soll schließlich eine Herausforderung werden. Im Online-Stadtplan zeigt die Stadt ihre Möpse deshalb ganz bewusst nicht einzeln, sondern verrät nur, wie viele man auf jeder Insel jedem Mopsareal finden kann (12 in der Altstadt und jeweils 5 in der Domstadt, östlichen und westlichen Neustadt).
Wer trotzdem schummeln will, für den hat der Jüngste einen Tipp: "Guck doch auf Google Möps!"

Havel: Von Spandau nach Potsdam

Havelgeschwafel VI: Die Prachtparks
Die Prinzessin auf der Elbe - Badehosen und Völkermord - Liebling, ich habe die Filialen geschrumpft - Die schönste Parkstadt - Das komplizierte Verhältnis zwischen Platten, Pedalen und Potsdamer Parks und wie man es umgeht - Mr Potatoe und sein privater Palast

Die zweite Havelstavel begann mit einem Wettrennen. Auf dem Uferweg hinter Spandau fuhren wir einem superschicken Schaufelraddampfer hinterher, der Elbe Princesse 2, die sich offenbar ein bisschen von ihrem ursprünglichen Fluss entfernt hatte. Statt durch das Elbsandsteingebirge tuckerte sie umher zwischen Wohnvierteln, Sportboothäfen und einem mysteriösen dreieckigen Gebäude, dessen Zweck wir nicht ergründen konnten. Es gelang uns ziemlich mühelos, sie zu überholen.

Kurz hinter Spandau wird die Havel wieder breiter.

Havelsee Nr. 30: Scharfe Lanke (kurz am Radweg)
Havelsee Nr. 31 Stößensee

hängen dort mit einem Ende jeweils links und rechts am Fluss dran.

Auch wenn das zwischenzeitliche Zickzack durch die Spandauer Straßen stressig war, fuhr sich diese Etappe insgesamt schon gut. An einer Stelle wurde extra für die Radfahrer ein Seitenstreifen auf dem Kopfsteinpflaster glatt abgeschmirgelt, obwohl die dort nur ein ganz kurzes Stückchen drauf fahren müssen. Dann tauchten wir allmählich ein ins Gründe und in die Landschaft, die den heutigen Tag prägen würde.
Wir radelten wie der Wind nicht durch den Grunewald geschwind, denn der befand sich am anderen Ufer, aber definitiv durch irgendeinen Wald.

 An der uferprämonade von Kladow mussten wir die Verfolgung der Elbe Princess leider endgültig aufgeben: Sie verschwand um die Ecke, während wir noch eine halbe Stunde auf die Wannseefähre zu warten hatten. Dieses Schiff der BVG brummt von morgens bis abends stündlich über

Havelsee Nummer 32: Großer Wannsee

Gleich hinter dem Steg liegt die Insel Imchen, ein ganz überwachsenes, unbewohntes Naturschutzgebiet(chen).

Einen Kaffee später legte sie auch schon an, eine Großraumfähre mit Platz für 60 Fahrräder, die mich an die städtischen Fähren von Kiel erinnert hat.
Ich hatte meine Badehose eingepackt und zwar kein Schwesterlein, aber zumindest mein kleines Brüderlein dabei. Doch das Nieselwetter lud so überhaupt nicht zum Baden ein, also fanden wir es ganz in Ordnung, dass die Fähre ohne Zwischenstopp am Strandbad vorbeifuhr.

Genau gegenüber findet sich die vollkommen andere Assoziation, die ich bisher mit dem Wannsee hatte: Eine unscheinbare graue Villa, in der ein bis dahin einzigartig industrieller Völkermord beschlossen wurde. Komisch, ich hatte mir das Haus immer weiß vorgestellt.
Am 20. Januar 1942 lud Reinhard Heydrich einiger Obernazis in die Villa zu einem Meeting. Wegen des Krieges war das mit dem Reisen sehr schwierig, und so funktionierte die frühere Strategie, Juden durch Unterdrückung aus Deutschland herauszuekeln, überhaupt nicht mehr. Also verlegten sie sich auf Massenmord. Den hatten sie zwar schon begonnen, aber während der Wannseekonferenz koordinierten sie ihn für ganz Europa und beschlossen endgültig, dass jedes einzelne Leben ausgelöscht werden musste. Es ist seltsam, das hier in diesen Beitrag in wenigen Sätzen dazwischenzuschieben, aber es wegzulassen, fühlt sich auch nicht richtig an.

Die Fähre verlässt die Havel und steuert hinein in die Spitze des ungefähr dreieckigen Sees. Nachdem wir uns am Ziel durch Baustellen durchgeschlängelt hatten, radelten wir gleich wieder in den Potsdamer Wald über ein paar Hügel auf der autofreien Straße, auf der uns vollkommen unerwartet ein Doppeldeckerbus entgegenkam.

Auf das Wasser trafen wir erst wieder an der Pfaueninsel. Eine Fähre pendelt rüber zum ersten der vielen Potsdamer Schlösser. König Friedrich Wilhelm II. nutzte es, um mit seiner Geliebten Wilhelmine Encke "zu zweit allein zu sein". (Na, hoffentlich hatte die Königin eine Extrainsel, und zwar in gewissem Abstand.) Allein heißt in dem Fall: Zusammen mit 850 Tieren in Gehegen, deren Nachkommen heute im Berliner Zoo leben. Außer die Pfauen, die durften natürlich auf der Pfaueninsel wohnen bleiben.
 
Buhnenreihen glucksen hinter dem Schilf vor sich hin, und ein halb asphaltierter, halb erdiger Radweg folgte dem steilen Waldufer. Unsere Mutter rätselte, ob dort Bärlauch wuchs, obwohl das die eindeutigsten Maiglöckchen waren, die man sich vorstellen kann.

Havelsee Nummer 33: Jungfernsee

kannte ich schon von der Berliner Mauertour.
Also begnügten wir uns mit einem kurzen Blick zur Sacrower Heilandskirche und der Glienicker Geheimagentenbrücke, ehe wir die Reise über zu rutschiges Kopfsteinpflaster durch den Babelsberger Park fortsetzen.
Hier reiht sich nun Schloss an Schloss, Ruine an historisches Portal... Moment mal, das da drüben ist ja gar kein Schloss, nur ein Dampfmaschinenhaus. In dieser prächtigen Burg wurde gerade mal das Wasser über die Parkanlagen gepumpt, und der Hofmarschall hatte da drin noch eine repräsentative Wohnung. Wie müssen dann erst die richtigen Schlösser aussehen?

Der Stadtteil Babelsberg beginnt erst hinter dem Park und wurde für seine Filmstudios bekannt. Im freizeitparkartigen Filmpark Babelsberg steht unter anderem der originale Löwenzahn-Bauwagen. Aber dafür, dass man in den Bauwagen nicht mal rein kann, war der uns dann doch zu weit weg und zu teuer.

Havelsee Nr. 34: Tiefer See

Mit einem Mal wurde es am anderen Ufer immer moderner, und schließlich kamen wir an einem kurzen Havelkanal in Potsdam heraus, direkt zwischen Hauptbahnhof und Brandenburger Landtag. Dieser Landtag befindet sich im alten Stadtschloss. Boah, was für eine eindrucksvolle Säulenkuppel, das sieht wirklich nach einem Ort aus, an dem geherrscht wird, wie ein Kapitol (wahlweise das römische, panemsische oder valyrische). Obwohl, nee, Moment, die Kuppel gehört zur Nikolaikirche und nicht mehr zum Landtag, der erstreckt sich bloß in dem rosaweißen Schlosskasten davor. Auch beeindruckend, aber da ist das Schweriner Schloss doch schöner.


Eigentlich war Potsdam lange eine unwichtige Stadt, bloß die südöstliche Ecke der Mark Brandenburg. Das änderte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm im 17. Jahrhundert. Ihm wurde es in Berlin anscheinend zu voll, denn er kaufte die ganzen Stadtgebiete auf und machte Potsdam neben Berlin zu seiner zweiten Residenz. Der Soldatenkönig Friedrich I. holte total viele Soldaten in die Stadt. Die Bewohner waren eventuell nicht so begeistert, denn sie mussten Soldaten in ihren eigenen Häusern unterbringen. Für das Stadtbild und die Wirtschaft ging es aber steil nach oben.
Wie Kassel ist Potsdam eine Stadt der großen Parks, mit dem großen Unterschied, dass sich zwischen diesen Riesenparks auch eine sehenswerte Innenstadt erstreckt. Die Fußgängerzone zwischen der St.-Peter-und-Paul-Kirche und dem Brandenburger Tor (kleiner und gelber als das in Berlin) besteht aus überraschend niedrigen Geschäften.

Diese sympathische Einkaufsstraße zwingt selbst große Ketten wie Thalia dazu, sich klein zu machen, als wären sie ein ebenso bescheidener Kleinbetrieb wie Vit's Bücherwelt oder Internationales Buch. Sogar Ikea (rechts im Bild) hat sich auf 1 Prozent seiner üblichen Größe geschrumpft.

Friedrich Wilhelm I. a.k.a. der Soldatenkönig interessierte sich 1734 zur Abwechslung mal nicht für Soldaten, sondern für holländische Handwerker. Die hatte er gerade umgesiedelt, und damit sie sich wie zu Hause fühlten, ließ er ihnen 150 Backsteinhäuser bauen. Nirgendwo in Europa findet man so viel niederländischen Stil auf einmal, also außer in den Niederlanden natürlich.
Und tatsächlich: Im holländischen Viertel fühlten wir uns wie in Holland. Und offenbar hatten am Karsamstag extrem viele Menschen Lust, sich wie in Holland zu fühlen. Also drängten sie sich zwischen den kleinen Geschäften, Klinkerbauten und blumenbunten Baumscheiben hindurch zu einem köstlichen Restaurant ihrer Wahl. Wir entschieden uns für den Fliegenden Holländer, der zwar nichts erkennbar Holländisches servierte, dafür aber Leckeres. (Böse Zungen sagen, das schließe sich gegenseitig aus.)

Nun aber zurück zu den Parks und Schlössern. Achtung, die sind für Radfahrer nur eingeschränkt offen: Es gibt in der Regel einen oder zwei zentrale Wege, auf denen man Rad fahren darf, und auf allen anderen Wegen ist nicht einmal das Schieben erlaubt. Was in den Parks an der Havel kein Problem war, weil dieser eine Radweg optimal direkt an der Havel verlief. Als wir aber den weiter entfernten Park Sanssouci ansteuerten, wurde es schwieriger. Theoretisch gibt es eine Fahrradrunde einmal durch den Park. Praktisch entpuppte sich der ganze nördliche Teil dieser Runde als Autostraße, an der sich zwar eine Windmühle dreht, die aber nicht mehr wirklich Teil des Parks ist, und auf der man bis ganz hinten durchfahren muss, um in den richtigen Park reinzudürfen.

Was suboptimal ist, wenn ausgerechnet in dem Moment das väterliche Fahrrad einen Platten bekommt und man diese paar Kilometer plötzlich schieben muss, weil man ja auch mit dem platten Rad keine Abkürzung quer durch zur Fahrradstraße im Süden des Parks nehmen darf. Zum Glück entdeckten wir irgendwann ein Schild, das zwar Radfahren, aber nicht das Beisichführen verbot. Wahrscheinlich haben Sie einfach das falsche Schild aufgehängt, aber wir nutzten die Regelungslücke (argumentum e contrario) aus und bekamen keinen Ärger dafür.
An der Fahrradstraße steht ein chinesisches Teehaus. China war damals wie heute weit weg und damit exotisch, also interessant, auch ein Gästezimmer im Schloss ist chinesisch thematisiert. Ob die mit dem damaligen China mehr gemeinsam hatten als heutige Asia-Restaurants, sei mal dahingestellt.

Der Anblick des barocken Parks im Regen entschädigte ein bisschen für die Hindernisse. Der Park ist barocker, heckiger und künstlicher als die Parks an der Havel. Vor allem die Sichtachse den Weinberg rauf zum Schloss Sanssouci war wirklich ein befriedigender ästhetischer Anblick. Oder wie es mein kleiner Bruder formulierte: "Mein innerer Monk ist glücklich." Auch wenn zur Zeit des Rokoko noch niemand den Ausdruck Innerer Monk kannte, bin ich der festen Überzeugung, dass er die wahre Motivation hinter solchen symmetrischen Sichtachsen wunderbar beschreibt.

Aber wir wollten - nicht nur aufgrund des klammgrauen Wetters - auch irgendwo reingehen in dieser geschichtsträchtigen Stadt. Und wir hatten uns für das Schloss Sanssouci entschieden. Zum ersten Mal habe ich von diesem Schloss im Brettspiel Finden Sie Minden gehört, wo ich zu meiner Schande nicht sagen konnte, in welcher Stadt es sich befand. Meine Mutter hingegen war in ihrer Oberschule lang und breit davon vorgeschwärmt worden. Ihre Erwartungen konnten also nicht höher sein. Das war nicht gut. Denn je näher wir kamen, umso mehr verblasste der Glanz. Die Wände waren abwetzt, an den Fensterrahmen splitterte die weiße Farbe ab und die grauen Säulen färben sich allmählich abgasschwarz. Der Potsdamer Postkutscher mag den Potsdamer Postkutschkasten putzen, doch die Stelle als Potsdamer Schlossschmutzputzer ist wohl schon länger vakant. So weit wie mein Bruder, der das mit einem "Plattbau aus der Vorzeit" verglich, würde ich aber nicht gehen.

Die komischen grünen Drahtkästen ums Schloss waren von keinerlei Pflanzen bewachsen und damit als Regenschutz leider höchst ungeeignet. Als wir nach einer vollständigen Umrundung des Schlosses an mehreren Eingängen und Shops abgewiesen wurden, und dass wir den gesamten Berg wieder runter laufen und klären mussten, um überhaupt Tickets zu kaufen, dachten wir daran, doch lieber auf ein anderes Potsdamer Museum umzusteigen. Bis wir das erreicht hatten hätten, hätte es womöglich längst geschlossen, also zogen wir Sanssouci trotzdem durch.

Das war auch gut so, denn von innen kehrte der Glanz dann doch zurück. Das überraschend kleine Schloss besteht im Prinzip aus einer Kette von 11 Räumen, jeder mit einer Nummer im Audio Guide. In denen wohnte kein anderer als Friedrich Wilhelm II. a.k.a. Friedrich der Große a.k.a. der Kartoffelkönig a.k.a. ein Kriegsverbrecher (Quelle: Polen, der Audioguide erwähnte nur ganz beiläufig, dass er "den Staat um polnische Gebiete erweiterte"). Ein fortschrittlicher, aber maximal undemokratischer König mit einem so umfangreichen Leben, dass wir im Geschichtsunterricht eine lange Pro-Contra-Tabelle über seine Taten erstellen mussten. Das ist im Zweifel immer ein besserer Ansatz für amivalente Persönlichkeiten, als sie einfach nur in die Schublade Gut oder Böse zu stecken.
Der Name "ohne Sorge" stellt gleich klar: Dieses Schloss hier war Friedrichs privater Rückzugsraum für den Sommer, offiziell und im Winter lebte er im Potsdamer Stadtschloss. Aber beim König von Preußen gelten sogar für einen privaten Rückzugsraum gewisse Maßstäbe, wie er den einzurichten hat, die Gemälde welcher italienischer Meister aufzuhängen sind und dass ein paar Deko-Sofas (schon damals nicht zum hinsetzen!) an die Wände zu stellen waren.
Damit auch alle sehen konnten, dass er diese Maßstäbe einhielt, konnte man das Schloss besuchen, wann immer der Fritze nicht da war. Es gab schon zu Lebzeiten des Königs gedruckte Schlossführer. Und später wurde es eins der ersten Schlossmuseen Deutschlands.
In diesem grünen Zimmer schlief der Fritze und schrieb Briefe an seinem Schreibtisch (rechts). Und im selben Raum verbrachte er seine letzten Tage im Sessel (links), so krank, dass er sich nicht mal mehr hinlegen konnte. Ein dramatisches Gemälde der Sterbeszene hängt im selben Raum.

Der Audioguide erklärt das alles sehr schön, kompakt und mit passender Musik, auch wenn wir von diesem Gerät eher in der Masse rasch durch die Räume durchgeschleust wurden. Mein kleiner Bruder wurde am Eingang gefragt, ob er den Kinder- oder schon den Jugendaudioguide haben wolle. Natürlich wählte er den Jugendguide. Und beschwerte sich hinterher, der habe auf äußerst cringe Weise mit Jugendsprache um sich geworfen, um den Alten Fritz möglichst fresh erscheinen zu lassen.

Ein Großteil des Schlosses ist aber eine lange Flucht an Gästezimmern, in denen Friedrichs Gäste aus Europa pennten, der berühmteste unter ihnen war wohl Voltaire (der nicht im Voltairezimmer schlief, obwohl das extra nach ihm benannt wurde, frech). Friedrich interessierte sich für Literatur und Musik und spielte den Gästen sogar war auf seiner Flöte (rechts auf dem Klavier) vor.

Und auch Architektur fand er spannend. Zum Leidwesen seines Architekten Georg Wenzelslaus von Knobelsdorff, dem er seinen eigenen Erstentwurf für das Schloss in die Hand drückte und dann immer wieder mit eigenen Extrawünschen um die Ecke kam. Jeder weiß: Solche Auftraggeber sind die nervigsten.
Der Stil wird Friderizianischer Rokoko genannt. Genau wie beim Barock ist alles total übertrieben viel verziert, aber nicht einfach nur so, sondern die Muster sollen die Natur nachahmen. In den meisten Räumen heißt das einfach: Das Wort Blattgold ist sehr wörtlich zu nehmen. Aber in diesem Dschungelzimmer ranken sich bunte Blüten über die Wände, Reiher und Papageien staksen herum und Affen schwingen sich von Ecke zu Ecke. Quasi ein früher Vorläufer des Tropical Islands.
Übrigens gibt es da auch noch ein Liebeszimmer voller Gemälde mit mythologischen Liebesszenen, bei denen für alle weiblichen Gestalten striktes Oberkörperbekleidungsverbot gilt. Das Zimmer ist quasi ein Fleisch gewordenes Argument gegen die Theorie um Friedrichs Homosexualität. Aber das Gegenargument folgt sofort: Die Königin hatte auf Sanssouci kein Zimmer, sie musste leider draußen bleiben.


In unserem Potsdamer Hotel fragten wir nach, wo wir die Räder abstellen können. Ganz einfach, in der Tiefgarage ist ein ziemlich großes zweistöckiges Fahrradständer-Gebilde, schieben Sie einfach durch die Lobby zum Aufzug. Echt jetzt, mit den schlammigen Reifen über den frisch geputzten Boden in den Fahrstuhl? Das haben wir so auch noch nie gemacht, aber meinetwegen, ist ja echt nett gegenüber Radfahrern.
Wie wir später feststellten, gab es auch gar keinen anderen Weg: Die Schranke der Tiefgarage akzeptierte uns nicht als Fahrzeuge und weigerte sich, hochzugehen.