Die Expeditiohm
Verehrte Freunde,
ein weiteres Geheimnis ist gelöst, ein weiterer weißer Fleck von der Landkarte unseres Reiches getilgt. Gewiss erinnert ihr euch an meine Eder-Expedition, während der ich erstmals Hinweise auf den Fluss Schwalm entdeckte. Und gleich zu Beginn Schwalm-Safari wiederum begegnete ich zum ersten Mal der Ohm. Diese wollte ich nun also heute genauer untersuchen (wobei ich prompt Hinweise auf den nächsten Fluss, die Nidda, entdeckte).
Die Ohm entspringt im Vogelsberg, und von all den Flüssen liegt sie der Stadt Ulrichstein am nächsten. Kurz hinter den verwaisten städtischen Sportstätten stoße ich auf die Quelle, eingezwängt zwischen zwei Zäune und weite Weiden. Ein gemauertes Hufeisen mit einem steinernen Rohr, aus dem träge das Wasser einer Drainage tröpfelt. Bei Regen liefert der Graben links zusätzliches Wasser. Dahinter eine verlassene, verschlossene Holzhütte. Wer mag hier wohl gelebt haben, und warum trat er die Flucht an? Lange kann es noch nicht her sein, denn das Bauwerk ist nicht übermäßig verwahrlost. Womöglich handelt es sich schlicht um die Behausung eines Hirten oder Eremiten, welcher bereits wie jedes Jahr für die kalte Jahreszeit in wärmere Gefilde gezogen ist.
Kurz darauf kreuzt das junge Gewässer den Judenpfad, welcher speziell zur Dokumentation der jüdischen Geschichte der Region angelegt wurde. In Ulrichstein erhielten ursprünglich nur sechs Juden die Erlaubnis, sich anzusiedeln.
Die Ohm ist nicht gerade ein reißender Fluss, sondern eher scheu, verbirgt sich sogleich im Grün und lässt zwar ihren Verlauf deutlich ahnen, zeigt jedoch so gut wie nichts von ihrer Wasseroberfläche. Nach einem Kilometer ersetzt er den Weidezaun durch eine Leitplanke und gräbt sich allmählich tiefer ins Tal ein.
Neuerdings wird ist das Wasser auch unter dem Namen Ohm, sweet Ohm bekannt (auch ein Kulturfestival nennt sich so), obwohl Aufzeichnungen zufolge ihre Hochwasser alles andere als süß sein können. Weiter stromabwärts wird sie auch in einfallsloser und grammatisch fragwürdiger Weise die Bach genannt. Der tatsächliche Name ist auch nicht viel originelleren Ursprungs: In alten Karten entdeckte ich den Namen amana (Wasser).
Innerorts lösen graue Mauern die Leitplanken ab, welche mir aus ganz Mitteldeutschland mittlerweile hinreichend vertraut sind. Im Ohmtal wird zur Verschönerung die Rote Kanalblume genutzt. Sie leuchtet intensiv, auch wenn ich zugeben muss, dass die Farbenpracht der Kanalblumen an der Schwalm vielfältiger war.
Diese kanalisierte Ohm bahnt sich sogar ungerührt ihren Weg unter Wohnhäusern hinweg. Ach nein, Unsinn, einer Landkarte entnehme ich, dass es sich bei diesem Bauwerk keineswegs um ein gewöhnliches Haus handelt, sondern um die Wasserburg Unter-Seibertenrod. Schau einer an! Für mich schaut sie mehr nach Wasser als nach Burg aus.
Vom Judenpfad komme ich nun auf den Lutherweg. (Bleibt zu hoffen, dass die beiden sich nicht kreuzen.) Martin Luthers Tagebüchern zufolge floh er auf dieser Strecke von Worms auf die Wartburg. Wenn ihm unterwegs nach einer Predigt war, standen ihm dazu adrette Kirchen zur Verfügung. Unter den obersten Schichten der uralten Wänden entdecke ich Spuren von Wandmalereien aus dem 14. Jahrhundert, welche noch einer genaueren Untersuchung bedürfen.
Unter den alten Dokumenten der Gemeinde entdecke ich eine Kopie der Riedeselschen Kirchenordnung. Sie stammt aus der Zeit, als der Landesherr Hermann IV. Riedesel die Reformation durchsetzte. Das Dokument ist derart abgegriffen und häufig von Hand zu Hand gegangen, dass ich davon ausgehen muss, dass es ernsthaft und in allen Details angewendet wurde - sogar die Gottesdienstpflicht? Mussten tatsächlich alle Bewohner der umliegenden Dörfer sonntags unter Androhung von Strafe in der Kirche von Ober-Ohmen erscheinen? Das Kirchenschiff scheint zwar zunächst groß genug, doch entdecke ich am Turm den Abdruck eines älteren Schiffs. Zu Beginn der Gottesdienstpflicht kann der Platz keinesfalls ausgereicht haben. Das erklärt, warum in der Dorfchronik von qualvoller Enge und lautstarkem Streit um Sitzplätze die Rede ist.
Doch die Natur lockt mit Weite und saftig grünen Wiesen, während das Land zunehmend flacher wird.
Ein faszinierendes Phänomen springt mir ins Auge: Eine Herde Kühe folgt einer landwirtschaftlichen motorbetriebenen Maschine gefügig in einer Reihe. Ihr Verhalten ähnelt eher dem eines Kalb, welches dem Anführer seiner Herde oder einem Muttertier folgt. Betrachten Sie das leblose Fahrzeug aus lebendes Tier? Äußerlich scheint es nicht viel Ähnlichkeit mit einem Hausrind zu haben. Wie ist es dem Bauern nur gelungen, eine solche Bindung zwischen Traktor und Tier herzustellen?
Das obere Ohmtal ist an den Seiten von lichten Laubwäldern bewachsen. Um diese zu sehen, verlasse ich das Tal und wähle eine steilere Abkürzung über einen der Hügel, während das Tal gen Norden abknickt.
Nieder-Ohmen begrüßt mich mit einer außergewöhnlich sauberen Bahnstation mit dem Aussehen von frisch gewaschener Bettwäsche einer Jugendherberge.
Nicht nur der Fluss, auch die Gleise erhalten prompt ein Flussbett aus grauen Mauern.
Die Bahnstrecke hat unmittelbare Auswirkungen, und so ist das mittlere Ohmtal erheblich dichter besiedelt. Allerdings auch erheblich hügeliger. Nachdem ich den Fluss überquert habe, geht es einige Anhöhen hinauf.
Von dort erblicke ich auch schon die Burg inmitten der Ansiedlung mit dem exzentrischen Namen Burg-Gemünden, unweit der Mündung der
Felda. Neugierig wage ich mich an den Aufstieg und folge der Felswand hinauf. Schlingpflanzen in allen drei Farben der Verkehrsampel begleiteten mich. Sollte die Straße noch steiler werden, überlege ich, könnte ich mich an ihnen festhalten. Dies war jedoch glücklicherweise nicht nötig.
Zunächst stoße ich auf eine hölzerne Pforte, welche, zur Hälfte offenstehend. offenbar in den ehemaligen Burgkeller hinabführte. Von unten steigt der Duft nach Geheimnissen hinauf. Ihr kennt mich, das einfache Geländer hätte mich wohl kaum aufhalten können. Doch da am Fuße der Treppe Feldsteine in einem Muster liegen, das unverkennbar auf einen kürzlichen Deckeneinsturz schließen lässt, nehme ich vom Betreten dieses Kellergewölbes doch lieber Abstand.
Was ist denn sonst noch geblieben von der Burg? Offenbar nur die Kirche, ein Friedhof und dessen Friedhofsmauer.
Doch was ist das? Großflächige Absperrungen, ein Wagen vollbeladen mit großen Edelstahlbehältern, und zwei Männer in rätselhaften Ganzkörperanzügen mit Schläuchen in den Händen, welche soeben aus der Kirche treten? Da mag ihr Wagen noch in so unauffällig weiß sein, ihre Ausrüstung verrät sie: Das müssen Kammerjäger sein. Welche Schädlinge sich wohl in der Kirche ausgebreitet habe? Bibelwürmer? Gebetwanzen? Oder gar die gefürchteten Glockenpocken?
Ein weiterer Waldhügel führt mich zum nächsten Wald, über ein Feld leuchtend gelber und lilafarbener Blumen.
Denn das Ohmtal wird nun wieder schmaler, schüttelt die Bahntrasse und alles Menschliche ab bis auf eine breite Straße, auf die ich mich wegen des starken Verkehrs nicht wage. Dichte Bäume hüllen die Ohm ein und bilden das Naturschutzgebiet Ohmaue/Igelshain. Ihre Spitzen leuchten orangefarben im Abendlicht. Aber auch nur im Abendlicht. Ansonsten lässt der Herbst farblich noch auf sich warten.
Gleich hinter diesem Flaschenhals weitet sich das Ohmtal, welches anscheinend eine Vorliebe für Gegensätze hat, zu einer umso breiteren Ebene. Dennoch zeigt der Fluss gerade jetzt wildere Stromschnellen. So richtig werde ich aus der Ohm nicht schlau.
In der Ferne ragen die Felswände auf, fast völlig verdeckt von der Stadt. Dennoch lässt die Farbe recht eindeutig auf Basalt schließen. Doch derart weit flussabwärts kann eine solche Felswand nicht auf natürlichem Wege entstehen, wo ich doch nicht einmal oben in den Bergen etwas Vergleichbares gesehen habe. Es muss sich also um einen künstlichen Steinbruch gehandelt haben. Bei dieser Größe muss er etwa 40 Mitarbeiter umfasst haben, deren Arbeitsbedingungen nicht leicht gewesen sein dürften. Allein schon der Arbeitsweg... ich werde dort nicht für weitere Untersuchungen hinauffahren.
Steil wird mein Weg jetzt nur noch, wenn ich eine Stadt besuchen möchte.
Denn so flach das Land auch sein mag, die Städte haben sich alle auf die Hügel zurückgezogen und lassen ihre Burgen und Kirchtürme von dort misstrauisch hervorschauen. Gleich hinter der Engstelle starrt mich Homberg an, die erste Stadt in diesem horizontalen Stil.
Ich überlege kurz bis ganz nach oben in den Stadtkern zu fahren. Doch sehe ich schon, wie Dampf aus den Fenstern aufsteigt, weil die Einwohner bereits ihr Pech und Blei erhitzen, das sie auf jeden Eindringling gießen. Ich beschließe, sie nicht herauszufordern.
Ein furchtsames Volk scheint in diesem Tal zu leben.
Und eines mit exzentrischem Geschmack in Sachen Gartengestaltung. Wer stellt sich eine vollständige Straßenbahn in den Schottergarten? (Andererseits: Immer noch schöner als der Rest des Gartens.) Ein sentimentaler Straßenbahnfahrer im Ruhestand? Oder ein exzentrischer Millionär mit dem Wunsch nach einem ganz besonderen Privatbeförderungsmittel?
Nach Judentum und Protestantismus widmet sich ein dritter historischer Pfad nun den Ursprüngen der größten gegenwärtigen Weltanschauung, dem Liberalismus. Den Chroniken zufolge kam einer ihrer Väter im Orte Ofleiden an der Ohm zur Welt und machte an diesen Ufern seine ersten Schritte. Ihm zu Ehren wurde der Welcker-Wiesen-Weg angelegt, inklusive einer modernen Fußgängerbrücke. Welcker spielte eine wichtige Rolle beim Hambacher Fest und der Paulskirchenversammlung. Und wie dankten ihm seine Zeitgenossen für diesen Beitrag zur Zukunft? Sie versetzten den Rechtsprofessor lieber vorzeitig in den Ruhestand, denn er war ihnen unheimlich.
Erstmals kann ich nun unmittelbar dem Flussufer folgen und das Wasser betrachten.
Anders als ihr Name suggeriert, leistet die Ohm auch keinen Widerstand mehr gegen die Ausbeutung ihrer Wasserkraft. Auf meiner Reise entdeckt ich keine Wassermühlen mehr, jedoch die Überreste von Wehren, die einst zu solchen gehört haben könnten. Insgesamt zähle ich 26.
Anderen Aufzeichnungen am Welcker-Wiesen-Weg zufolge sollen es sogar 40 Mühlen gewesen sein, von denen einige sogar noch in Betrieb sein sollen. Nun, zumindest dieses eine Wehr scheint noch seinen Dienst zu tun. Mit Beton und giftgrünen Geländern überspannt es gleich die Ohm, den Mühlengraben sowie die Insel dazwischen, staut die Ohm, leitet Wasser bis zur Brücker Mühle, und lässt durch eine Fischbauchklappe sogar die Bewohner des Flusses passieren. Ein modernes Wunderwe(h)rk der Technik, ich vermute, es stammt frühstens aus den 1960er Jahren. Dafür spricht auch, dass ich im Gebüsch noch Spuren eines älteren, starren Wehrs erkenne, das sich nicht regulieren ließ und damit modernen Anforderungen an Hochwasserschutz nicht mehr genügte.
Amöneburg hat sich sogar einen noch höheren Berg ausgesucht. Womit werden mich wohl die Amöneburger von dort oben begießen? Womöglich werfen sie auch Ziegelsteine aus Ton, schließlich ist das ihr wichtigstes Exportgut.
Vorsichtig umrunde ich die Stadt mit großem Abstand. Im Amöneburger Becken wird das Tal sogar noch breiter. Feuchte Mulden, Auen und ein Niedermoor fügen sich zu einer grünlichen Ebene zusammen. Das Schweinsberger Moor gilt sogar als eine der letzten Urlandschaften Mitteleuropas. Ich zähle mehr als hundert Kraniche, welche hier Rast machen - die Zeit des Vogelzugs ist noch nicht ganz vorbei. Doch was sind das für Muster im Gras und Gebüsch? Ausgetrocknete Nebenarme? Ich rätsle eine Weile, bis sich die Linie im Grünen wieder mit dem Fluss vereinigt. Da fällt mir die offensichtliche Antwort ein: Die Ohm wurde begradigt und dann wieder verlängert.
Der Hügel von Kirchhain ist etwas niedriger und verschafft mir Einblick in die hiesige Facharbeit der Fachkräfte. An diesem Ort begegnete ich dem Radweg Deutsche Einheit, welcher der Ohm nun bis zu ihrem Ende folgt. Welches jedoch ohnehin nicht mehr weit entfernt ist.
Tatsächlich sieht die Stadt von außen eindrucksvoller aus als von innen. Eine kurze Untersuchung von Gesteinsproben der Wände ergibt: Abgesehen vom Rathaus ist keines der Häuser auf dem Marktplatz älteren Datums. Bedauerlich. Doch nun weiß ich zumindest, warum ich nicht auch die anderen Städte bezwungen habe.
Doch am bekanntesten ist Kirchhain eigentlich für seine Grünanlagen. Der Anna-Park kommt mit stilvoll grauen Grabmalen daher und wurde vermutlich nach irgendeiner Herzogin Anna benann... ach nein, Moment, Anna war die Frau des Brauereibesitzers? Ihr Mann Heinrich Bopp hatte den Park gestiftet - als ob ein Mann, der die Stadt mit Bier versorgt, noch mehr Beliebtheit nötig hätte.
Wilder wird es am Erlensee, ein Rückzugsgebiet für Vögel, abstrakte Skulpturen und Blinde. Für letztere wurde ein eigenes Leitsystem eingerichtet, inklusive fühl- und lesbarer Landkarte.
In der nächsten Ortschaft verirre ich mich und gelange versehentlich auf die falsche Seite der Bahngleise. Was nun? Ich suche nach dem nächsten Übergang und entdecke schließlich eine Schranke. Sie ist verschlossen, auch wenn weit und breit kein Zug zu sehen ist. Ein Schild weist mich darauf hin, dass es sich um eine Anrufschranke handelte. Irritiert trete ich auf ein gelbes Kästchen zu und drücke einen Hebel. Und nun? Nach einigen unsicheren Sekunden nuschelt die Stimme eines Schrankenwärters aus dem Apparat. Er verspricht, die Schranken sofort für mich zu öffnen, aber nur, sofern ich ihm von der anderen Seite aus zurufe, sobald der Bahnübergang wieder frei sei. Nachdem ich mein Wort gegeben habe, hält der unsichtbare Wächter das seine, und auf seinen Befehl hin recken sich die rotweißen Stangen gen Himmel. Als ich sie passiert habe, rufe ich nach hinten, unsicher, ob das mechanische Kästchen meine Stimme tatsächlich aus dieser Entfernung auffangen kann. Doch anscheinend kann es das durchaus, denn die Schranken senken sich auf der Stelle.
Während das überaus unentschlossene Tal wieder schmaler wird, führt mich meine Reise auf einen der schönsten Abschnitte und durch einige kleine Wäldchen - unten in der Talsohle waren diese bislang eine Seltenheit.
Eines der letzten Wehre hat seine Mühle direkt am Fluss, nicht erst einen Kilometer entfernt. Noch dazu handelt es sich um eine recht beeindruckende Mühle.
Sodann mündet die Ohm in der Nähe von Cölbe in die Lahn. Und nun muss ich leider gestehen: Eben diese Mündung ließ mich vollkommen ratlos zurück. Gemeinsam mit den Bahngleisen und der Straße passiere ich eine Brücke über einen Fluss. Aber welchen? In einem schönen, aber undurchsichtigen Naturschutzgebiet, welches vermutlich in irgendeiner Weise renaturiert wurde, scheitere ich in demütigender Weise an der geographischen Gegebenheiten. Welcher Fluss ist das nun, den ich überquert habe? Hier ein Wehr, da ein paar großzügig grün bewachsene Kiesinseln, dort ein Kiesstrand, aber an welchem Gewässer? Ist die Mündung links oder rechts? Die Bäume verdecken das meiste, und auch Waldwege scheint es kaum zu geben.
Womöglich werde ich das Rätsel ja lösen, wenn ich auf während einer Lahn-Expedition erneut hier vorbeikomme. Denn schon wieder bin ich auf zwei neue Flüsse gestoßen - das Abenteuer nimmt und nimmt einfach kein Ende. Zum Glück!
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