NEU! Unterirdische Radtour auf Schienen für kleine Menschen

Harz: Von Netzkater in den Rabensteiner Stollen

04 August 2021

Hunte: Von Lemförde nach Melle

Der Dinosaurier im Schlamm

Donnerstagvormittag. Stehe am Bahnhof Lemförde und starre mürrisch auf eine Treppe. Die Treppe starrt mürrisch zurück, also quasi. Bei Treppen lässt sich das ja nur schwer ein Gesichtsausdruck erkennen. Muss ich das Rad da jetzt wirklich runterschleppen? Natürlich muss ich, was frage ich auch so blöd.

Als ich den ersten Treppenabsatz erreiche, tut sich plötzlich eine Öffnung in der Mauer auf. Anders kann ich es nicht beschreiben. Der Bahnhof hat also doch einen Hintereingang! Und zwar den kleinsten und unauffälligsten Hintereingang, den je ein Bahnhof hatte. Das Mauseloch unter den Bahnhofseingängen. Wer den wohl benutzt? Wahrscheinlich ausschließlich Feldmäuse: Als ich zögerlich durch die magische Mauer trete, stehe ich nicht in der Winkelgasse, sondern auf einem niedersächsischen Acker. Ein Feldweg windet sich um einen Busch und verschwindet ins Ungewisse. Bin ich hier richtig? Gucke aufs Handy: Ja, das Mauseloch geht genau in die Richtung, wo ich sowieso hinwollte. Das magische Mauseloch hat mich vorm Treppenschleppen gerettet.

Und ermöglicht mir, direkt in die erste Sehenswürdigkeit zu holpern. Das Ochsenmoor wird bis in den Spätsommer hinein über ein Grabensystem gestaut und bietet ein Mosaik aus Wasser- und unterschiedlich stark bewachsenen Schlammflächen. Na gut, ob so ein Mosaik  wirklich so sehenswürdig ist wie die antiken Mosaike in den Ruinen von Pompeji, darüber kann man sicher streiten. Zumindest die Karte vom Hunteradweg hat es ganz unten am Rand noch als Sehenswürdigkeit markiert. Hunderte von Wasser- und Watvögeln machen auf dem Weg nach Skandinavien Halt, um Nahrung aufzunehmen... ach so, also im Prinzip wie beim Dümmer See nebenan, die Vogelraststätte hat quasi einen Anbau.

Wenn die Karte zu Ende ist, was mache ich hier eigentlich? Gute Frage, denke ich, während das nächste Mosaiksteinchen an mir vorbeizieht, das immer noch mehr nach Acker als nach Moor aussieht. Auf der App mapy.cz habe ich entdeckt, dass die Hunte doch noch eine richtige Quelle hat und dass irgendwelche Radwege da hinführen, oder zumindest in die Nähe. Nicht der Hunteradweg, sondern irgendwelche anderen: Der Brückenradweg Bremen-Osnabrück, die Seen-Tour, die Dümmer-Moortour und, vielleicht Deutschlands bescheidenster Fahrradweg, die Gute Route.

Denke mir: Tja, Brücken, Moor und Seen, viel mehr ist hier auch nicht, oder? Doch, ein Fluss! Bin überrascht, wie breit die Hunte immer noch ist. Kein Wunder, dass sie früher mal zur Grenze zwischen den Bistümern Osnabrück und Minden bestimmt wurde. Fahre auf einer Brücke rüber und entdeckte einen super Kiesweg direkt am Wasser.
Einen Wanderweg.
Aber ohne einen einzigen Wanderer.
Hm.
Kann ich da nicht einfach...?
Noch vor ein paar Jahren wäre ich da wahrscheinlich raufgefahren. Aber plötzlich blitzen vor meinen Augen unzählige Internet-Kommentare auf, in denen wütende Menschen Radfahrern, die sich ja praktisch nie an die Regeln halten, die Pest an den Hals wünschen. Ich denke an Berlin, wo gerade alle neuen Radwege gecancelt wurden. Wenn da jetzt doch einer wandert und meinetwegen auch so was schreibt? Ui. Eigentlich wollte ich nur eine Runde fahren, und auf einmal lastet das Schicksal des Planeten auf meinem Gepäckträger, also quasi. Es wird ja durchaus öfter darauf hingewiesen, dass das Lesen von Kommentarspalten ungesund sein kann. Aber dass es zu chronischen Umwegen führt, wurde mir bisher verschwiegen.

Drehe also eine Runde durch die Dörfer und entdecke einen Friedhof. Deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegen hier friedlich neben Zwangsarbeitern aus Osteuropa aus dem Weltkrieg Nummer 2. Pro Person ein winziges Steinklötzchen, das nichts darüber verrät, aus welchem Land der Mensch darunter stammt und ob er Täter, Opfer oder beides war. Mal eine andere Art des Gedenkens.

Gibt es hier auch größere Orte? Naja. Es gibt Bohmte. Fahre auf der Straße mitten durch weiße Wände.  Sehe eine Tafel, auf der steht: Verkehrsraum ist auch Menschenraum. Ach? Für mich sieht diese Innenstadt eher aus wie der Warteraum einer Arztpraxis. Was vielleicht auch zum Altersdurchschnitt passt.
Entdecke das einzige historische Fachwerkhaus. Über der Tür prangt das Baujahr 1813, vermutlich die Zeit, als Bohmte boomte. Daneben ein rätselhaftes Schriftzeichen, das aussieht, als stamme es von Außerirdischen. Vermutlich ein galaktisches Pfändungssiegel der Cyanen. Irgendwer hat eine durchsichtige Tafel an das Wohn- und Wirtschaftsgebäude geschraubt, die ein bisschen aus dem architektonischen Nähkästchen plaudert. Es sind keine außerirdischen Schriftzeichen zu erkennen, also wird dieser Text wohl verständlicher sein. Gehe näher ran und lese folgenden Satz:
Linke Giebelseite abgewalmt über Schwerbalkenüberstand vorkragend.
Denke mir: Nee, komm. Die Wörter habt ihr euch doch jetzt ausgedacht.
Will die abgewalmte Bude trotzdem fotografieren. Hole das Handy heraus und drücke auf den Auslöser.
In genau dieser Millisekunde geht die Tür auf. Eine Frau starrt mich an.
Ihr Blick ist nicht freundlich. Nicht im engeren Sinne. Also genau genommen schaut sie so, als würde soeben ein cyanischer Außerirdischer vor ihr Haus pinkeln.
Drehe mich um, sehe jedoch keinerlei Anzeichen von extraterrestrischem Urin.

Fahre dann eine Weile am Mittellandkanal lang. Sehe zuerst einen Hafen mit Kränen und rostigen Metallwürsten. Dann wird der Kanal komplett grün. Dann kommt wieder ein Gewerbegebiet. Nicht nur die Wasserstraße, auch das Wetter zeigt sich komplett unentschlossen.

Hinter den Häusern ragt schon das Wiehengebirge in die Höhe, fahre hier nämlich ziemlich genau an der Mittelgebirgsschwelle.

Komme vorbei an Bad Essen. Natürlich nicht das Essen im Ruhrgebiet, obwohl auch dieses Essen hier Industrie und Kanäle hat. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen Bad Essen und Essen. Aber nicht, wie der Name vermuten lässt, dass man in Bad Essen besser baden kann. Wer im Mittellandkanal schwimmen will, sollte entweder sehr schnell schwimmen oder sehr lange und tief tauchen können: Alle paar Minuten tuckert ein Lastschiff über ihn drüber.

Rase durch Schlammpfützen, setze mich auf eine Parkbank und verspeise eine Dose Fisch. Jetzt wo ich darüber nachdenke: Ein Bad wäre schon nicht die schlechteste Idee.
Die Hunte fließt eine Weile neben dem Mittellandkanal her, merkt dann aber doch, dass sie so nicht weiterkommt und kriecht in zwei Röhren unten durch. Ein Teil der Hunte landet aber auch direkt im Kanal. Da hab ich noch nie so richtig drüber nachgedacht, aber: So ein künstlicher Fluss muss sein Wasser ja auch irgendwo hinbekommen.

Komme dann Burg Wittlage vorbei. Naja, wobei, Burg klingt jetzt vielleicht bisschen übertrieben. Das einzige, was halbwegs an eine Burg erinnert, sind das Tor und der graue Turm, der Rest sieht eher nach Landgasthof aus. Ein Osnabrücker hat die Burg bauen lassen, aber keiner hat sich in den nächsten Jahrhunderten die Mühe gemacht, die Mauern auf den aktuellen Stand zu bringen. Kein Wunder, dass die Dänen sie im Dreißigjährigen Krieg direkt erobert haben. Die haben sich aber auch nicht die Mühe gemacht, die Verteidigungsanlagen zu aktualisieren. Kein Wunder, dass sie sich bloß zwei Jahre auf der Burg halten konnten. Die Schweden dagegen bauten sie zur Festung aus und blieben ganze 27 Jahre bis zwei Jahre nach Kriegsende. Wie sagte schon Gorbatschow: Wer nicht rechtzeitig alle Updates installiert, den bestraft das Leben.
Fahre mittlerweile auf dem Diva-Radweg. Denke, huch, worauf muss ich mich hier gefasst machen? DiVa steht aber bloß für Dino-Varus-Tour. Heißt aber nicht, dass ich mich auf nichts gefasst machen muss: Eine Baustelle hat die Straße komplett aufgewühlt und zwingt mich zum nächsten Umweg. Wie kommen die Leute bloß durch diese wilde Wüste zu ihren Häusern?
Überall in Wittlage glotzen mich Holzmasken an. Die meisten in ödem Braun, eine mit bunten Streifen. Glotze zurück. Finde aber nicht heraus, was die hölzernen Diven wollen.

Fahre die Straße runter. Die Hunte ist jetzt doch ein ganzes Stück schmaler geworden, Pflanzen verdecken das moosgrüne Wasser. Eine einsame Kuh mampft das Gras. Das Wiehengebirge rückt immer näher. In Barkhausen entdeckt das Flüsschen eine Lücke in den Bergen und schlüpft sofort rein. Äh, ich meine natürlich raus. Ich bin es, der reinschlüpft. Und dabei kurz vergisst, dass ich ja immer noch gegen den Strom fahre.


Die Waldwände rücken immer näher und ragen steil hoch. Keine Felswände, sondern bloß steile Erde - die Klippen des kleinen Mannes. Die Porta Westfalica nebenan bei der Weser war schon irgendwie spannender. Ein hölzerner Dinosaurier starrt deprimiert die nasse Straße an.

Fahre über die Hunte und überlege, wo es jetzt weitergeht. Im nächsten Moment reißt der Himmel auf und es fällt Wasser runter. Jede Menge Wasser. Renne zur Schutzhütte, aber die ist schon proppenvoll mit Wanderern. Na prima. Fahren will ich in dem Wetter nicht, also wenn ich hier schon im Regen stehen muss, dann doch wenigstens irgendwo, wo's interessant ist. Als hätte der Wegweiser meine Gedanken gelesen, steht da plötzlich folgendes drauf: Saurierfährten. Perfekt! Also wenn mich Dinosaurier nicht davon ablenken können, wie patschnass ich bin, dann schafft es niemand.

Gehe den Pfad ein paar Meter hoch und finde mich in einer kleinen, ganz versteckten Kuhle in den Hügeln wieder. Bunte, lebensechte Dinosaurier aus Plastik starren mir entgegen. In dieses Loch in den Bergen hat irgendwer ein Glasdach eingebaut, das mich komischerweise an den Einstieg zum Big Loop im Heidepark erinnert. Entdecke aber keine alte Achterbahn, sondern eine schräge Felswand, in der komische schlammige... Abdrücke klaffen.
Die Dinger sind halb so lang wie ich und viel, viel auffälliger, als ich es bei Millionen Jahre alten Fußspuren erwartet hätte. Aber dass diese schlammigen Muster ausgerechnet Fußspuren von Dinos sind, darauf wäre ich jetzt nicht unbedingt von allein gekommen. Ist aber auch besser so, Paläontologen brauchen ja auch bezahlte Arbeitsplätze. Mache mir etwas Sorgen, dass der Regen irgendwie am Glasdach vorbeikommen und die Spuren wegspülen könnte. Ist das da wirklich eine feste Felswand? Es sieht einfach aus wie stinknormaler Matsch.

Wie sind die Dinos überhaupt so steil hochgewandert? Sind sie nicht. Vor 165 Millionen Jahren war hier alles flach. Und, auch wenn das im Moment schwer zu glauben ist, noch nasser. Und, was für mich gerade deutlich leichter zu glauben ist, es war wärmer. Damals trieb diese Erdplatte in der Nähe des Äquators rum. Die Texte beschreiben das ganz anschaulich: Sie stehen bis zum Bauchnabel im Wasser in einem tropischen Meer. Denke, hm, das wär mir im Moment tatsächlich lieber, glaub ich. Es ist drückend schwül und auch das Wasser ist warm. Trotzdem.
Dass hier ein Meer war, erkennt man am roten Tongestein - die Erde ist damals quasi verrostet. Das einzige, was damals wie heute gleich ist, sind die Nadelbäume im Wald. Auch wenn sie damals neben Palmen standen.
Eine Herde mit neun Pflanzenfressern stapft auf allen Vieren vorbei und hält auf die Insel zu. Sie wissen nicht, dass Menschen ihnen in Zukunft den befremdlichen Namen Elephantoides barkhausensis verpassen werden - weil ihre Spuren wie Elefanten aussehen und hier bei Barkhausen zum ersten Mal irgendwas von dieser Dino-Art gefunden wurde. Einen besseren Namen haben die Fleischfresser von Barkhausen abgekriegt: Megalosaurus teutonicus, Deutscher Megasaurier, das könnte man doch fast schon als Namen für einen Rapper nehmen. Dieser räuberische Einzelgänger läuft auf zwei Beinen. Und er hat scharfe Zähne, Vorsicht! Gut, dass sein Magen voll ist. Ach, konnten die Wissenschaftler das auch irgendwie aus den Fußabdrücken rauslesen? Oder haben sie das bloß auf die Tafel geschrieben, weil es sich besser macht als: Und er hat scharfe Zähne, die blitzschnell zupacken, dich zerfleischen und deine Überreste über die Saurierfährten verteilen.

Der Regen hat aufgehört. Radle nun weiter über kleine Straßen durch irgendwelche Dörfer. Also eigentlich wie vorher, aber eigentlich doch nicht, denn: Jetzt ist es hügelig. Und: Die Hunte ist kein Fluss mehr, sondern bloß ein Bächlein, das sich immer weiter aufspaltet, im Prinzip bloß eine Linie Bäume in der Ferne, ach nee, das ist der Wittelsbach, wo ist die Hunte denn? Ah, jetzt sieht man sie wieder ganz hinten. Biege ständig falsch ab und komme irgendwann verschwitzt am Waldrand an. Hier taucht die Hunte endgültig ins Gehölz ein. Die Frage ist: Mache ich das auch? Entweder folge ich dem Waldweg, der definitiv nicht als fahrradtauglich eingezeichnet ist. Oder ich mache einen Riesenumweg und versuche irgendwie, von der anderen Seite zur Quelle vorzustoßen. Nee, wenn ich es so formuliere, klingt die zweite Variante auch nicht so berauschend.

Nehme also den Waldweg, fahre entschlossen drauflos... und bleibe stehen.
Was ist denn jetzt los?
Der Matsch ist los. Und zwar überall. Manövriere das Rad durch tiefe Pfützen. Anfangs versuche ich noch, Stellen zu finden, wo ich durchfahren kann statt zu schieben. Doch der Schlamm schraubt meine Ansprüche drastisch herunter: Bald suche ich bloß noch Stellen, wo das Wasser nicht über den Rand meiner Schuhe läuft. Mit Erfolg. Also meistens.

Immerhin: Nach einer Weile kann ich die Hunte richtig sehen. Der Bach zieht sich zielstrebig durch sein Tälchen im Mischwald. Hier gibt es keine Nebenbäche mehr, keine Verzweigungen und auch keine Diskussion, welcher Bach die richtige Quelle ist - nur noch die eine Hunte, die schnurstracks ihren Anfang ansteuert. Wenn ich den doch auch nur so schnurstracks ansteuern könnte!

Aber ich schaffe es. 170 Meter über dem Meeresspiegel weist ein Schild auf die Huntequelle hin. Das ist gut, denn sonst hätte ich sie komplett übersehen. Garantiert. Also genau genommen übersehe ich sie sogar mit dem Schild. Erkenne nämlich absolut nichts Quellenartiges, schon gar kein Loch, aus dem Wasser kommt. Nennt mich einen Nörgler, aber irgendwie so was in der Art erwarte ich schon von einer Quelle. Da ist einfach ein Bachbett voller Blätter, inzwischen so gut wie trocken. Sickert das Wasser unter den Blättern raus? In so kleinen Mengen, dass man nichts sieht?

Oder kommt die echte Quelle doch noch? Folge dem Bachbett über die letzten Meter, bis es in einer Sackgasse aufhört. Fühle mich etwas überrumpelt von diesem Ende. Aber gut, genau deswegen endet der Hunteradweg ja auch schon am Dümmer.

Noch ein paar hundert Matschmeter, dann entkomme ich endlich auf eine richtige Straße. Fahre das Wiehengebirge runter und genieße dabei immerhin noch die beste Aussicht des Tages.


Biege dann unten ab zum Bahnhof Melle-Westerhausen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals entspringt schon die Hase. Meine schlammige Hose flattert im Fahrtwind.
Hoffentlich lassen die mich so in die Bahn.

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